Kittys Salon: Legenden, Fakten, Fiktion. Urs Brunner
Zuge unserer Recherchen und beim Schreiben des Buches wurde uns wiederholt eines sehr bewusst und quält uns bis heute: Dieses Buch hätte schon vor zwanzig, idealerweise sogar vor dreißig Jahren geschrieben werden sollen, nicht erst jetzt. Damals hätten wir noch aus einem reichen Reservoir an Erinnerungen aus erster Hand schöpfen können. Mittlerweile sind sämtliche direkten Angehörigen von Kätchen „Kitty“ Zammit-Schmidt verstorben; dasselbe gilt für fast alle Zeitzeuginnen und -zeugen, seien dies Freunde, Bekannte, ehemalige Kunden oder Kurtisanen. Einer der letzten lebenden Weggefährten von Kitty Schmidt und ihrem Salon, der französische Filmemacher Claude Lanzmann, starb am 5. Juli 2018 im Alter von 92 Jahren, während wir bereits mit ihm im Kontakt für ein Interview standen.14 Einige wenige, nicht minder bedeutende andere Zeitzeuginnen und -zeugen konnten zwar nicht von uns selbst, aber glücklicherweise noch von den Dokumentarfilmern Rosa von Praunheim15 (zu Beginn der 1990er-Jahre) und Claus Räfle16 (Anfang der 2000er-Jahre) interviewt und gefilmt werden, sodass wir aus diesen Quellen schöpfen konnten. Als einzige zusätzliche, heute noch immer in Berlin wohnhafte Person, die Kitty Schmidt als „Tante Käthe“ während und nach dem Krieg noch persönlich gekannt hatte, konnten wir Karin Zickerick ausfindig machen. Sie verbrachte als Kind viel Zeit in der Giesebrechtstraße 11, wo ihre Großeltern bis 1958 wohnten. Karin Zickerick hat uns dankenswerterweise im September 2017 in einem ausführlichen Gespräch in ihrer Wohnung an ihren Erinnerungen teilhaben lassen und uns auch ein paar wenige Fotos, die in ihrem Besitz waren, geschenkt. Weitere noch lebende Weggefährtinnen oder -gefährten von Kitty Schmidt sind uns nicht bekannt.
Ein späterer Freund der Familie, Berno von Cramm17, konnte uns viel Interessantes über Kathleen und Jochem Matei und die Weiterführung des ehemaligen „Salon Kitty“ als Künstlerpension18 erzählen; er selbst hatte sich dort häufig eingemietet, als er zwischen 1965 und 1984 beruflich in Berlin zu tun hatte. Weiter konnten wir die ehemalige prominente Berliner Prostituierte Felicitas Schirow19 ausfindig machen, die in den 1970er-Jahren manchmal als Callgirl für „besondere Kunden“ ins sogenannte „Pärchenzimmer“ der Künstlerpension gerufen wurde; somit kommt auch eine Dame des Gewerbes zu Wort. Und auch das Ehepaar Christian, das heute in der Wohnung im dritten Stock der Giesebrechtstraße 11 wohnt, also in den Gemächern des ursprünglichen „Salon Kitty“, hat uns freundlich empfangen und wir konnten das Gespräch auf Video aufzeichnen.
Das Fehlen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Kitty Schmidt noch persönlich kannten und eventuell auch etwas zum Betrieb des „Salon Kitty“ hätten sagen können, hatte aber für uns auch eine unvermutet positive Konsequenz: Es zwang uns, tiefer und tiefer zu graben, jeder auch noch so kleinen, zunächst vagen Spur nachzugehen, und dabei kam viel an Material zutage, das noch nie zuvor herangezogen worden war. So fanden wir in Slowenien bei der Schwester von Kittys Schwiegerenkelin eine Schachtel mit mehr als 500 Fotos, inklusive einem Bild von Kitty Schmidt als Baby und weitere Aufnahmen aus ihrer Kindheit. Die Existenz dieser Bilder war bislang nicht bekannt und einige dieser für uns so kostbaren Fotos werden hier das erste Mal publiziert. Dieser Fundus beinhaltet auch eine Postkarte von Kitty Schmidt und damit das einzige handschriftliche Dokument von ihr, das uns je zu Gesicht gekommen ist. Mithilfe dieser wenigen handgeschriebenen Zeilen konnten wir ein grafologisches Gutachten erstellen lassen, das wir in voller Länge in diesem Buch veröffentlichen. Glücklicherweise war es uns möglich, diese Postkarte sowie die ganze Fülle an vorgefundenen Fotos zu erwerben, sodass wir diese archivieren und ihren Fortbestand sichern konnten. Eine weitere überraschende und sehr interessante Entdeckung glückte uns im Umfeld eines Freundes von Kitty Schmidts Enkel: Es handelt sich um ein noch nie ausgestrahltes Videointerview, worin Jochem Matei seinen Freunden aus dem Manuskript zu einem von ihm geplanten Buchprojekt zum „Salon Kitty“ vorliest und außerdem Interessantes und auch Abenteuerliches zu seiner Großmutter erzählt.20 In akribischer Kleinarbeit ist es uns auch noch gelungen, in diversen Archiven praktisch sämtliche relevanten Geburts- und Sterbeurkunden zu Kitty Schmidt und ihrer Familie aufzustöbern.
Es gibt eine ganze Menge Sekundärquellen zum „Salon Kitty“, die wir gesichtet und im Literaturverzeichnis angeführt haben. Auf eine davon möchten wir jedoch hier besonders hinweisen: Es handelt sich um einen Spiegel-Artikel vom 15. Dezember 194921, auf den sich – soweit uns bekannt ist − bisher niemand bezogen hat. Dieser Artikel informiert – wenn auch in verdeckter Weise − erstmals eine breite Öffentlichkeit über die Existenz und Funktion des „Salon Kitty“, und das schon zehn Jahre vor der Enthüllung des NS-Bordells durch Ex-Spionagechef Walter Schellenberg in seinen 1959 in deutscher Sprache erschienenen Memoiren.22 Darum ist dieser frühe Bericht des Spiegel als Quelle für uns so bemerkenswert. Andere Sekundärquellen, die ab den 1970er-Jahren publiziert wurden, sind wenig ergiebig, da ihre An- und Zusätze zum Thema leider überwiegend auf Peter Nordens Version der Geschichte beruhen und vermutlich nicht faktenorientiert nachrecherchiert wurden. Denn viele Autoren und Drehbuchschreiber übersahen − und übersehen immer noch −, was Norden im Bucheinband seines Werkes eigentlich recht ehrlich preisgab: Fiktion und Historie werden bei ihm frisch-fröhlich vermischt. Auch aus den Memoiren von so manchen Prominenten, denen nachgesagt wird, dass sie sich während des Krieges im „Salon Kitty“ sprichwörtlich die Türklinke in die Hand gaben, ist nichts zu erfahren. Freilich sind Freudenhausbesuche auch nicht unbedingt der Stoff, mit dem „Mann“ sich im Nachhinein noch gerne brüstet. Beispielsweise legte Graf Ciano, Benito Mussolinis Schwiegersohn und von 1936 bis 1943 Außenminister Italiens, Memoiren von mehreren hundert Seiten vor, doch er schrieb darin nicht ein einziges Wort über seine Besuche in der Giesebrechtstraße 11, wo er etlichen Quellen nach ein oft und gern gesehener Gast war.23
Dieses Buch ist aus der Intention heraus entstanden, Fakten von Legenden und Fiktion rund um den „Salon Kitty“ zu unterscheiden. Aber trotz jahrelanger intensiver Recherchen war und bleibt dies kein einfaches Unterfangen. An vielen Stellen scheiterten wir und waren daher oft gezwungen, Zeitsprünge, Widersprüche und Lücken mit spekulativen Gedankengängen einigermaßen zu füllen; diese werden jeweils auch als solche im Text kenntlich gemacht. Doch trotz aller Hürden und Hemmnisse, die der zeitlichen Distanz und der oft spärlichen Faktenlage geschuldet sind, ist am Ende, so glauben wir, ein faszinierendes Porträt von Kitty Schmidt und ihrem berüchtigten Nazi-Spionagebordell entstanden − eine durchaus erzählenswerte, ja geradezu spannende Geschichte.
1Bleuel 1981: 290
2Rumler, Fritz: Die Herren waren sehr solide – Spiegel-Reporter Fritz Rumler über das „Salon Kitty“-Callgirl Liesel. In: Der Spiegel vom 29. März 1976, S. 200
3Praunheim 1994
4Peter Norden (Pseudonym für Joseph Gustav Walter Fritz) war deutscher Schriftsteller und Public-Relations-Unternehmer. Er wurde am 2. Juli 1922 in Hannover geboren und ist am 19. April 1995 in München verstorben. (vgl. E-Mail der VG Wort München vom 27. November 2013)
5Auch wenn Peter Norden seine Publikation „Salon Kitty“ als „Report“ betitelt, so handle es sich laut Bucheinband der Ausgabe von 1986 (Engel Verlag, München) um „(…)