Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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herausfordernden Mühe erkenntnisgenerierenden Lernens würden sich junge Menschen nur dann unterziehen, wenn es gelingt, eine motivierende Spannung aufzubauen und zu erhalten. Die Unterrichtsreform hat aber keinen der pädagogischen Parameter Muße, Solidarität und Freud im Fokus, sondern die Ergebnisse. Und auch Hackl spricht ein Verdikt aus: „Was als allgemeine Hebung des gesellschaftlichen Bildungsniveaus propagiert wird, erweist sich bei genauerer Analyse nämlich als maßgeschneidertes Instrumentarium ökonomischer Bedarfsdeckung […] für die Casinogesellschaft“.493 Dass eine kompetenzorientierte Matura die Studierfähigkeit der Maturant*innen verbessern wird,494 glaubt Herbert Weiss (Standesvertretung der AHS-Lehrer*innen) nicht, denn ein einheitlich hohes Leistungsniveau könne nur dann erreicht werden, wenn es „[…] den passenden Einheitsunterricht gäbe“.495 Außerdem konvergierten die Postulate inhaltlicher Individualisierung des Unterrichts und Standardisierung der Prüfungsformate nicht. Dieser Widerspruch bedinge in der Praxis eine Reduzierung der Anforderungen bei den Prüfungsaufgaben, ein Qualitätsverlust, der sich auf das gesamte Bildungssystem auswirke. „Wenn die Zentralmatura den gefürchteten Niveauverlust bringen sollte, werden weitere Zugangsbeschränkungen und Aufnahmeverfahren wohl unvermeidlich sein.“496 Schließlich wird Sorge im Umgang mit den Lehrpersonal artikuliert. Den Aspekt der Motivation thematisiert Quin, wenn er der OECD vorwirft, Schule mittels „Soft Governance“ manipulieren zu wollen. Tests und Ergebnis-Vergleiche erzeugten Druck, denn schlechte Ergebnisse würden den Leistungen der Lehrpersonen zugeschrieben. „Das gemahnt an die altbekannte Methode des öffentlichen Prangers: Fehlverhalten gegenüber dem durch PISA aufgestellten Kodex in Form schlechter Testergebnisse wird medial bloßgestellt.“497 Um Brüskierung zu entgehen, würden Lehrende mit „teaching to the test“ reagieren. Außerdem führe die Teilung des Fächerkanons in standardisierte und nicht standardisierte zur Umschichtung von Ressourcen zu Standardfächern, aber auch zum Versuch einzelner Personen, das System zu umgehen.498 Bildungswissenschaftler Stefan Thomas Hopmann schließlich bezweifelt, dass irgendwelche Ideale an der Wiege der Reform gestanden hätten. Er unterstellt der Politik die Intention, das Bildungssystem disziplinieren und auf diese Weise Effizienz erzwingen zu wollen.499 Man habe ein Verständnis von Schule als einem Refugium für „Minderleister“, was es durch ein Bündel von Maßnahmen zu beseitigen gelte. „Vom Pflichtkindergarten bis zur Bildungspflicht ist die Logik immer die gleiche. Unterstellt wird, dass die Beteiligten – Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern – weniger leisten, als man von ihnen füglich erwarten darf.“500 Die Einführung der kompetenzorientierten Reifeprüfung sieht Hopmann als Teil des Versuchs, das Schulsystem unter Kontrolle zu bringen. Er vermutet jedoch, dass das Gegenteil erreicht werden wird. Wolle man mehr Motivation und Schubkraft auslösen, dann sollten die Schulen ausreichend Autonomie bekommen, um ihre Qualität zu verbessern.

      Die Bildungspolitik betont, mit dem Format der kompetenzorientierten Reifeprüfung ein Modell gefunden zu haben, welches das Bildungssystem sanft modifizieren würde. Die kompetenzorientierte Reifeprüfung garantiere Objektivität, Transparenz und Vergleichbarkeit und sei damit aussagekräftiger als die bisherige Matura. Sie ermögliche eine auf Dauer angelegte Sicherung von Kompetenzen, steigere die Qualität schulischer Arbeit und erlaube einen europaweiten Vergleich der Leistungen. Sowohl schulautonome Schwerpunkte als auch individuelle Bedürfnisse der Schüler*innen fänden Berücksichtigung und es werde dem Interesse der Bildungspolitik entsprochen, die Erreichung von Bildungszielen zu messen. Die Entscheidung, Kompetenzüberprüfungen an das Ende der Schullaufbahn zu setzen, wird mit der Gewährleistung ungestört ablaufenden Unterrichts begründet. Es gehe nicht um Interventionen in Arbeitsprozesse, sondern um die Sicherung der Qualität des Bildungssystems.501

      Vor dem Hintergrund massiver Kritik an schulischer Qualitätsentwicklung via Governance, vor allem durch die Milieus der „pädagogischen Professionellen“, weist Martin Heinrich darauf hin, dass die Reform zu scheitern droht, wenn es nicht gelingt, das Prinzip der Kompetenzorientierung mit der Idee von Allgemeinbildung zu verknüpfen. Die Krise der Bildung werde kaum durch formale Garantien schulischer Leistungen bewältigbar sein, sondern mittels Akzeptanz durch die Lehrenden. Der Schulterschluss von Organisation und Profession bedarf des Nachweises der Relevanz der Veränderung, ausreichender Unterstützung für den Unterricht und eines respektvollen Umgangs miteinander. 502

      4.4.1 Zum Verhältnis von Unterrichtsorganisation und Prüfung

      Reifeprüfungen haben kompetenzorientiert zu sein, unabhängig davon, sie schriftlich oder mündlich abgelegt werden.503 Das Unterrichtsfach GSPB ist an den österreichischen AHS sowohl ein Pflicht- als auch ein Wahlpflichtgegenstand (WPG). Das Pflichtfach wird an den Langformen der Gymnasien und Realgymnasien von der 6. bis zur 12. Schulstufe unterrichtet und an den Oberstufenrealgymnasien von der 9./10. bis zur 12./13. Schulstufe.504 Die Stundentafel sieht für den gesamten Bildungsweg der Sekundarstufe eine Jahreswochenstunden-Bandbreite (JWST) von mindestens 12 und maximal 14 JWST vor. Je eine JWST ist in jeder der beiden Sekundarstufe schulautonom veränderbar, d. h., sie kann vom Fach abgezweigt und für standortbezogene Schwerpunktsetzungen verwendet werden. Der WPG ist in der Sekundarstufe II angesiedelt und kann zwei oder vier JWST umfassen. Besucht ein*e Schüler*in nebst dem Pflichtgegenstand analog den vertiefenden WPG, ist es möglich, dass er*sie auf 16 bis 18 JWST Geschichtsunterricht kommt. Die quantitativen Aspekte sind eingeschränkt steuerbar und von mehreren Faktoren (Schulwahl, Entschluss den WPG zu besuchen) abhängig. Der organisatorische Rahmen wurde von der Reifeprüfungsreform 2010 nicht berührt.

      In Österreich ist die GSPB-Reifeprüfung ausschließlich mündlich und individuell konzipiert. Die Aufgaben werden von der klassenführenden Lehrperson zusammengestellt und entstammen einem Themenpool, der von der gesamten Fachkollegenschaft der Schule für eine oder mehrere Klassen eines Jahrgangs beschlossen wird. Die Anzahl der im Unterricht zu erarbeitenden Themen korreliert mit den zur Verfügung stehenden JWST dergestalt, dass wahlweise zwei oder drei zu behandelnde Themenbereiche das Äquivalent für eine JWST bilden. Die Menge der zu erarbeitenden Prüfungsthemen kann daher zwischen acht (ein WPG zu vier JWST) und 18 (Pflichtfach zu acht JWST) schwanken.505 In beiden Fällen wird eine Reifeprüfung mit derselben rechtlichen Qualität (Studienberechtigung) abgelegt, weil es nicht mehr um den Nachweis des Beherrschens von Stoffquantitäten geht,506 sondern um historische Denkprozesse und die Exploration von Elementen des Geschichtsbewusstseins. Da die zu messenden Kompetenzen nicht nur im WPG erworben, sondern maßgeblich mittels Regelunterrichts aufgebaut werden, müsste der*die Kandidat*in den geforderten Nachweis ihrer Anwendung auch dann zu erbringen vermögen, wenn die Prüfung ihren Ausgangspunkt vom WPG nimmt.507 Die Anzahl der zu erlernenden Themen hängt daher, so die Annahme, hauptsächlich von der Bildungsplanung der Schüler*innen ab,508 in einem eingeschränkten Maß aber auch von autonomen Schwerpunktsetzungen der Schulen.509 Die meisten Kärntner Gymnasien bieten das Pflichtfach mit sieben JWST (14–18 Themen) an.

      In Österreich hat jede Lehrperson die Freiheit der Wahl der Unterrichtsmethoden, um den Bildungsertrag sicherzustellen.510 Die Bildungsziele sind Produkte eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, werden in den Lehrplänen festgelegt und verpflichtend vorgegeben. Daher gilt es, die legistischen Bedingungen und deren Bedeutung für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht zu erörtern. Jede Lehrperson, die vor die Aufgabe gestellt ist, eine Reifeprüfung abzuhalten, hat in der inhaltlichen Vorbereitung und der Durchführung der Prüfung drei autoritative Ebenen – das „dreifache(s) Konformitätspostulat“511 – zu berücksichtigen, nämlich die gesetzlichen Bestimmungen, die daraus erwachsenen Verordnungen und die Empfehlungen für die Unterrichtspraxis. In Österreich ist die gesetzliche Grundlage des Unterrichts im öffentlichen Schulwesen das Schulunterrichtsgesetz (SchUG) aus 1962, ein Rahmengesetz, das u. a. das „abschließende Prüfungswesen“ regelt. Mit der Novelle vom 19. Juli 2010 wurde es geändert, um die Reifeprüfung in einigen Fächern zu zentralisieren, eine verpflichtende abschließende Arbeit mit semi-wissenschaftlichem Charakter zu implementieren und kompetenzorientierte


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