Bürgermeister - was sie antreibt, wer sie umtreibt. Denise Peikert

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Antworten man hören möchte, zunächst aber der Status Quo: Seit 2016 werden politische motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger gesondert erfasst. In jenem Jahr zählte das Bundeskriminalamt im ganzen Land 1.841 solcher Delikte. Danach ist die Zahl zunächst gesunken, dann wieder angestiegen. 2019 wurden 1.451 solcher Taten gezählt – weniger also als in den Jahren, als besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, als die AfD erstmals Erfolge bei Landtagswahlen erzielen konnte. Die Bürgermeisterinnen selbst haben aber ganz und gar nicht den Eindruck, als entspanne sich ihre Situation. Die Zeitschrift „Kommunal“ hat im Frühjahr 2020 fast 2.500 Bürgermeister befragt. 64 Prozent von ihnen gaben an, schon einmal bedroht oder angegriffen worden zu sein. Im Sommer 2019 waren es noch weniger als die Hälfte der Befragten gewesen. Und als der Mitteldeutsche Rundfunk1, Anfang des Jahres 2020 alle Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gebeten hat, sich an einer Umfrage zu dem Thema zu beteiligen, kamen mehr Mails in der Redaktion an als gewöhnlich. Es klingelte auch häufiger das Telefon und in der Leitung waren Bürgermeister, die nur mal erzählen wollten, wie schlimm alles ist. Die Redebedarf hatten – selbst dann, wenn sie von sich sagten, „eigentlich nicht sehr“ betroffen zu sein.

      Das Interessante und zugleich Beunruhigende an den Schilderungen der Bürgermeisterinnen im ganzen Land ist: Es gibt die Fälle von krasser, teilweise tödlicher Gewalt. Die Täter stehen dann – oft erwiesenermaßen, manchmal nur mutmaßlich – politisch extrem weit rechts oder extrem weit links. Das, was die Bürgermeister aber vor allem umtreibt, ist die inzwischen ganz normale Eskalation ganz normaler Leute. Da werden wegen einer Windpark-Erweiterung alle Zufahrtsstraßen eines 770-Einwohner-Orts mit Beschimpfungen gegen den Bürgermeister besprüht. Weil jemand eine Baugenehmigung nicht bekommt, legt er Nägel in die Einfahrt zum Privathaus des Bürgermeisters. Wegen einer umstrittenen Entscheidung im Stadtrat stehen Bürgerinnen plötzlich im Garten ihres Stadtoberhaupts und beschimpfen dort dessen Kinder. All das geschieht natürlich da, wo die Gesellschaft es vermutet: Im als besonders verroht verschrienem Osten Deutschlands und überall dort, wo es den Menschen nicht gut geht. Aber, und das macht das Bild endgültig so erschreckend: Es passiert auch da, wo der Osten weit weg und das Einkommen der Menschen hoch ist, in Baden-Württemberg zum Bespiel. Dort, so hat es ein junger Bürgermeister aus Südbaden der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erzählt, haben Eltern die Stadtverwaltung monatelang traktiert und beschimpft, weil es in den Kitas kein stilles Heilwasser sondern nur Mineralwasser medium gibt.

      Die Frage ist also längst nicht mehr, ob wir wirklich ein Problem haben. Die Frage ist: Was können wir dagegen tun?

      Henriette Reker ist nach der der Schuleinweihung im Kölner Stadtteil Longerich zurück ins Zentrum der Stadt gefahren. Im Rathaus ist es so still heute am Samstag, dass es lange nachhallt, wenn eine Tür ins Schloss fällt. Reker, 63 Jahre alt, sitzt an dem runden Konferenztisch in ihrem Büro, in ihrem Rücken scheint die Sonne durch die Fensterfront, und sie will eigentlich nicht mehr reden über das, was ihr im Oktober 2015 passiert ist, deshalb hier in aller Kürze: Reker war 15 Jahre lang Sozialdezernentin gewesen, erst in Gelsenkirchen, dann in ihrer Heimatstadt Köln. Über den Sommer des Jahres 2015 war es auch ihre Aufgabe, Flüchtlinge in der Stadt unterzubringen. Gleichzeitig standen die Oberbürgermeister-Wahlen an in der Stadt, Reker war eine der Kandidatinnen, sie trat als Parteilose an, aufgestellt von den Grünen, unterstützt von einer breiten Koalition. Am letzten Tag vor der Wahl stand Reker auf einem Marktplatz, Wahlkampfendspurt. Dort stach ihr ein Mann ein Messer in den Hals. Reker kam ins Krankenhaus, Intensivstation, künstliches Koma, sie überlebte nur knapp. Am Tag nach der Tat wählten die Kölner sie zu ihrer Oberbürgermeisterin, mit etwas Verspätung trat sie ihr Amt an.

      Zurück in die Gegenwart, in den Januar 2020, denn es gibt etwas, darüber möchte Henriette Reker schon reden, sehr gerne sogar, und das ist das, was seither passiert ist. „Als ich angegriffen wurde, war das noch ein ziemlicher Einzelfall“, sagt sie. „Aber inzwischen hat sich die Lage verschärft. In unserer Gesellschaft gibt es Tendenzen der Verrohung.“ Sie legt Wert, das sagt sie noch, auf das „in“ in diesem Satz, es ist ihr wichtig zu sagen, dass nicht etwa die ganze Gesellschaft verrohe. „Der Angriff auf mich war ganz klar motiviert und zielte auf mich ab – obwohl ich als Sozialdezernentin bei der Unterbringung von Flüchtlingen natürlich nur meinen Job gemacht habe. Jetzt ist es oft so, dass Menschen getroffen werden sollen, die zu bestimmten Gruppen gehören.“ Karamba Diaby meint sie damit, einen Politiker, der nicht in Deutschland geboren ist, dessen Hautfarbe schwarz ist und der deshalb von Rassisten abgelehnt wird. Aber auch heute sind es immer noch Leute wie sie, wie Reker, Kommunalpolitikerinnen und -politiker, die das Ziel von Anfeindungen und Gewalt werden. „Die Kommunen sind Reparaturbetrieb dessen, was in Land und Bund nicht funktioniert“, sagt Reker. „Die Menschen erleben die unmittelbare Begegnung mit der Politik in der Kommune.“

      An der Universität Bielefeld arbeitet eine Forschungsgruppe, die regelmäßig hineinfühlt in die deutsche Bevölkerung. Sie befragt die Menschen. Wie sie zur Demokratie stehen, was sie von Asylbewerberinnen halten, was von Politikern. Die Studie am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni heißt „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände“ und wird regelmäßig im Auftrag der der SPD nahestehenden Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt. Die Ergebnisse sind düster. So steigt der aktuellsten Auflage der Studie von 2019 zufolge das Misstrauen in die Demokratie. Mehr als ein Drittel der Befragten fühlt sich durch die Politik nicht mehr vertreten und nimmt sich selbst als politisch machtlos wahr. Jede zweite Person sagt, sie traue lieber ihrem eigenen Gefühl als dem, was Experten sagen. Dieses Gefühl, so die Studienautoren, entlädt sich oft lokal – wenn die Schulen marode sind, unpopuläre Entscheidungen gefällt werden oder einfach, weil die lokale Politik greifbar ist und der Zorn irgendwo hin muss.

      Wenn es irgendwo in Deutschland wieder einmal so weit ist mit der Wut und dem Zorn, dann kommt es vor, dass bei Henriette Reker in Köln das Telefon klingelt. Dann ist eine Amtskollegin oder ein Amtskollege in der Leitung und braucht Rat. Weil er oder sie eine Morddrohung erhalten hat zum Beispiel. Weil es vielleicht schon einen Angriff gegeben hat. Reker sagt, dass sie sich eigentlich nicht zur Ratgeberin berufen fühlt. „Bei mir sind die Wunden verheilt. Aber ich finde es sehr schwierig, anderen dazu Ratschläge zu geben“, sagt sie. Gerade weil Reker so überzeugend sagt, sie habe das Attentat gut verarbeitet, kann man aber statt der Bitte um einen Rat eine andere Frage an sie richten: Wie geht sie selbst mit Hass und Anfeindungen um? „Ich spreche oft darüber“, sagt sie dann, denn es gehe um so viele Menschen mehr als nur die Bürgermeisterinnen: um Feuerwehrleute, Sanitäter, Menschen, die im Sozialamt arbeiten. „Wir müssen es zu schätzen wissen, was diese Menschen für unsere Gesellschaft tun und manchmal habe ich das Gefühl, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt die Haltung, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von den Steuergeldern bezahlt werden und man deswegen mit ihnen umgehen könne, wie man wolle. Dabei ist das einfach nicht in Ordnung. Wo wäre unsere Gesellschaft denn ohne jene, die sich für das Allgemeinwohl einsetzen?“

      Und sie selbst? Was ist das Rezept von Henriette Reker, die so maximal von dem betroffen war, was sie selbst Verrohung in der Gesellschaft nennt, was anderswo Hasskriminalität heißt? „Von Kommunalpolitikern“, sagt sie, „können Einwohnerinnen und Einwohner einer Stadt Nähe erwarten. Und Nähe ist ausgerechnet zu denen wichtig, die sich abgehängt fühlen. Wenn man sie ausschließt, dann laufen sie ja erst recht den Strömungen nach, die als populistisch oder als rechtsradikal bezeichnet werden.“ Für Reker bedeutet das schon mal, dass sie maskierte Störer auf Veranstaltungen bittet, auf die Bühne zu kommen und zu sagen, was sie denken. „Ich bespreche mit denen: Sie kriegen jetzt für fünf Minuten die Bühne und dann bin ich wieder dran. Aber ich würde deswegen nie so eine Veranstaltung abbrechen. Vielen ist das unangenehm, aber oft renkt sich das dann irgendwie wieder ein.“

      Ausgerechnet die Frau also, die die Nähe zu den Bürgern, so sehr verletzt hat, setzt jetzt erst recht auf Nähe. Sie sucht die Gründe für die Wut, für das Gefühl, nicht dazu zu gehören, und vielleicht schafft sie es so wirklich, jeden dazu gehören zu lassen, der das will. Dem „Spiegel“ hat Reker einmal gesagt, sie glaube nicht, dass es schon einmal eine Oberbürgermeisterin gegeben habe, die soviel geküsst und geherzt wird, wie sie selbst. Für viele andere, die immer wieder beschimpft werden, deren Wohnhäuser Ziel rechtsextremer Demonstrationen werden, die Morddrohungen erhalten,


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