Spitzenreiterinnen. Jovana Reisinger
hat Geld auf dem Konto. Lisa trinkt. Ihr Lidstrich ist verschmiert. Niemand hat sie darauf hingewiesen. Mit dem ganzen Leid allein.
Der Kellner bringt artig einen Kühler, platziert die Flasche Champagner und gratuliert mit einem kleinen Stück Schokotarte. »Geburtstagsgruß aus der Küche. Und das am Tag der Liebe, wunderbar!«, säuselt er angenehm glaubwürdig.
Lisa trinkt ihr Glas schnell leer und beantwortet lieber gleich die Frage nach ihrem Alter, bevor sie saudumm gestellt wird: 44.
»Prächtig! Eine Schnapszahl! Herzlichen Glückwunsch«, erwidert der Kellner, der es vergisst, als er sich vom Tisch wegdreht, der einfach Mitleid hat mit einsamen Frauen, die sich in sein Restaurant verirren, die sich dorthin flüchten, sich ihrem Schicksal ausgerechnet hier hingeben wollen. Generell liebt er Menschen, die am Katalog der luxuriösen Eigenheiten festhalten, an Dingen, die irgendwann einmal für Glanz standen, für Erfolg und jetzt, schon bis zur Peinlichkeit zum Gemeingut geworden, immer noch gelten. Kaviar, Austern, Champagner, gibt’s alles beim Discounter. Aber hier ist es noch echt, hier war es schon immer authentisch. Der Kellner hat eine Schwäche für Menschen, die sich von den Versprechen eines besseren Lebens manipulieren lassen, und genießt ihre Anwesenheit. Wenn sie unbeholfen den Hummer zerlegen und nicht genau wissen, wie das geht, mit dem Krabbencocktail, dann geht ihm das Herz auf. Nicht aus Überheblichkeit, nein, aus ehrlichem Mitgefühl.
Der letzte Schimmer längst verschwundenen Glamours. Er hängt an dem Kitsch. Aber die Menschen, die sich diese Extravaganz leisten können, werden immer weniger. Die Superreichen kommen schon lange nicht mehr her.
Lisa nimmt einen großen Schluck und schenkt sich wieder nach.
Da sitzt sie also, nach außen hin zusammengehalten von einer gesund anmutenden Hülle, hat immerhin alles, was ein Körper braucht, und im Innern ein Schlachtfeld. Das Telefon klingelt, sie schaut dem leuchtenden Bildschirm zu, bis es aufhört zu vibrieren, 17 Anrufe in Abwesenheit, meine Güte, nervt der Typ. Lisa schafft es nicht ranzugehen, aber auch nicht, das Telefon in ihrer Tasche zu verstauen und starrt auf den Bildschirm, überfliegt die Nachrichten. Er will immer etwas regeln. Seine Regeln gelten dann. Er findet, er brauche jetzt Zeit, und legt den Schlüssel auf den Küchentisch. Er findet, das sei eine gute Idee. Es wäre gut für beide.
Zum Glück hat Lisa keine Zeit, sich dem nächsten Gefühlsschwall hinzugeben und in Tränen auszubrechen, sich selbst zu hassen und die Schuld auf sich zu nehmen, denn da kommt der Kellner und das Objekt, das er trägt, ist nicht gerade das, was Lisa sich unter einer ordinären Austernplatte vorgestellt hat. Eine dreistöckige Etagere, zum Überquellen belegt mit Schnecken in jeglicher Größe, Austern und auf der obersten Stufe in jeweils ein Gläschen getunkt zwei Riesengarnelen. Lisa trägt’s mit Fassung, der Kellner mit einem Glücksgefühl. Das ist die Spezialität. Das ist der Stolz des Hauses.
»Genießen Sie, Madame, auf diese drei Stockwerke feinsten Genuss kommt es an. Herzlichen Glückwunsch zu dieser phänomenalen Wahl. Und zum Ehrentag selbstredend. Was für eine herrliche Idee, sich selbst so zu feiern! Es kommt niemand mehr, nehme ich an?«
Lisa legt sich die Stoffserviette auf den Schoß und weiß gar nicht, wo sie anfangen soll, greift nach der erstbesten großen Schnecke und dem dazugehörigen Besteck. Der Kellner stellt noch ein Dutzend Saucen auf den Tisch, wünscht guten Appetit, und beide sind erleichtert, weil Lisa jetzt eine Weile lang beschäftigt sein wird. Der Kellner ist verzückt bei ihrem Anblick, kümmert sich nun allerdings um die neu eintrudelnden Gäste, würde ihr aber gern weiterhin Gesellschaft leisten. So ein schöner Tag, denkt er sich, denn da kommt eine Familie aus Niederbayern herein, mit einem München-Reiseführer in der Hand und einem ordentlichen Dialekt im Mund.
Der Kellner ist ein hundsgemeiner Typ und setzt die Familie an Lisas Nebentisch. Die ganze Familie staunt nicht schlecht über die dreistöckige Etagere, und der Vater kann seine Augen gar nicht mehr abwenden. Lisa fühlt sich in ihrer Wahl bestätigt und lobt freundlich die Qualität des Essens. Ehe der Kellner die Karten ausgeteilt hat, stürmt auch schon eine neue Gruppe ins Restaurant.
Heute geht’s aber zu, das kann ja heiter werden, Fest der Liebe, Liebe geht durch den Magen! Klassisches Theaterpublikum, das sieht der Kellner sofort. Die Herren im Anzug, die Frauen im Kleidchen und allesamt in den guten Ausgehschuhen. Die niederbayerische Familie liest aufmerksam die Karte und hat den München-Führer schon längst verschwinden lassen. Die Theaterbesucher setzen sich und reißen die Hände in die Luft, als die Verabredung den Laden betritt.
»Endlich sehen wir uns wieder!«
»Ich freu mich so!«
»Ich mich auch!«
»Na wunderbar, setz dich doch hierhin.«
»Wein?«
»Ja, unbedingt! Und eine Flasche Wasser, aber ohne Gas.«
»Haha, nein, nein, ganz unaufgeregtes Wasser bestellen wir jetzt.«
»Nicht, dass noch eine Katastrophe passiert, hihi.«
»Meine Güte, lang ist’s her!«
Die Theaterbesucher wissen schon, was sie wollen, und deuten hin zu der einsamen Frau, die sich heute offensichtlich mal was gönnt, was ein Gefühl der Zugehörigkeit bei den Theaterbesuchern auslöst: »Eine solche Etagere – aber mit Hummer!«
»Und eine ohne Hummer, aber dafür mit doppelt so vielen Austern.«
»Eine kleine Vorspeise?«
»Nein, nein, wir haben auch gar nicht so viel Zeit.«
»Sehr schön, perfekte Wahl. Darf’s ein Aperitif sein?«
»Ja, unbedingt!«
»Bitte, was empfehlen Sie?«
»Jawoll, das nehmen wir.«
Die Familie versteht, was bestellt werden muss und winkt den Kellner heran.
»Bitte, wir hätten a gern so eine Platte.«
»Mit Hummer?«
»Na, den nicht.«
»Mit den kleinen schwarzen Schnecken?«
»Ja, freilich, und mit den großen, so wie bei ihr.«
»Vorzügliche Wahl. Sind Sie zum ersten Mal bei uns?«
»Ja, schon.«
»Ach, wie wunderbar, Sie werden begeistert sein von unseren Köstlichkeiten!«
»Wie viele brauch’ ma denn da, für uns vier?«
»Ich würde Ihnen zwei empfehlen und eine Portion Austern extra, sieben Stück?«
»Ja, guad.«
»Darf es noch das passende Glas Champagner dazu sein? So wird der Genuss erst perfekt.«
»Na dann, freilich!«
»Für die Erwachsenen, versteht sich.« Gelächter. Zum Glück ist die erste Hürde überwunden, das Essen ist bestellt, der Kellner ist freundlich.
Der Mann, die Frau, die Tochter, der Sohn nicken und legen sich die Servietten auf die Schöße. Jetzt heißt es abwarten und die Vorfreude aushalten.
Lisa nickt zustimmend und schlingt weiter die Meerestiere, als wäre sie bei einem Wettbewerb. Wann hat sie zuletzt gegessen und auch noch so gut? Lisa schenkt sich nach, sie säuft, sie stößt auf, sie wischt sich mit der fettigen Hand das Gesicht ab. Kräuter zieren ihre Mundwinkel und Wangen. Wo ist die ordentliche Frau hin? Das Handy vibriert. Nein, sie ist noch nicht so weit. Sie kann selbst noch nicht glauben, was heute passiert ist. Sie schlürft an der nächsten Auster und wird zusehends gieriger.
Die Theaterbesucher amüsieren sich herrlich über diesen Anblick und prosten ihr zu. Der Kellner kriegt von dem ganzen Spaß leider nichts mit, es strömen die Gäste nur so herein in die Stube. Diesmal stürmen sie sogar voraus und lassen sich erst gar nicht platzieren.
Die scheinen hier richtig zuhause zu sein, denkt sich der Familienvater, das muss ein Leben sein! Seine Frau schaut lieber den anderen Frauen