Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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als Hilfsmittel auf, dessen Funktion darin besteht, historisches Denken weiterzuentwickeln, sodass ein selbstreflexives Geschichtsbewusstsein aufgebaut werden kann, war vorab die Frage zu klären, in welcher Hinsicht Formen historischen Denkens qualitativ und quantitativ zu unterscheiden wären. Von zentraler Bedeutung war es daher, ein für die Kompetenzbereiche und Teilkompetenzen gemeinsames Kriterium, den Graduierungsparameter, eine „allgemeine(n) Vorstellung, worin sich elaborierte Formen dieses Denken-Könnens von basalen unterscheiden“341 zu finden.

      Da es bei der Unterscheidung von Niveaustufen auch um die Gewährleistung einer „empirisch abgesicherte(n) Einschätzung der Realisierbarkeit“342 geht, haben die Wissenschaftler ihren Blick bei der Suche nach Graduierungsparametern zunächst auf Verfahren der empirischen Sozialforschung gerichtet, die in anderen Fächern zur Messung von Bildungsstandards herangezogen wurden. Als zweckmäßigste Methode zur Untersuchung von Lösungshäufigkeiten standardisierter Aufgaben unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade galt Anfang der 2000er Jahre die probabilistische Testtheorie nach Georg Rasch,343 ein statistisches Verfahren, das die Interpretation von Aufgaben-Eigenschaften ermöglicht, sodass Rückschlüsse auf Kriterien gezogen werden können, mit deren Hilfe man Kompetenzniveaus abzugrenzen vermag. Das Ergebnis ist eine statistische Normierung in einem eng abgesteckten Rahmen. Für das Einstufen historischen Denkens ist diese Methode aus folgenden Gründen nicht zielführend: (1) Denkoperationen müssten sich valide und reliabel in Aufgaben abbilden lassen. Das hätte, wegen der nötigen Beachtung des Aspekts der Abhängigkeit des Verständnisses von der Perspektive des/der Probanden*in, individuelle Aufgaben erfordert. (2) Es bestehen prinzipielle Zweifel, ob statistische Mess-Systeme in der Lage sind, Fähigkeiten erheben zu können, wenn die Aufgaben nicht an die didaktische Theorie angebunden sind. (3) Laut Testtheorie können Daten nur dann genutzt werden, wenn eine Aufgabe als gelöst zu betrachten ist. Damit würden perspektivische, kulturelle und lebensweltliche Aspekte des*der zu Testenden aus dem Blick fallen, wenn eine Aufgabe nicht hat bewältigt werden können, obwohl Denkprozesse vollzogen worden seien. Sie müssten negiert werden. (4) Da statistische Normierung eine Lösung „typischer“ Aufgaben erfordert, kommt die Reflexion der eigenen Situation und der individuellen Perspektive auf den Sachverhalt nicht zum Tragen. Dazu tritt die Einsicht, dass es in Reflexionsmaterien keine „richtige“ Lösung geben kann. (5) Zufriedenstellend überprüfbar seien fachwissenschaftliche Kenntnisse und das Wissen um Operationen nur durch die Analyse von Kontextwissen.344 Daten- und Faktentests würden dem Kompetenz-Paradigma widersprechen.345 (6) Bei der Anwendung probabilistischer Verfahren ist es unerlässlich, einen feststehenden Aufgabenpool für alle denkbaren Schwierigkeitsgrade zu schaffen. Das ist weder praktikabel noch wünschenswert.346

      Da Kompetenzanalysen nach probabilistischen Verfahren ausschieden, entschloss sich die Gruppe FUER auf die Suche nach Qualitätsunterscheidungen zu gehen, um ein Kriterium der Differenzierung von Kompetenz-Niveaus formulieren zu können. Dazu wurden vier gängige, facheinschlägige Methoden untersucht. (1) Der den deutschen und österreichischen Geschichtsunterricht dominierende chronologische Aufbau nach Epochensequenzen347 hat die „[…] Gewinnung eines Verständnisses sowohl der inneren Logik der einzelnen Epochen bzw. Zeiten einerseits als auch der Veränderungen zwischen ihnen und damit des Gesamtverlaufs der Geschichte andererseits […]“348 zum Ziel. Dieser Ansatz ermögliche zwar traditionale oder exemplarische Sinnbildungen, aber keine erkenntnistheoretisch validen Darstellungen, aus der Kompetenzen ableitbar wären, schon gar nicht nach Entwicklungsgraden.349 „Gerade historische Kategorien und Zeitverlaufsdarstellungen werden somit nicht explizit thematisiert und die Verfügung über sie wird gerade nicht gefördert.“350 (2) Als ebenso ungeeignet wird das in der Forschung häufig propagierte Darstellungsmodell des „thematischen Längsschnittes“351 befunden, denn eine Niveau-Unterscheidungslogik lässt sich damit nicht finden. Das Verfahren habe aber das Potenzial, zur Grundlage der Konzeption eines Kompetenz-Entwicklungsmodells zu werden. (3) Die von Proponenten der Fachdidaktik vorgeschlagene Variante einer gegenläufigen Chronologie („regressive Verfahren“)352 impliziert das Kriterium der Perspektive, bietet darüber hinaus aber für eine umfassende Niveaustufenbestimmung von Kompetenzen wenig Anhaltspunkte. Es würden sich zwar mit jedem Rückschau-Schritt Teilkompetenzen (Alterität der Phänomene, Strukturen, Handlungslogiken etc.) aufbauen lassen, trotzdem erscheint eine Niveau-Unterscheidung nur anhand der Schwierigkeitsgrade der Aufgaben möglich. (4) Ähnliche Bedenken gelten für die methodischen Zugänge Fallprinzip und Querschnitt, denn der Fokus auf einen engen Zeitraum würde es nicht gestatten, „[…] aus sich heraus eine Lernentwicklung zu begründen.“353 Beide Verfahren seien zudem tendenziell unhistorisch. Es gebe durch die Beschäftigung mit mehreren parallel beobachteten Fällen nicht a priori eine qualitative Bewusstseinsänderung. Damit boten auch gängige methodischen Verfahren keine Anhaltspunkte für einen Graduierungsparameter.354

      In einem dritten Schritt untersuchten die Wissenschaftler von FUER die bis 2005 publizierten didaktischen Modelle auf Graduierungsvorstellungen, weil additives Geschichtelernen (Erarbeitung geschlossener Wissensbestände, Einsichten, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kategorien mittels Aneinanderreihung zu behandelnder Themen) von keiner fachdidaktischen Richtung als kompetenzbildend angesehen wurde. So erkennt man im „Berliner Rahmenlehrplan“ die Propagierung einer zunehmenden Selbstständigkeit von Denkvollzügen als mögliches Graduierungskriterium, das auf verschiedene Bereiche anwendbar sei und daher mit validen Vorstellungen historischen Denkens und Lernens kompatibel wäre. Ein „mittleres“ und ein „oberes Niveau“ ließe sich abgrenzen. Kritisiert wird, dass das Modell nicht „Denken an sich“, sondern selbstständiges Denken im Kontext Unterricht meint.355 Das System der AFB (EPA) würde zwar eine Stufung sichtbar machen, indem „[…] eine zumindest teilweise Hierarchisierung der Anforderungen erkennbar (ist), die für eine Graduierung der Kompetenzniveaus genutzt werden kann“,356 allerdings biete EPA keine valide Differenzierung von Niveaus, sondern eine von Bereichen, d. h., es fehlt gerade der Aspekt der „Unterscheidung der Niveaus über die zur Bewältigung der Aufgaben nötigen Kompetenzen“.357 Als relevant beurteiltet FUER sowohl die Graduierungsideen des Modells der „Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung“ (GPJE)358 als auch die implizite Graduierungslogik des „Kerncurriculums für Sozialwissenschaften“.359 Im Politikdidaktik-Modell seien Parameter genannt,360 müssten aber erst gestuft werden, was gelingen könne, sofern eine Logik und Systematik entwickelt werden würde. Das sozialwissenschaftliche Kerncurriculum weise eine Entwicklungslogik auf, die sich aus mehreren Parametern aufbaut,361 und es gebe Progressionen, die an Altersstufen gebunden sind, sodass die Logik altersadäquate Graduierungen ermögliche. Als genereller Graduierungsparameter kämen beide Systeme nicht in Frage, denn sie seien zu stark auf „Output“ hin ausgerichtet, sodass die Gefahr bestehe, dass nur testorientiert gelehrt werde. Ein alternatives Stufungsmodell aus dem Kerncurriculum unterscheidet politische Verhaltensweisen nach „Aktivitätsgraden“. Es hat den „kritischen Bürger“ im Blick und beschreibt dessen Niveaustufen im Umgang mit Politik: die Bereitschaft, sich zu informieren und Urteile zu bilden (passive*r Begleiter*in politischen Geschehens) und Interventionsfähigkeit (mittleres Niveau).362 Im Idealfall würde daraus ein*e „Aktivbürger*in“ (oberstes Niveau). Diese Graduierung ist nicht altersabhängig und die Grade seien an Dimensionen gebunden, sodass das Modell auf Geschichte umgelegt werden könnte. Die Ausdifferenzierung der Fähigkeiten zur Umsetzung fehlt jedoch.363 Schließlich untersuchte die FUER die Ergebnisse der Kompetenzaufbauforschung in England und stellten fest, dass das gut entwickelte und normierte System des „National Curriculum“ keine Hinweise auf Niveaus bietet. Es würde „[…] lediglich relative Veränderungen ohne jegliche Fixierung von Niveaus“364 zeigen, also Phasen des Umgangs mit Geschichte beschreiben. Das Standard-Modell befand berücksichtigt qualitative Veränderungen einzelner Dimensionen historischen Denkens, wenn auch die Konzepte ziemlich chronologisch angelegt seien. Körber weist darauf hin, dass eine explizit fachliche Entwicklungslogik aber auch hier fehlt, sodass für jedes Teilkonzept eigene Progressionsmodelle nötig wären.365 Summa summarum ergaben die umfangreichen Recherchen der Gruppe FUER weder im Bereich der Empirie noch der Vermittlungsmethoden oder der fachdidaktischen Modelle befriedigende Ergebnisse, sodass daraus einheitliche Graduierungsparameter


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