Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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Es war Kalkül des Bildungsministeriums, dass die Neuausrichtung der Reifeprüfung einen richtungsweisenden Reformschritt darstellen sollte, dem sukzessive Bildungspläne und Organisationsstruktur der Sekundarstufe II an folgen würden. So sollte die Maturareform zum Motor der Implementierung der Kompetenzorientierung in den Unterrichtsalltag an den Allgemeinbildenden und den Berufsbildenden Höheren Schulen (AHS/BHS) werden. Ein systematischer und planmäßiger Umbau des Schulsystems war durch diese Vorgangsweise nicht gewährleistet. Sie zeugt eher vom mangelnden Vertrauen der Bildungsverantwortlichen in die Akzeptanz ihrer Bildungspläne durch Lehrer*innen und vom Unvermögen der Schulleitungen und der Schulaufsicht, für deren Umsetzung zu sorgen, ein Umstand, der den Zweck von Lehrplänen als Steuerungselement in Frage stellt.444 Abgesehen vom rechtlichen Aspekt der Attestierung von Studierfähigkeit, ist es Ziel der neuen Reifeprüfung, die im Unterricht über einen Zeitraum von 12 bis 13 Jahren aufgebauten domänenspezifischen Kompetenzen zu überprüfen, und zwar unabhängig davon, ob das Fach standardisiert ist oder nicht. Das erreichte Bildungsniveau soll reliabel gemessen werden, um eine österreichweite Vergleichbarkeit der erworbenen Kompetenzen zu verifizieren. Dazu wurde ein komplexes dreigliedriges Prüfungsmodell („Drei-Säulen-Modell“) entwickelt, das dem bildungspolitischen Wunsch nach Standardisierung in einigen als wesentlich empfundenen Fächern zu entsprechen trachtet und die Intention einiger Schulstandorte nach autonomen Schwerpunktbildungen respektiert.445 Das gemeinsame Fundament soll das Paradigma der Kompetenzorientierung bilden. Und so wurde das „Haus der Reifeprüfung“ auf folgenden Säulen errichtet:

      Schriftliche Reifeprüfung: Sie ist kompetenzorientiert und teilweise standardisiert.446 Der standardisierte Teil umfasst die Unterrichtssprache (Deutsch, Slowenisch, Kroatisch, Ungarisch447), die lebenden Fremdsprachen, die klassischen Sprachen und Mathematik. Es steht der Aspekt der Vergleichbarkeit erreichter Standards im Fokus der Prüfung. Daher wird sie zentral organisiert.

      Mündliche Reifeprüfung: Sie ist kompetenzorientiert, aber nicht standardisiert und betrifft alle zur Matura zugelassenen Fächer der Stundentafel, egal ob sie bundesweit reguliert oder schulartenspezifisch autonom gestaltetet sind. Die Schulen, ja sogar einzelne Klassen, erarbeiten auf der Basis der Lehrpläne und der festgesetzten Jahreswochenstundenzahl ihres Fachs Themenpools.448 Sie haben die Möglichkeit, standorttypische oder persönliche Schwerpunkte innerhalb des weit gesteckten Rahmens der Lehrpläne zu setzen.

      Abschließende Arbeit: Die Vorwissenschaftliche Arbeit (AHS) bzw. Diplomarbeit (BHS) ist kompetenzorientiert, aber nicht standardisiert und bietet den Schüler*innen ein Format, um gemäß ihren individuellen Interessen forschend zu arbeiten und ein schriftliches Produkt herzustellen, das schreibprozessorientiert angefertigt wird und die Kenntnis (wissenschaftlicher) Arbeitsverfahren nachweist.

      Summa summarum hat jede*r Kandidat*in sieben Prüfungsgebiete zu absolvieren. Obligatorisch sind die abschließende Arbeit und mindestens drei schriftliche, standardisierte Prüfungen (Unterrichtssprache, Mathematik, eine lebende Fremdsprache449). Es ist möglich, ein viertes schriftliches Fach zu wählen. In diesem Fall verringert sich die Zahl der mündlichen Prüfungsfächer von drei auf zwei.450 Mit dieser Regelung soll eine gewisse Bandbreite an allgemeiner Bildung sichtbar sowie die Möglichkeit eröffnet werden, eigenen thematischen Interessen zu folgen und allfälligen künftigen Zulassungserfordernissen zu Studien451 zu entsprechen. Die Beurteilung erfolgt gemäß den Vorgaben der LBVO.452 Das Fach „Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung“ ist ausschließlich mündlich maturabel.

      Im Mai und Juni 2015 fanden in Österreich die ersten kompetenzorientierten „teilstandardisierten“ und „teilzentralen“ Reifeprüfungen an den AHS statt. Ihre für österreichische Verhältnisse überraschend zügige Einführung – zwischen der Gesetzwerdung und den ersten regulären Prüfungen verstrichen bloß sieben Jahre453 – führte in der Bildungslandschaft zu erheblichen Irritationen. Die Wucht der Reform wurde von vielen Betroffenen unterschätzt. Es galt, eine große Zahl von Aufgaben in enger zeitlicher Abfolge zu bewältigen, die allesamt tiefgreifende Veränderungen nach sich zogen: der Aufbau einer rechtlichen Basis,454 die Schaffung einer flächendeckend agierenden Informations- und Beratungsschiene,455 die Entwicklung von Fortbildungsprogrammen, deren Ziel es zu sein hatte, österreichweit Tausende von Lehrer*innen mit für sie weitgehend neuen fachdidaktischen Grundlagen, Unterrichtsverfahren und Prüfungsdesigns vertraut zu machen, die Durchführung von Evaluierungsmaßnahmen. Das geschah in Form eines „Work in Progress“, denn der Öffentlichkeit wurde mit der RPVO 2010 kein fertiges Modell präsentiert, sondern ein Konzept, das erst nach und nach konkretisiert wurde. Adaptierungen standen an der Tagesordnung. Rechtssicherheit gab es erst wenige Monate vor dem ersten regulären Reifeprüfungstermin. Schulreformprozesse dieser Art war man in Österreich bis dahin nicht gewohnt. Erhebliche Widerstände und Eruptionen des Unmuts folgten. Als sich, trotz Skepsis in weiten Teilen der Öffentlichkeit und der Lehrer*innen,456 abzuzeichnen begann, dass die Reifeprüfungsreform implementiert wurde, entbrannte eine heftige, teilweise emotional geführte und von Massenmedien befeuerte öffentliche Diskussion über deren Sinnhaftigkeit.

      Die große mediale Erregung ließ spürbar werden, dass markante Neuerungen ins Haus standen. Thematisiert wurden Fragen rund um die pekuniäre Abgeltung von Prüfungen und Vorbereitungsarbeiten durch die Lehrenden457 und Sorgen um die Dichte der Termine in der Abfolge der Prüfungen.458 Es wurde im Zuge von Probeläufen über Aufgaben und Aufgabenformate mit Verve diskutiert. Waren sie den einen zu leicht, erscheinen sie anderen zu schwer, manchen zu innovativ, anderen eher altbacken.459 Man begab sich auf die Suche nach „Schuldigen“, wenn Probe- oder Modellschularbeiten bzw. Testläufe für die Reifeprüfung nicht auf Anhieb gute Resultate zeitigten. Interessenvertretungen lobbyierten. So vertrat z. B. die IG Autoren die Ansicht, Literatur würde in der neuen Form der schriftlichen Deutsch-Matura – und damit im Deutschunterricht – unter die Räder kommen: „Kritik: Zu wenig Literatur bei Deutsch-Matura“.460 Die Lehrer*innen-Gewerkschaft vermutete sowohl das Entstehen einer zusätzlichen Arbeitsbelastung für die Lehrpersonen als auch den Aufbau eines Überwachungssystems über deren Arbeitsleistung.461 Eltern- und Schülervertreter*innen befürchteten eine sprunghafte Erhöhung der Leistungserwartungen, ohne dass die Qualität des Unterrichts verbessert würde.462 Und Zyniker unkten, die Aufregung wäre bloß ein Sturm im Wasserglas, es würde sich mit viel Aufwand wenig ändern.463 An die Stelle einer konzeptionellen Kritik an der kompetenzorientierten Reifeprüfung die Thematisierung von Umstellungsschwierigkeiten, die derart intensiv diskutiert wurden, dass der Eindruck entstand, die Implementierung des neuen Formats würde von den Verantwortlichen weder organisatorisch noch inhaltlich bewältigt werden. Es wurde ein Stimmungsbild der Inkompetenz der Behörden vermittelt, das dem Ziel diente, abseits des Bildungsdiskurses politisches Kleingeld zu wechseln. Schlagzeilen wie „Zentralmatura: Panne bei Mathematik-Matura“,464 „Matura-Panne: Ministerin greift BIFIE-Institut an“,465 „Elternvertreter stellen Zentralmatura auch 2015 in Frage“,466 „Empört euch! Der wahre Skandal der Zentralmatura“,467 „Zentralmatura eine Peinlichkeit jagt die andere!“,468 „Englisch-Matura: Verwirrung um Benotungsschlüssel“,469 „Vorwissenschaftliche Arbeit: 6000 Exposés, sieben Inspektoren“470 illustrieren die mediale Aufgeregtheit, die rund um den „Probelauf“ zu schriftlichen Reifeprüfung im Mai 2014 ihren Höhepunkt erreichte. Das öffentliche Interesse am Reformprojekt machte deutlich, dass die Tragweite der Veränderungen zumindest erahnt wurde, auch wenn sie nicht in all ihren Aspekten erkannt worden war. An der neuen Reifeprüfung kam in den Jahren 2014–2018 kaum jemand vorbei.

      Neben des öffentlichkeitwirksamen medialen Diskurses um die kompetenzorientierte Reifeprüfung setzte auch eine eher verhalten geführte Bildungsdiskussion ein, die sich mit der Grundsatzfrage nach dem Zweck von Bildung


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