Nana. Emile Zola
des Fürsorgeamtes des Arrondissements.“
Der Marquis de Chouard beeilte sich, mit galanter Miene hinzuzufügen:
„Als wir erfahren haben, daß eine große Künstlerin in diesem Hause wohnt, haben wir uns vorgenommen, ihr unsere Armen ganz besonders anzuempfehlen . . . Talent geht doch Hand in Hand mit Herz.“
Nana spielte die Bescheidene. Sie antwortete mit kleinen Bewegungen des Kopfes, wobei sie gleichzeitig rasche Überlegungen anstellte. Der Alte mußte den anderen mitgebracht haben, seine Augen waren allzu lüstern. Dennoch mußte man auch dem anderen mißtrauen, dessen Schläfen drollig anschwollen; er hätte auch ganz gut allein kommen können. So war es also, der Concierge hatte ihren Namen angegeben, und sie drängten sich, jeder auf eigene Rechnung, herbei.
„Zweifellos taten Sie recht daran, heraufzukommen, meine Herren“, sagte sie huldvoll. Doch die elektrische Klingel ließ sie zusammenfahren. Schon wieder ein Besuch und diese Zoé, die immerzu öffnete! Sie fuhr fort: „Man ist doch zu glücklich, geben zu können.“ Im Grunde fühlte sie sich geschmeichelt.
„Ach, Madame“, entgegnete der Marquis, „wenn Sie wüßten, was für Elend es gibt! Unser Arrondissement zählt mehr als dreitausend Arme, und dabei ist es noch eins der reichsten. Eine solche Not können Sie sich nicht vorstellen: Kinder ohne Brot, kranke Frauen, die, jeder Hilfe beraubt, vor Kälte umkommen . . .“
„Die armen Leute!“ rief Nana sehr gerührt. Ihr Mitleid war so groß, daß Tränen ihre schönen Augen überschwemmten. Mit einer Bewegung hatte sie sich vorgebeugt, wobei sie nicht mehr auf sich achtgab, und ihr geöffneter Morgenrock ließ ihren Hals sehen, während sich durch ihre vorgestreckten Knie die Rundung des Schenkels unter dem dünnen Stoff abzeichnete.
Ein wenig Blut erschien in den erdfarbenen Wangen des Marquis. Graf Muffat, der sprechen wollte, senkte die Augen. Es war zu heiß in diesem Zimmer, eine drückende und stickige Treibhaushitze. Die Rosen welkten, ein leichter Rausch stieg von dem Patschuli in der Schale auf.
,,Bei diesen Gelegenheitenmöchte man sehr reich sein“,fügte Nana hinzu. „Schließlich tut jeder, was er kann . . . Glauben Sie mir, meine Herren, wenn ich gewußt hätte, daß . . .“ Sie war im Begriff, in ihrer Rührung eine Dummheit fallen zu lassen. Daher beendete sie den Satz nicht. Einen Augenblick lang blieb sie verlegen, da sie sich nicht mehr erinnerte, wo sie soeben, als sie ihr Kleid auszog, ihre fünfzig Francs hingelegt hatte. Doch sie entsann sich, sie mußten auf der Ecke des Toilettentisches unter einem umgestülpten Topf Pomade liegen. Als sie aufstand, schlug die Klingel lange an. So was! Schon wieder einer! Das würde nicht auf hören.
Der Graf und der Marquis hatten sich ebenfalls erhoben, und der letztere spitzte seine Ohren, die sich geregt hatten, in Richtung der Tür; zweifellos kannte er diese Art zu klingeln. Muffat sah ihn an, dann wandten sie die Augen ab. Sie genierten sich, sie wurden wieder kühl, der eine vierschrötig und handfest mit seinem streng gescheitelten Haar, der andere seine hageren Schultern hochreckend, auf die sein Kranz spärlicher weißer Haare herabfiel.
„Meine Güte!“ sagte Nana, die die zehn großen Geldstücke herbeibrachte, wobei sie sich zu lachen entschloß. „Ich werde Sie beladen, meine Herren . . . Das ist für die Armen . . .“ Und das kleine liebenswürdige Grübchen an ihrem Kinn zeigte sich. Sie hatte ihre gutmütige Kindermiene ohne Ziererei aufgesetzt, hielt den Stapel Taler auf ihrer geöffneten Hand und bot ihn den beiden Männern an, wie um ihnen zu sagen: Nun, wer will etwas?
Der Graf war der flinkere, und er nahm die fünfzig Francs; doch ein Geldstück blieb zurück, und um seiner habhaft zu werden, mußte er es unmittelbar von der Haut der jungen Frau aufnehmen, einer lauen und geschmeidigen Haut, die ihm einen Schauer verursachte.
Sie lachte immer noch erheitert.
„So, meine Herren“, versetzte sie. „Ein anderes Mal hoffe ich mehr geben zu können.“
Sie hatten keinen Vorwand mehr; sie grüßten und wandten sich zur Tür. Aber als sie gerade hinausgehen wollten, ertönte die Klingel von neuem. Der Marquis konnte ein mattes Lächeln nicht verbergen, während der Graf noch einen Schatten ernster wurde. Nana hielt sie einige Sekunden zurück, um es Zoé zu ermöglichen, noch einen Winkel ausfindig zu machen. Sie hatte es nicht gern, wenn man sich bei ihr begegnete. Diesmal allerdings mußte es gerammelt voll sein. Daher war sie erleichtert, als sie den Salon leer sah. Zoé hatte sie wohl in die Schränke gestopft?
„Auf Wiedersehen, meine Herren“, sagte sie und blieb auf der Schwelle des Salons stehen. Sie umhüllte sie mit ihrem Lachen und ihrem klaren Blick.
Graf Muffat verneigte sich, trotz seiner großen Weltkenntnis verwirrt, er brauchte Luft, da er ein Schwindelgefühl aus diesem Ankleidezimmer mitnahm, einen Duft nach Blumen und Frau, der ihn erstickte. Und hinter ihm wagte es der Marquis de Chouard, der sicher war, nicht gesehen zu werden,mit urplötzlich entstelltem Gesicht, die Zunge am Rand der Lippen, Nana zuzuzwinkern.
Als die junge Frau in das Zimmer zurückkehrte, wo Zoé sie mit Briefen und Visitenkarten erwartete, rief sie, noch lauter lachend, aus: „Das sind vielleicht Gauner, die mir meine fünfzig Francs geklaut haben!“
Sie ärgerte sich überhaupt nicht; es kam ihr drollig vor, daß ihr Männer Geld weggenommen hatten. Trotzdem waren es Schweine, sie hatte keinen Sou mehr. Doch der Anblick der Karten und Briefe brachte ihr ihre schlechte Laune zurück. Die Briefe — das mochte noch hingehen; sie stammten von Herren, die ihr Liebeserklärungen machten,nachdem sie ihr am Vorabend Beifall geklatscht hatten. Was die Besucher anbetraf, so konnten sie sich zum Teufel scheren.
Zoé hatte überall welche verstaut, und sie machte darauf aufmerksam, daß die Wohnung sehr bequem sei, weil jedes Zimmer die Tür zum Korridor habe. Es sei nicht wie bei Madame Blanche, wo man durch den Salon gehen mußte. Daher habe Madame Blanche auch allerhand Ärger gehabt.
„Sie werden sie alle wegschicken“, versetzte Nana, die ihrem Einfall nachkommen wollte. „Fangen Sie mit dem Mulatten an.“
„Der,Madame! Den habe ich schon lange abgewiesen“, sagte Zoé mit einem Lächeln. „Er wollte Madame bloß sagen,daß er heute abend nicht kommen kann.“
Das gab eine große Freude. Nana klatschte in die Hände. Er kam nicht, welch ein Glück! Sie würde also frei sein! Und sie stieß Seufzer der Erleichterung aus, als habe man sie von der gräßlichsten aller Strafen begnadigt. Ihr erster Gedanke galt Daguenet. Der arme Junge, dem sie gerade geschrieben hatte, bis Donnerstag zu warten! Schnell, Madame Maloir solle einen zweiten Brief schreiben! Doch Zoé sagte, Madame Maloir sei verschwunden, ohne daß man es, wie üblich bei ihr, gemerkt habe. Nachdem Nana dann davon gesprochen hatte, jemand hinzuschicken, hielt sie zögernd inne. Sie war sehr müde. Eine ganze Nacht zum Schlafen, das würde so guttun! Der Gedanke an dieses Vergnügen behielt schließlich die Oberhand. Einmal konnte sie sich das leisten.
„Ich werde mich hinlegen, wenn ich aus dem Theater komme“, murmelte sie mit genießerischer Miene, „und Sie werden mich nicht vor zwölf Uhr mittags wecken.“ Dann sagte sie, die Stimme hebend: „Los! Und jetzt schmeißen Sie mir die anderen die Treppe runter!“
Zoé rührte sich nicht. Sie hätte sich nicht erlaubt, Madame offen Ratschläge zu erteilen; nur tat sie ihr Bestes, um Madame aus ihrer Erfahrung Nutzen ziehen zu lassen, wenn Madames Eigensinn mit ihr durchzugehen schien.
„Herrn Steiner auch?“ fragte sie kurz.
„Freilich“, antwortete Nana, „den vor allen anderen.“
Das Mädchen wartete noch, um Madame Zeit zum Überlegen zu lassen. Madame sei also nicht stolz darauf, ihrer Rivalin Rose Mignon einen so reichen, in allen Theatern bekannten Herrn wegzuschnappen?
„Beeilen Sie sich doch, meine Liebe“, entgegnete Nana, die vollkommen verstand, „und sagen Sie ihm, daß er mir auf die Nerven fällt.“ Doch jäh besann sie sich anders. Morgen konnte sie Verlangen nach ihm verspüren, und mit der Gebärde eines Gassenjungen rief sie lachend und mit den Augen blinzelnd: „Wenn ich ihn haben will, geht es schließlich immer noch am schnellsten, wenn ich ihn vor die Tür setze.“
Zoé