Mörder im Hansaviertel. Frank Goyke

Mörder im Hansaviertel - Frank Goyke


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Die Besucherin hielt ihn wie eine Trophäe in die Höhe. »Ich soll die Blumen gießen.«

      »Warten Sie!« Frau Hagemeister wurde ganz aufgeregt. »Wer weiß, was Sie im Haus erwartet. Ich begleite Sie!« Äußerst flink, wenn man ihre schweren und schwachen Beine berücksichtigte, war sie in Straßenschuhe geschlüpft und hatte das Haus verlassen; sie bewohnte kein Einfamilienhaus wie Klaas’sens, sondern eine Reihenhaushälfte. Wenig später hatte sie die Frau erreicht.

      »Das ist doch sehr seltsam«, sagte diese. »Aber ich habe mich schon gewundert, weil Doro … also Frau Klaas ruft mich immer an, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Bisher kam nichts.« Sie schaute auf den Schlüssel, dann zu Frau Hagemeister. »Wollen wir wirklich? Ich habe so ein ungutes Gefühl.«

      »Ich auch. Übrigens, mein Name ist Hagemeister. Liselotte Hagemeister.«

      »Ja, natürlich … Annalena Meissner.« Sie atmete tief durch.

      »Sollte etwas Schlimmes geschehen sein, müssen wir doch helfen«, meinte Liselotte, die ihre Neugierde kaum zähmen konnte, sie aber nicht zu deutlich zeigen wollte. Sollte jemals wieder ein Mittwochskränzchen stattfinden, würde sie eine Menge zu erzählen haben.

      »Sie haben recht.« Kurzentschlossen trat Meissner an die Tür des Hauses. Sie war mit zwei Schlössern gesichert, und anscheinend musste sie jedes Mal erst den richtigen Schlüssel finden. Es dauerte eine Weile, dann konnte sie die Tür aufsperren. Sie trat mit einem Schritt über die Schwelle, tastete nach dem Schalter und machte Licht.

      Der recht kurze Flur war mit rötlichen Terrakottafliesen ausgelegt und sparsam möbliert. Drei Türen gingen von ihm ab, eine Treppe aus hellem Holz führte ins Obergeschoss, wobei sie eine halbe Drehung vollführte. Es gab eine Garderobe, an der ein paar Damenjacken und eine wattierte grünliche Joppe hingen, wie sie Jäger trugen. Frau Hagemeister hatte schon mehrmals beobachtet, wie Herr Klaas ein paar Jagdgewehre in seinem Wagen verstaut hatte und dann für mehrere Tage weggefahren war. Außer der Garderobe befanden sich im Flur ein Schirmständer, ein Schuhregal sowie ein antikes Tischchen. Die Schublade war herausgerissen, der Inhalt lag auf den Fliesen verstreut, und auch die Lade hatte man auf den Boden geworfen. Durch die erste Tür links drang ein eigenartiger, etwas muffiger und gleichzeitig süßlicher, aber irgendwie auch strenger Geruch.

      »Mein Gott!«, flüsterte Annalena Meissner. Sie machte ein paar Schritte und öffnete die Tür, die sich dem Eingang gegenüber befand. Sofort prallte sie zurück.

      Liselotte Hagemeister schaute an ihr vorbei in ein außerordentlich großes Wohnzimmer. Die Möbel nahm sie nur aus den Augenwinkeln wahr, denn ihre Aufmerksamkeit wurde von den auf den Dielen und den Teppichen liegenden Gegenständen gefesselt. Wie Kraut und Rüben lagen sie, darunter etliche Ordner, Mappen und lose Papiere. Wie sie vermutet hatte: ein Einbruch! Aber wo waren die Bewohner? Hatte man sie vielleicht entführt?

      »Was … was …?« Mehr brachte Meissner nicht heraus.

      Frau Hagemeister zückte ihr Smartphone, das sie vorsorglich eingesteckt hatte und mit dem sie gern vor ihren alten Kolleginnen angab, die sich beide vor der modernen Technik fürchteten. Sie aber liebte dieses Spielzeug und war sogar bei WhatsApp, obwohl sie nur einen Menschen hatte, mit dem sie Botschaften – Messages! – tauschte: ihren Fensterputzer. Ihre Freundinnen hatte sie noch nicht überzeugen können, und mit ihren Nachbarn wollte sie keinen solchen Kontakt.

      Liselotte Hagemeister rief keinesfalls beim Revier an, dessen Nummer auf der Karte stand. Nein, sie wählte die 110.

      Und es geschah ein Wunder. Die beiden Frauen hatten auf Anweisung des Mannes, mit dem sie telefoniert hatte, das Haus verlassen. Meissner ging es so schlecht, Liselotte Hagemeister hatte sie zu sich in die Wohnung gebracht, ihr einen Platz in einem der bequemen Sessel angeboten und eine Karaffe mit Wasser vor ihr auf den Tisch gestellt. Dann war sie wieder hinausgegangen.

      Sechs Minuten waren seit ihrem Anruf vergangen, als ein ziviles Fahrzeug mit Blaulicht vorfuhr, das erlosch, nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war. Zwei Kriminalbeamte stiegen aus. Sie waren keineswegs hübsch, aber die 87-Jährige spürte sofort, dass diese Männer wussten, was sie zu tun hatten.

      »Frau Hagemeister?«, fragte der eine.

      Sie nickte.

      »Mein Name ist Krüger. Wir sind vom Kriminaldauerdienst. Bitte zeigen Sie uns, was Sie entdeckt haben!«

      Barbara Riedbiesters neueste Errungenschaft war ein karmesinroter Seidenkimono. Früher wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen, sich so etwas zu kaufen, und sie hatte zunächst gezögert; ihr alter DDR-Frotteebademantel war zwar schon fadenscheinig und inzwischen auch um einiges zu weit, aber ihr hatte er gereicht, schon weil niemand sah, wie sie zu Hause herumlief. Claudia hatte sie überzeugt. Sie selbst würde sich doch sehen, hatte sie gesagt. Die Anschaffung lag nun schon fast ein halbes Jahr zurück, aber erst, als es in der vergangenen Woche ein paar heiße Tage gegeben hatte, da hatte Barbara ihn zum ersten Mal angezogen. Mittlerweile begeisterte sie sich für das Stück, das so unendlich leicht zu tragen war und bei furchtbar hohen Temperaturen eine Verbesserung der Lebensqualität bedeutete. Auf der Lebensqualität und ihrer Verbesserung war die Psychologin Grünberg ständig herumgeritten. Dauerbrenner waren zwei Fragen gewesen: »Frau Riedbiester, warum tun Sie sich nicht einfach mal was Gutes?« und »Warum machen Sie am nächsten Wochenende nicht etwas Schönes?« Barbara hatte gar nicht gewusst, was ihr guttat oder was sie schön fand. Nun ja, schon als Schülerin hatte sie sich für Literatur und Geschichte, für das Theater und auch etwas für Kunst interessiert, und sie las ja auch viel, aber eine Ausstellung hatte sie aus freien Stücken lange nicht besucht, nicht mehr seit dem Abitur. War das vielleicht etwas Gutes? Sie hatte es mit dem Museum der Künstlerkolonie Schwaan versucht und war nach der Rückkehr in ein Restaurant gegangen, hatte, denn es war in der Adventszeit gewesen, Entenkeule mit Klößen und Grünkohl bestellt, hatte danach, vollkommen verbrecherisch, ein Tiramisu gegessen, einen Espresso getrunken und war vollkommen glücklich gewesen – weniger wegen der Kunstwerke als wegen des guten Essens. So hatte ihr Ausflug in die Welt des Genusses begonnen: mit Landschaftsmalerei, Entenkeule und Grünkohl. Wenn sie daran dachte, musste sie lachen. Inzwischen gehörte mehr zum Wohlgefühl dazu, etwa die Blechkiste, mit der sie sich durch den Stau gequält hatte: der 3er BMW der 7. Generation in der unübertrefflichen Metallicfarbe Sunset Orange. Auch zu diesem Gefährt hatte sie die beste Freundin überredet. Barbara fuhr im Dienst mitunter BMW, aber sie hätte es nie für notwendig befunden, privat mit so einem Wagen herumzukutschieren. Claudia, die ihren Führerschein versoffen hatte, hatte natürlich auch an sich selbst gedacht, und seit dem Kauf des Wagens machten sie immer einmal eine Spritztour im Sunset Orange.

      Barbara nahm die Teekanne – Tee! Auch vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen! – und ging von der Küche durch den langen Flur ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen die Ordner, die sie mitgenommen hatte, und daneben das Schulterhalfter mit der SFP9. Bis vor einem Jahr hatte Barbara noch eine P6 von SIG Sauer gehabt, eine Modellvariante aus der SIG-Serie P220, die bei der Polizei Mecklenburg-Vorpommerns auch noch im Einsatz war, aber nicht mehr neu vergeben und nach und nach durch die Selbstladepistole von Heckler & Koch ersetzt wurde. Sie lag dort, wo sie eigentlich nicht liegen durfte. Es war Vorschrift, dass Polizeibeamte im Dienst eine Waffe trugen, und die morgige Fahrt nach Biendorf war ein dienstlicher Einsatz. Die Pistole mit nach Hause zu nehmen, war nur in Ausnahmefällen und auf Weisung des Dienststellenleiters gestattet, die Hauptkommissarin hätte sie also in ihr Waffenfach einschließen und am kommenden Morgen in der Ulmenstraße abholen müssen. Dazu hatte sie nicht die geringste Lust, also verstieß sie einmal mehr gegen die Dienstvorschrift. Bisher war es eigenartiger Weise noch niemandem aufgefallen, obwohl sich doch jeder Kollege fragen musste, wie es möglich war, dass sie mit einer Waffe unterwegs sein konnte, die sie gar nicht abgeholt hatte.

      Schmunzelnd schlug Barbara Riedbiester den ersten Ordner der Hauptakte auf. So richtig motiviert war sie nicht und hätte viel lieber in dem Buch geschmökert, dass ihr Uplegger empfohlen hatte. Genauer gesagt, hatte er eine Empfehlung seiner Kerstin weitergeleitet. Auch die Ostsee-Zeitung hatte es gelobt. »Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft«, so lautete der Titel, und ein aus Rostock stammender Soziologe hatte es verfasst.

      Barbara


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