Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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in der Frage der Klärung des Stellenwerts von Wissen unter Druck gesetzt.270 Sander weist darauf hin, dass der politische Entschluss, Kompetenzorientierung zum leitenden Unterrichtsprinzip zu erheben, das gängige Unterrichtsziel der Abarbeitung von Stoffkatalogen hat obsolet werden lassen.271 Markus Bernhardt, Ulrich Mayer und Peter Gautschi pflichten dieser Einschätzung bei, wenn sie die Funktion kanonisierter Wissensbestände primär der Selbstvergewisserung sozialer Eliten zuschreiben, denen es darum geht, mittels Canones die eigenen Interessen im Schulunterricht repräsentiert zu sehen. Der Kanon ist per definitionem gedeutet, er manipuliert daher und findet seine gesellschaftliche Rechtfertigung in dem diffusen Bildungsanspruch, den Schüler*innen vorüberlegte Instrumente in die Hand zu geben, um in der Öffentlichkeit „mitreden“ zu können.272

      Einen viel beachteten Vorschlag zur Beseitigung des dargestellten Theoriedefizits zur Frage der Beschaffenheit jenes Wissens, das nötig ist, um historisch kompetent zu sein, stammt von Sander. Rüsen folgend empfiehlt er der Geschichts- und Politikdidaktik die Aneignung des kognitionspsychologischen Begriffs „Konzept“ zum Zweck des Fassens des Gehalts von Wissensbeständen im System kompetenzorientierten Unterrichtens. Dieser Begriff fasst das Ordnen sinnlich wahrgenommener Eindrücke, deren Interpretation und die Verknüpfung der beiden mentalen Vorgänge: „Ein Konzept ist der Versuch, etwas zu verstehen und erklären.“273 Und ein Konzept ist integrativ angelegt. Es beinhaltet Alltagswissen und Forschungswissen, es ist unscharf und zeigt eine subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit. Es gilt so lange, bis es durch ein plausibleres ersetzt wird. Jedes Konzept besteht aus den Elementen Schema (Wissenseinheit zu bestimmten Aspekten), Script (Wissenseinheit zu Abläufen) und Modell (Darstellung der Zusammenhänge). In Funktion treten Konzepte in Verbindung mit Kategorien (dem „Objekt“).274 Gregory Murphy meint: „Concepts are the glue that hold our mental together”,275 denn sie würden das Erklären historischer Phänomene und Prozesse bedingen.276 In der Kognitionspsychologie herrscht Dissens zur Frage, ob der Terminus „Konzept“ in seiner Funktion als Wissensbegriff alle Formen kognitiven Wissens erfasst. Während Murphy das so sieht, tritt Anderson für eine Differenzierung nach Factual, Conceptual, Procedual und Metacognitive Knowledge ein,277 eine Separierung, deren Sinnhaftigkeit sich Sander nicht erschließt.278 Gautschi und Kühberger folgen hingegen Anderson, der drei Arten von Wissen propagiert, die im Unterricht einzuüben und anzuwenden sind: deklaratives Fachwissen (Denkinhalte aus Bedeutungsnetzen), prozedurales Wissen (Denkinhalte aus Operationen), metakognitives Wissen (Spiegelung eigener Wissensbestände durch andere).279 Aufgebaut werde das historische Wissen mit Hilfe der Fähigkeit zur Verknüpfung von Begriffen mit Konzepten. Das Resultat materialisiere sich in der Performanz. „Die Performanz besteht nicht einfach aus Wissen, sondern ist das Ergebnis der Verfügung über Wissen.“280 Daher ist ein zentraler Vorgang beim Wissenserwerb die Entwicklung von Begriffskompetenz. Sie umfasst die Fähigkeit, Inhalte von Fachbegriffen zu erklären, die Begriffe mit historischem Kontext, aber auch mit eigenen Vorstellungen zu verbinden und zu bewerten, sie adäquat zu verwenden, zu erweitern, zu differenzieren und zu adaptieren.281 Erst im Vorgang der Verknüpfung kognitiv erworbener Begriffe mit Konzepten wird Wissen aufgebaut. Dabei vollzieht sich historisches Lernen und es entsteht Orientierungskompetenz.282 Die Fähigkeit, eigenständig Wissensbestände einzuordnen und zu bewerten, Wissen also nicht nur wiederzugeben, ist für Bernhardt et all. Ausdruck kompetenten Umgangs mit Wissen. „In dieser Reflexion besteht sogar die einzig mögliche Sicherung des Wissens, denn erst hier findet eine Objektivierung der äußerlichen, vermeintlich wahrnehmungsabhängigen Daten statt.“283 Sander schlägt für die schulische Praxis die Übernahme der in den USA entwickelten Idee der „Basic Concepts“ vor, die grundlegende Annahmen, Deutungen und Erklärungsmodelle der Schüler*innen umfassen. Das dafür nötige Fachwissen wird als „konzeptionelles Deutungswissen“284 bezeichnet. Ihm kommt die Funktion zu, den Ausgangspunkt für Lernvorgänge zu bilden.285 Ziel von Unterrichtsarbeit ist die schrittweise substanzielle Verbesserung der Basiskonzepte. Sie sind jene „[…] Vorstellungsräume, die einerseits für das Weltverstehen des Faches von struktureller Bedeutung sind, von denen aber andererseits angenommen werden kann, dass Schülerinnen und Schüler mit ihnen bereits konzeptuelle Vorstellungen verbinden.“286 Sander weist auch darauf hin, dass das Argument, es bedürfe im Unterricht des Aufbaus eines chronologischen Überblicks über die Geschichte und eines Grundgerüsts an Daten, um in einem weiteren Schritt kompetenzorientiert arbeiten zu können, einen Trugschluss darstellt, weil die Idee der Präsentation eines Überblicks per se bereits ein Basiskonzept ist. Vor dem Hintergrund zeitökonomischer Erfordernisse und des Anliegens, Wissen so rasch als möglich im reflektierenden Umgang mit Geschichte zu nutzen, sei es jedoch wenig zielführend, eigens am Konzept „Grundwissen“ zu arbeiten.287

      „Der Historiker weiß nie genug“.288 Von diesem Ondit ausgehend, entwickelt Bodo v. Borries seine Vorstellung davon, was „Wissen“ im kompetenzorientierten Unterricht sein kann. Es sei keinesfalls auf Daten („Gegebenes“) und Fakten („Handlungen“) reduzierbar, sondern müsse „Kenntnisse“ umfassen, die evidente Vergangenheitspartikel in „akzeptierte Ordnungssysteme“ (z. B. Abläufe, Begriffskonzepte, Kontextualisierungen etc.) integrieren.289 FUER orientiert sich an diesem Axiom, wenn es seinem Kompetenz-Strukturmodell sowohl die Theorie der Basiskonzepte zu Grunde legt,290 als auch Anderson et all. folgt, indem die drei Formen kognitiven Wissens (Konzeptwissen, Verfahrenswissen und metakognitives Wissen) in den Fokus der theoretischen Betrachtung genommen werden und das Modell deren integrative Anwendung in der Mechanik des Kompetenzaufbaus (Lernen) empfiehlt. Weil es FUER um die „[…] erinnernde Vergegenwärtigung in ihrer theoretischen Struktur, kategorialen Fassung und sprachlichen Form“291 geht, hat man einen eigenen Kompetenzbereich entworfen, der Wissen gewidmet ist (Sachkompetenz). Man verweist aber nachdrücklich darauf, dass Sachkompetenz ein integraler Bestandteil jedes Kompetenzbereichs ist und somit Wissen keinen separaten Kompetenz-Status aufweisen kann. Es gehe um das Verfügen über Begriffe, um die Kenntnis von Strukturen und Kategorien, deren Logiken, deren Klassifizierung und deren Nutzung. Ziel sei nicht eine Ansammlung von deklarativen oder prozeduralen Wissenspartikeln, sondern die Unterstützung historischen Denkens durch das Ermöglichen von Erfahrungen und Entdeckungen und von mentalen Orientierungsprozessen.292 Die beiden Kernkompetenzen der Sachkompetenz (Begriffs- und Strukturierungskompetenz) sollen Menschen in die Lage versetzen, „[…] die Domäne mit Hilfe dafür relevanter Begrifflichkeiten in Bezug auf Theoretisches, Subjektbezogenes, Inhaltliches und Methodisches zu strukturieren. […]. Als historisch strukturierungskompetent hat also der zu gelten, der über zur Strukturierung genutzte historische Begriffe auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau verfügt und sich ihrer funktionalen Bedeutung für die Systematisierung der Domäne bewusst ist.“293 Borries erscheint dieser Zugang zweckdienlich, weil es der individuellen Entscheidung des Lehrenden unterliegt, anhand welcher Themen historisches Denken eingeübt wird. Die Auswahl ist notgedrungen der Willkür unterworfen, sodass eine zu konstruierende Erzählung stets neu durch die Aspekte Partikularität, Selektivität und Perspektivität determiniert sein wird. Der eigentliche Wissensaufbau sei die „,[…] Herstellung von Zusammenhang und Gewichtung des gesicherten Materials, […], dessen Verknüpfung und Vergleichung mit der Umgebung und anderen Themen“.294 Die Rolle des Wissens besteht darin, Einsichten zu ermöglichen, indem Schüler*innen Erkundungen vornehmen können, die aus einem „[…] Mix herkömmlicher Thematisierungen […] und völlig überraschenden Erkundungen […] mit sicheren Verfahrensweisen und offenen Kategorien“295 bestehen.296 Waltraud Schreiber spricht in diesem Zusammenhang von „intelligentem Wissenserwerb“297 und Bernhardt et all. vom Aufbau von „individuellen historischem Wissens“.298 Schüler*innen würden auf diese Weise lernen, historische Erzählungen zu konstruieren, die an persönlichen Orientierungsbedürfnissen Maß nehmen, sodass die Narrationen in einem wachsenden Maß Lebensbezüge aufweisen. Die Rolle der Schule besteht in der Vermittlung der „Erschliessungskompetenz“,299 also in der Unterstützung der Entwicklung der Fähigkeit zur Aneignung von Wissen und in der Heuristik. Waltraud Schreiber erscheint es akzidentiell,


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