Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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und in die Konstruktion einer Geschichte mündet. Die Erzählung muss triftig sein, ergo empirisch abgesichert, normativ akzeptabel und plausibel. Die Graduierung hat das Zusammenwirken der Elemente im Prozess zu berücksichtigen.417

      Auf „Nullniveau“ befindet sich ein Individuum, wenn ihm nicht bewusst ist, dass Quellen Informationen über Vergangenes liefern, aber keine Fähigkeit oder Bereitschaft besteht, anhand der Relikte Fragen an die Vergangenheit zu richten und mit Hilfe der Erkenntnisse sinnbildende Erzählungen zu konstruieren. Es gelingt nicht, Geschichte zur eigenen Orientierung zu verwenden. Das „basale Niveau“ ist erreicht, wenn einzelne Aussagen von Quellen erkannt und genutzt werden. Es wird nicht zwischen Informationen aus Quellen und Fachliteratur bzw. Produkten der Geschichtskultur unterschieden. Fragen an das Material werden unspezifisch gestellt, kaum reflektiert und sind nicht zwingend an ein Orientierungsbedürfnis gebunden. Daher haben sie auch nicht notwendigerweise das Ziel, eine verfahrensgeleitete Bearbeitung des Materials anzuleiten, der Orientierungsnutzen für die Gegenwart ist limitiert. Auf „intermediärem Niveau“ befindet sich das Individuum, sobald es über einen konsistenten Quellenbegriff verfügt und die Quellen, unter Berücksichtigung ihrer gattungsspezifischen Merkmale, inhaltlich selbstständig auswerten kann. Dazu bedarf es der Fähigkeit, Fragen erkenntnisleitend zu stellen und sich über deren Perspektivität sowie die Partikularität der erwarteten Ergebnisse im Klaren zu sein. Aus ihr erwächst die Fertigkeit, Inhalte analytisch zu erheben und sie mit Hilfe der Ergebnisse der Forschung zur Konstruktion einer Narration heranzuziehen. Es wird das Bewusstsein evident, dass historische Erzählungen Konstrukte sind. „Elaboriertes Niveau“ ist erreicht, sobald der konventionelle Quellenbegriff relativiert, der Nutzen und der Charakter der Quelle selbstständig eingeschätzt und das Material autonom erschlossen werden kann. Nötig ist die Fähigkeit, Fragen so zu stellen, dass das Erkenntnisinteresse eine Reflexion eigener Identität und persönlichen Weltverständnisses ermöglicht. Es erwächst die Einsicht, dass unterschiedliche Kontextualisierungen erfolgen können, die differente Narrationen zur Folge haben. Wesentlich sind Bezüge zum Orientierungsbedürfnis und Triftigkeit.418

      Kontextualisierungs- („Narrations“-) Kompetenz:

      Das Vermögen, Geschichte sinnbildend zu erzählen, wird von FUER nicht als eigener Kompetenzbereich gesehen, sondern als eine Fähigkeit und Fertigkeit der Re-Konstruktionskompetenz. Laut FUER berührt das alle Kompetenzbereiche. Im Fokus der Kontextualisierungsfähigkeit steht das Vermögen, für die Konstruktion eigener historischer Erzählungen den Forschungsstand und die Ergebnisse von wissenschaftlicher Material-Analysen kritisch reflektierend zu berücksichtigen und das Resultat mit den Ergebnissen eigener De-Konstruktionsvorgänge sinnbildend zu einer historischen Erzählung zu verbinden. Für deren Erstellung sind die Wahl der Gattung, die Berücksichtigung der epistemologischen Prinzipien und die Triftigkeit der Erzählung von Bedeutung.419

      Auf „Nullniveau“ befindet sich die Fähigkeit der Kontextualisierung bzw. Narrationsbildung, wenn kein Bewusstsein über die Notwendigkeit der Einbeziehung von Aussagen von Quellen und Darstellungen in die eigene Erzählung vorhanden ist. Historische Aussagen sind Zufallsprodukte ohne Orientierungsbedürfnis und leitende Fragestellung. „Basales Niveau“ ist erreicht, wenn Informationen aus Quellen oder Darstellungen willkürlich für die eigene Erzählung herangezogen werden, wobei zwischen den beiden Kategorien nicht unterschieden wird und die Auswahl der Inhalte eher zufällig erfolgt. Die Narration hat fragmentarischen Charakter und ist ansatzweise plausibel. Auf „intermediärem Niveau“ entsteht ein denkmögliches Produkt der Sinnbildung, wenn es unter einer Fragestellung steht, einem Orientierungsbedürfnis folgt, eine Gattung nutzt und sich das Individuum der Partialität und Perspektivität des verwendeten Materials bewusst ist. Fachbegriffe werden korrekt verwendet, eine Geschichte wird schlüssig erzählt. „Elaboriertes Niveau“ ist erreicht, sobald die Theorie Einfluss auf die Konstruktion der Erzählung nimmt und es gelingt, die Triftigkeit der Narration, gemessen an der Fragestellung und der Intention, nachzuweisen. Außerdem müssen Bereitschaft und Fähigkeit gegeben sein, Ergebnisse und Konsequenzen zu diskutieren sowie alternative Perspektiven und daraus erwachsene Erzählungen kritisch zu reflektieren. Es gibt die Einsicht, dass Vergangenes bei unterschiedlicher Kontextualisierung differierende triftige Narrationen zur Folge haben kann, weil es einen ursächlichen Konnex zwischen Fragestellung und Art der Kontextualisierung gibt. Ein „Maximalniveau“ wurde nicht beschrieben.420

      Im Zentrum der fachlichen Kritik steht das von FUER selbst eingeräumte Fehlen einer Systematisierung der Lernprogression. Heil würdigt den ausdifferenzierten Graduierungsparameter (Komplexität, Reflektiertheit, Reflexivität, Bewusstseinsgrad, Abstraktion, Selbstständigkeit, Transferweite, Validität, Schematisierung) und die Niveau-Beschreibungen als „richtungsweisend“. Sie seien allgemein ausgeführt und determinierten daher nicht Performanzen. Es sei sowohl eine formale als auch eine konkrete Logik dargestellt, samt Indikatoren für das Erreichen der Niveaus und Möglichkeiten einer kriteriengeleiteten Überprüfung (Operatoren). Die allgemeinen erkenntnistheoretischen Stufungsbegriffe (a-konventionell, konventionell, trans-konventionell) erscheinen ihm sinnvoll historisch konkretisiert worden zu sein. Daher biete es „[…] Kompetenzbeschreibungen, die den sachlogischen Aufbau und damit die sukzessive Entwicklung der Kompetenz deutlich machen“.421 Für standardisierbar hält er das System nicht.422 Pandel betrachtet das Feststellen von Kompetenzprogression anhand von anthropologischen Konzepten mit Skepsis. Das Geschichtsbewusstsein sei ein „[…] hoch komplexes kulturelles Konstrukt aus verschiedenen Dimensionen, die eine jeweils eigene Genese haben“,423 sodass seine Entfaltung nicht planbar ist. Außerdem könne die psychologische Entwicklung von Menschen bis zu vier Jahren differieren. Thünemann sieht die ungeklärte Frage der Kompetenzmessung als eines der vier Grundprobleme der gesamten Kompetenzdebatte an.424 Sie sei ohne die Modellierung von Wissensformen und die Lösung des Problems der Integration von Wissen in das System der Kompetenzorientierung nicht machbar. Er hält den Vorschlag von FUER, sich an Konventionen zu orientieren, in offenen Gesellschaften für problematisch.425 In radice abgelehnt wird das systematisierte Graduieren von Kompetenzen von Markus Daumüller.426 Aus seiner Sicht besteht die fundamentale Schwäche der Kompetenztheorie von FUER in der Herleitung des theoretischen Rahmens aus der Pädagogik und einer bildungspolitischen Ordnungsidee samt deren Vorstellung von Lernen. FUER ignoriere die Individualität der Persönlichkeit und damit des jeweiligen Geschichtsbewusstseins zugunsten der Herstellung einer gesellschaftlich „erwünschte (n) Mündigkeit“.427 Es gehe FUER „[…] weniger um Bildung, sondern um den Duktus von Wissenschaft, dem Bildung einfach unterstellt wird. […], ein Konzept der Planbarkeit von Bewusstseinsvorgängen und Planen wird daher unwillkürlich zum Zweck des Denkens.“428 Aus der grundsätzlichen Ablehnung des Modells ergibt sich auch die Zurückweisung der Graduierungstheorie.

      Die abschließende Prüfung des allgemein- und berufsbildenden Schulwesens in Österreich heißt seit 2012 offiziell: „Teilstandardisierte, kompetenzorientierte Reifeprüfung“.429 Seit 1853 gilt die Matura als Berechtigungsprüfung zur Aufnahme von Studien an Akademien, Hochschulen und Universitäten. Sie attestiert den Absolvent*innen Hochschulreife, i. e. Studierfähigkeit. Aufgrund der juridischen Wirkung, aber auch wegen der Tradition und des ritualisierten Ablaufs, genießt das Examen ein hohes Ansehen in der Gesellschaft und steht in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Änderungen der Reifeprüfung sind bildungspolitisch sensible Materien.

      Ausgangspunkt des säkularen Bildungswesens in Österreich waren die Reformen des Ministeriums Thun-Hohenstein zur Mitte des 19. Jahrhunderts.430 Das Gymnasium war vor 1848 eine sechsjährige, meist kirchliche Bildungseinrichtung, organisiert nach dem Klassenlehrerprinzip, die mit einem Jahreszeugnis abgeschlossen wurden. Ein zentrales Anliegen der Bildungsreform 1848–1853 war es, ein zeitgemäßes staatliches Gymnasium, konzipiert auf der Grundlage


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