Spitzenreiterinnen. Jovana Reisinger

Spitzenreiterinnen - Jovana Reisinger


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romantischsten Ecken für ihre Rendezvous. Schließlich ist heute Valentinstag. Dieses Restaurant schreit nach Romantik, die Gewölbe, die Polster mit ihrem schönen Muster, die Auswahl! Die Tische füllen sich, und bald gibt es kaum noch freie Plätze.

      Lisa kann ihr Glück kaum fassen und ruft nach einer neuen Flasche Schampus. Seit Stunden sitzt sie hier und endlich kommt Leben in die Stube. Der Kellner rennt hin und her. Freudig und gierig werden die Etageren der Tischnachbarn begutachtet, und es wird stets eine noch größere bestellt.

      »Mehr Hummer!«

      »Mehr Austern!«

      »Mehr Garnelen!«

      »Mehr Schnecken!«

      »Mehr Saucen!«

      »Mehr Eis!«

      Da kommt endlich die Schneckenplatte zur niederbayerischen Familie, für die seit ihrer Reise in die Provence solch eine Schnecke eine unvergleichliche Delikatesse ist. Ein Staunen schreibt sich in ihre Gesichter, und Lisa wünscht einen guten Appetit, malt sich aus, sie könnte noch einmal mit dem Essen von vorn anfangen. Das traurigste am guten Essen ist ja der Moment, wenn es vorbei ist und der Bauch zu voll. Es erfüllt sie der Neid. Sie blickt auf ihren Tisch, reißt die Hand in die Luft: »Champagner!«

      »Jawoll!«, rufen die Theaterbesucher zurück.

      Der Kellner bringt ihr eine neue Flasche. So wie Lisa ausschaut, mit Öl-, Fett- und Saucenflecken auf ihrem weißen Hemd, mit ihren müde herunterhängenden Gesichtszügen, in der Art, wie sie konzentriert einatmen muss, bevor sie ernsthaft sprechen kann, mit der Schlaffheit in den Händen, die das Besteck halten, bräuchte sie vielmehr ein Gespräch, frische Luft oder ein Bett. Stattdessen bekommt sie, wonach sie verlangte. Sie findet das lustig. Hier bekommt sie alles, was sie will.

      Lisa schenkt sich nach, verschüttet, fängt an zu lachen. Es ist kein freundliches, peinlich-berührtes Damenlachen, es ist ein lautes, tief aus dem Inneren kommendes, ein dreckiges Lachen. Die Theaterbesucher erschrecken sich förmlich, dass so etwas aus einer so zierlichen Frau herauskommen kann und stimmen sich dann selbst in ein Gelächter ein – allerdings in ein feindliches. Die haben sich auf das Betrachten anderer eingestellt, das Aburteilen. Warum nicht auch hier damit beginnen? Der Familienvater schaut entsetzt, und die Blicke, die Lisa gerade auf sich zieht, sind entwaffnend boshaft. Doch Lisa sieht diese Blicke nicht. Sie sieht die beinah verputzte Edelplatte Meeresfrüchte, die sie sich an diesem scheußlichen Tag bestellte, um sich besser zu fühlen, sieht die Champagner-Flasche, in der es schön aufregend prickelt und die sie kichern lässt. Sie sieht ihr Telefon, das ständig aufleuchtet, und sie sieht an ihrem Körper herunter. Mit großer Geste greift sie sich die nächste Auster, bemüht sich erst gar nicht um ein Besteck, sondern saugt und schlürft und schlabbert, holt sich die nächste, jetzt werden noch die letzten Reste gegessen, hergeschenkt wird nichts. Und warum Zeit mit Formalitäten verschwenden, wie Besteck und Etikette? Wen interessiert das schon? Wen interessiere ich schon? Ich bin nichts. Nichts wert, nicht vorhanden. Schaut mich an, ich bin eine Versagerin, alles an mir ist falsch.

      Das Paar links von ihr betrachtet sie, und die Frau lästert ungeniert in einer hörbaren Lautstärke. Lisa schaut zu ihnen rüber, plötzlich eine enorme Klarheit in ihrem Blick, fährt mit der Zunge über die Auster und wirft im nächsten Moment die Schale einfach rechts neben sich, direkt auf den Tisch der nichts ahnenden Familie.

      Der Vater bekommt einen Spritzer ins Gesicht, blinzelt, greift erhaben nach der Serviette, reinigt sich und sagt anschließend laut genug, um durch die Spannung des Restaurants zu peitschen: »Kinder, schaut sie euch an, diese Frau ist verrückt.«

      Verrückt. Ich bin verrückt. Stille.

      Was er demonstrieren möchte: Schaut, der Mann weiß sich zu beherrschen, die Frau nicht. Schaut, ich stehe drüber. Ich lass mich nicht so einfach provozieren. Seine Frau betrachtet ihn, als wäre er ein Gespenst. Sie ist in Alarmbereitschaft.

      Lisa steht auf und geht unter strenger Beobachtung zur Toilette. Verrückt, krankhaft, deppert, dumm, pervers, schwachsinnig, anormal, lächerlich, geistesgestört, meschugge, damisch, idiotisch, wahnsinnig, irre, unzurechnungsfähig, unfähig, dumm, hässlich, unbrauchbar, unzulänglich. Wann ist sie all das geworden? Wer hat sie zu all dem gemacht? Sie fühlt sich schuldig. Immerzu möchte sie sich entschuldigen. Der Klügere gibt nach. Pardon, die Klügere gibt nach. Dabei trägt sie keine Schuld.

      Sie betrachtet sich im Spiegel. Hält ihre Handgelenke unter das kalte Wasser, Kreislauf stabilisieren. Ich bin schuld. Ich bin nicht schuld. Nein, ich bin nicht schuld daran. Dass mir das passiert ist, ist nicht meine Schuld. Niemand ist schuld daran.

      Das Wasser kühlt ihre Hände, kühlt ihren erhitzten Kopf. Schritt für Schritt. Hände trocknen. Zähne im Spiegel kontrollieren. Kräuter aus den Zahnzwischenräumen entfernen. Handtasche aufmachen. Gut, alles dabei. Neu anfangen.

      Sie tupft sich das Gesicht mit diesem angenehm weichen Handtuch ab, zieht ihr Make-up nach, kaschiert – zum ersten Mal an diesem Tag – ihre Augenringe, tuscht ihre Wimpern, trägt Rouge auf und sogar Lidschatten, nimmt den zart rosafarbenen Lippenstift. Sie betrachtet sich. Der Selbsthass weicht aus ihrem Körper. Sie kann tief einatmen. Ihr Brustkorb löst sich, und mechanisch korrigiert sich ihre schlaffe Körperhaltung. Ich bin nicht verrückt. Ein letzter Blick in den Spiegel, ich bin nicht hässlich, der Weg zurück zu ihrem Platz, ich bin nicht kaputt, erhobenen Kopfes. Stolzer Gang.

      Ich bin eine Frau. Sie fühlt sich wie ausgewechselt. Ich bin nicht defekt.

      Sie wird beäugt, aber wohlwollend ignoriert. Ihre Erscheinung hat sich gebessert, das lässt die anderen Gäste aufatmen. So, jetzt reißt sie sich zusammen, sehr schön. Lisa fühlt sich frei. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit. Vielleicht zum ersten Mal, seit sie die Frau mimt, die sie werden wollte, und jetzt erneut kläglich an der eigenen Vision scheiterte. Eine Frau, das ist ein Mensch, dachte Lisa bisher, die einmal im Monat ihre Periode bekommt, durchschnittlich 456 Mal in ihrem Leben, die Zähne zusammenbeißt, denn das bedeutet bei jeweils fünf Tagen Blutung umgerechnet sechskommazweifünf Jahre Periode am Stück, und mindestens ein Kind zur Welt bringt. Schöner wären zwei, ein Bub und ein Mädchen. Oder Zwillinge. Mehr war es nicht. Es schien so einfach. So natürlich. Etwas, worum sie sich nicht kümmern musste. Etwas, das ihr einfach geschah. Eier, Sperma, Baby.

      Oh, sie hat die Zähne zusammengebissen, und sie hat die Periode bekommen. Sie hat viel Geld ausgegeben. Sie hat auf sich geachtet. Aber das Kind, das Kind kam nicht. Sie hat noch besser auf sich Acht gegeben. Sie hat noch mehr Geld ausgegeben. Doch das Kind verliert sie ein ums andere Mal. Und die Enttäuschung wurde ein ums andere Mal größer. Und die Verletzung unerträglicher und der Mut geringer. Sie ist keine echte Frau, weiß Lisa jetzt sicher, wenn sie kein Leben gebären kann, und als unechte Frau hat sie sowieso keinen echten Platz in dieser Gesellschaft. Sie hat ihn sich weder verdient, noch wird er ihr unter diesen Umständen angeboten. Sie ist gescheitert.

      Nein! Sie schaut sich um. Nein, so einfach gebe ich nicht auf. Zu diesen Menschen will sie nicht gehören. Die schmatzenden Münder, schlürfend, schürzend, lachend, Kräuter zwischen den Zähnen, gelbe Zähne, falsche Zähne, Zahnlücken. Nein! Ich bin nicht schuld. Die Hände, wie sie verkrampft das Glas halten, zum Mund führen, abstellen, wie sie auf dem Schoß liegen, mit dem Telefon spielen, eine andere Hand festhalten, sich am Kopf kratzen. Zu all diesen Händen wollte sie nicht gehören. Der Schmuck. Ohrringe baumeln, Ketten hängen, Uhren blitzen im Licht, Ringe, so viele Eheringe an einem Ort. Lachen, immer wieder dieses Lachen, warum sind die alle so glücklich? Das Lachen gehört nicht zu ihr. Lisa nimmt sich ein kleines, schwarzes Schneckenhaus und betrachtet es ausführlich. Wie unfair, mitsamt dem eigenen Häuschen verkocht zu werden. Traurig.

      »Hmmm, lecker!«

      »Vorzüglich!«

      »Ganz wunderbar!«

      »Es hat mir sehr gut geschmeckt, danke sehr.«

      »Sie haben nicht zu viel versprochen.«

      Diese Wörter. Das sind nicht ihre Wörter, sie will nicht mit diesen Worten angesprochen werden, nicht von den Stimmen. Lisa ist betrunken und angriffslustig. Ihr bisheriges Leben zerfällt


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