Bürgermeister - was sie antreibt, wer sie umtreibt. Denise Peikert

Bürgermeister - was sie antreibt, wer sie umtreibt - Denise Peikert


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gesagt, und dass er natürlich den Sohn vorher noch abhole.

      Als Ebert auf den Burghof einbiegt, ist das Gespräch mit seiner Lebensgefährtin 40 Minuten her. 40 Minuten, in denen Ebert tatsächlich irgendwann aus dem Bürgermeister-Büro aufgebrochen ist, seinen acht Jahre alten Sohn abgeholt und nach Hause gefahren hat, zwei Bissen gegessen hat. Nun führt er den kleinen Tross vom Burghof die Treppen hoch in den Gemeindesaal, macht das Licht an, stellt die Stühle herunter, zieht die Funktionsjacke aus, legt seinen Aktenordner auf den Tisch. 19 Uhr, Sitzung der Gemeindevertretung.

      Löcknitz liegt in Mecklenburg-Vorpommern an der polnischen Grenze. 3.200 Einwohner hat er Ort, Tendenz steigend. Außerdem drei Supermärkte, vier Schulen, zwei Kindergärten, mehrere Ärzte, zwei Apotheken, ein Bahnhofsgebäude mit Gastwirtschaft und ein Park-Leitsystem. Löcknitz ist, so kann man das sagen, Boom-Town. Und Detlef Ebert verwaltet den Boom in seiner Freizeit, jedenfalls theoretisch. Er ist Bürgermeister im Ehrenamt.

      Im Gemeindesaal in Löcknitz geht es an diesem Oktoberabend erst um die richtige Positionierung von Bushaltestellen an der Schule, um verwitternde Kriegsgräber auf dem Friedhof und um die Sache mit den Windrädern. Jetzt kommt die Einwohnerfragestunde, es fragt: Bürgerin Frau Schröder, die, wie sie sagt „in Löcknitz geboren und alt geworden ist.“ Frau Schröder ist diejenige, die bemängelt hatte, wie spät Detlef Ebert mit dem Schlüssel gekommen sei, und hat, das stellt sich nun heraus, noch viel mehr zu bemängeln: Dass die Teiche in Löcknitz zugewuchert seien. Dass manch neu gepflanzter Baum keine Blätter trage. Dass die Mitarbeiter auf dem Friedhof die Grabsteine „mit den Händen“ hinlegen müssen, statt, wie Frau Schröder es angemessen fände, einen Bagger zu benutzen. Überhaupt, der Friedhof: Im Fernsehen, findet Frau Schröder, zeigen sie immer so schöne Friedhöfe, und in Löcknitz, da wachsen die Misteln in den Bäumen und keiner entferne sie. „Was hier los ist in Löcknitz“, ruft Frau Schröder, und macht vor lauter Entflammtheit einen kleinen Schritt nach vorn bei dem Satz, „also man schämt sich.“ Zweimal, sagt Frau Schröder noch, sei sie schon bei Herrn Ebert gewesen wegen der Misteln, „und Sie haben mir keine richtige Antwort gegeben.“

      An diesem Abend, in der Gemeindevertretung sagt Detlef Ebert nichts zu Frau Schröder. Er lässt seine Kollegen sprechen. Hinterher, als Frau Schröder längst gegangen ist, erzählt er, dass Freunde und sogar entfernte Bekannte ihn schon manchmal fragen, warum er eigentlich so doof sei, sich diesen Job anzutun.

      Ja, warum eigentlich?

      Tausende Bürgermeisterinnen in Deutschland machen ihre Arbeit ehrenamtlich. Oft sind die Gemeinden, in denen sie gebraucht werden, klein und in immer mehr von ihnen, findet sich niemand, der den Job noch machen will. Um das Bürgermeister-Ehrenamt und wie es gefördert werden soll, gibt es deshalb immer wieder Diskussionen: Ist es angemessen, einen Ort ehrenamtlich zu führen? Ist es andererseits angemessen, dem Bürgermeister ein Gehalt zu zahlen, was dann fehlt, um Schlaglöcher zu stopfen oder eine Bank aufzustellen? Und wer bitte, soll das alles überhaupt noch machen, wenn das Geld weder für einen selbst reicht noch dafür, ein Schlagloch zu reparieren oder eine Bank aufzustellen?

      In Löcknitz stellen sich all diese Fragen auf eine besondere Weise, denn Löcknitz ist ein Paradox. Den bloßen Koordinaten nach nämlich sollte der Ort ein abgehängtes Stück Land sein: ein kleines Dorf am östlichsten Rand von Mecklenburg-Vorpommern, nahe der Grenze zu Brandenburg, in einer der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Die Autobahn 20, die nach der Wiedervereinigung gebaut worden ist, befahren auf ihrem östlichsten Teil, der nach Löcknitz führt, gerade einmal so viele Autos wie normalerweise auf einer gut frequentierten Kreisstraße unterwegs sind. Weit und breit gibt es hier keinen großen Arbeitgeber. Eine klassische Wegzug-Region also und ein Ort, von dem selbst der Bürgermeister sagt: „Eigentlich wäre das hier eine sehr, sehr traurige Ecke.“

      Die Geschichte davon, warum das nicht so ist, beginnt im Jahr 2004. In einem Jahr, in dem in Löcknitz rund sechs Prozent der Wohnungen leer standen und manche Häuser schon seit zehn Jahren. Die Zahl der Einwohner war seit 1990 stetig gefallen. Kurz darauf, das würde sich bald herausstellen, sollte bei der Einwohnerzahl in Löcknitz die Talsohle erreicht werden, sollte es wieder bergauf gehen, denn 2004 war auch das Jahr, in dem Polen der Europäischen Union beigetreten ist. Bis zur Grenze sind es von Löcknitz aus elf Kilometer, das Zentrum der Großstadt Stettin erreicht man mit dem Auto in einer guten halben Stunde. Stettin prosperierte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schnell – die Werft half dabei mit, die Hochschulen, der Tourismus. Nun, da Polen zur EU gehörte und seit Ende 2007 auch zum Schengenraum, wurde Löcknitz plötzlich Speckgürtel von Stettin.

      Da war es also, das historische Momentum, aber zunächst sah es so aus, als würde es an einer Idee zerschellen, die nicht funktionierte. Zwar machten Vertreter der Wohnungswirtschaft aus dem Landkreis Uecker-Randow, zu dem Löcknitz damals noch gehörte (er ging später auf im heutigen Kreis Vorpommern-Greifswald), ein Büro in Stettin auf. Sie versuchten, Stettiner Studenten zu überreden, statt in der polnischen Stadt auf dem flachen vorpommerschen Land zu wohnen. „Das ging total in die Hose“, sagt Ebert. „Soweit mir bekannt ist, sollen wohl fünf Studenten tatsächlich gekommen sein.“ Statt der Studenten aber, die natürlich lieber in der Stadt leben wollten, kamen polnische Familienväter und -mütter in das Büro und fragten: Können wir eine Wohnung mieten? Können wir Land kaufen? Können wir bei euch ein Konto eröffnen? Plötzlich wurden auf deutscher Seite seit Jahren leerstehende Häuser wieder interessant und Orte wie Löcknitz wiesen Bauland aus. „Uns war es natürlich egal, ob da ein Pole baute oder ein Deutscher – Hauptsache jemand baute“, sagt Ebert.

      Heute stammen etwa 600 der 3.200 Löcknitzer aus Polen. Gekommen sind vor allem gut situierte Menschen, die weiter in Stettin arbeiten, aber ihre Kinder in Löcknitz zur Schule schicken, in den Supermärkten einkaufen, zu den Ärzten gehen. Gekommen sind Menschen wie Bogdan Wernecki, Chef einer Firma für Zugelektronik. Er hat sogar seinen Firmensitz in eine der vielen leerstehenden Lagerhallen in Löcknitz verlegt. Über ihn sagt Ebert, das habe er gemacht, weil sein Sohn an der Schule in Löcknitz gleichzeitig ein deutsches und ein polnisches Abitur machen könne. 500 Kinder gehen auf das in den Neunzigern entstandene deutsch-polnische Gymnasium des Ortes, gerade entsteht für elf Millionen Euro ein weiterer Schulcampus. Nachmittags staut sich der Verkehr vor dem 2011 eröffneten und kreisrund gebauten deutsch-polnischen Kindergarten so sehr, dass ein Vater seinen gelben Skoda nur so halb in zweiter Reihe parken kann. An heißen Sommertagen ist in Löcknitz ein Parkleitsystem in Betrieb, damit das nicht in allen Straßen so aussieht – dann kommen schon mal 1.500 Menschen zum Baden an den Löcknitzer See, noch einmal halb so viele also, wie der Ort Einwohner hat.

      So gesehen ist Löcknitz eine kleine paneuropäische Erfolgsgeschichte. Es gibt aber ein Thema, das man nur kurz anzureißen braucht, da sinken bei Detlef Ebert schon die Schultern zusammen. 2009 hat die NPD in Löcknitz mit Plakaten geworben, auf denen stand: „Polen-Invasion stoppen“. Bei der Landtagswahl 2006 gewann die NPD in dem Ort mehr als 20 Prozent der Stimmen, „genauso viele wie wir“, sagt Ebert, der Mitglied der CDU ist. 2009 und 2014 konnte die rechtsextreme Partei zwei Mandate in der Löcknitzer Gemeindevertretung erlangen, „aber seit 2019 spielen die keine Rolle mehr“, sagt Ebert. Der Löcknitzer Bürgermeister ist ein pragmatischer Mann. Einer, der sein Handy in einer Tasche am Gürtel trägt, zwei Kulis in der Brusttasche des orangenen Hemdes und sein dichtes, dunkelblondes Haar in einer unfrisierten Welle. Er ist froh, sagt er, dass aus den zwei NPDlern in der Gemeindevertretung heute Reichsbürger geworden seien, „die können ja nun nicht mehr antreten.“ Und er sagt, wenn er über die Neonazis in seinem Ort reden soll, Sätze wie diesen hier: „Inzwischen hat sich das ganz gut reguliert.“

      Wie unübersichtlich die Gemengelage in Löcknitz inzwischen manchmal ist, zeigt eine Begebenheit aus dem April 2016. Damals hatte eine regionale Organisation für Demokratieförderung zu einem Infoabend in Löcknitz geladen. Es sollte um die Integration von Flüchtlingen gehen, und die Veranstaltung richtete sich ausdrücklich an die Polen im Ort, sie sollte auch auf polnisch abgehalten werden. Vor Beginn waren zwei NPD-Politiker zu der Veranstaltung gekommen. Der Projektleiter des Veranstalters sagte später, die Männer hätten Gäste mit den Worten „keine Volksdeutschen hier, alles Parasiten und polnischer Pöbel“ beleidigt – er warf sie unter Zuhilfenahme der Polizei raus. Der Fall kam vor Gericht – und dort zeigte eine polnische Referentin


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