Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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Die Modelle transferieren allgemeine Prinzipien der Standardisierung in das jeweilige Fach und machen den Prozess des Kompetenzaufbaus sichtbar. Abhängig von Ziel und Funktion, differenziert die Theorie zwischen drei verschiedenen Modelltypen: „Strukturmodelle“ geben dem Gefüge der Kompetenzen, Teilkompetenzen, Niveaustufen und Inhalte eine Ordnung und einen Rahmen. „Entwicklungsmodelle“ leiten aus den Strukturmodellen Wege des Kompetenzaufbaus und der Kompetenzentwicklung für die Bildungsarbeit ab und beschreiben diese. „Konfigurationsmodelle“ bilden das Zusammenwirken der Kompetenzen, mitunter auch die deren Interaktion aus verschiedenen Modellen, ab. Fachspezifische Modelle schaffen somit die Grundlage für fachliche Lernprozesse, leiten Vorgänge zum spezifischen Kompetenzerwerb an und weisen Bildungsplänen und Curricula, Wege, wie die Modellierungen in die praktisch umzusetzen sind. Die Kompetenzmodelle haben demnach eine didaktische, keine evaluierende Funktion.149 Während des Modellierungsprozesse galt es, zwei Aufgaben zu bewältigen. Einerseits sollten die Modelle so konstruiert werden, dass sie dem zentralen Anliegen der historischen Bewusstseinsbildung gerecht würden. Andererseits war die Wissenschaft gefordert, vorhandene Forschungsergebnisse zu systematisieren und idealtypische Konzepte und Kategorien in eine für die Schule operationalisierbare Theorie zu verarbeiten.150 Angesichts des Zeitdrucks151 und der Notwendigkeit, den Unterricht neu zu denken, erwies sich die Bewältigung dieser Aufgabe als ambitioniertes Projekt.

      2003/04 beschloss die KMK die Einführung von Bildungsstandards in Deutschland.152 Das war für die Geschichtsdidaktik der Anstoß dafür, die Kompetenzmodellierung auf ihre Agenda zu setzen. Zwar hatte sich die „Konferenz für Geschichtsdidaktik“ dem Ansinnen, fachspezifische Kompetenzmodelle zu erarbeiten und Standards zu formulieren, lange verweigert. Jene Wissenschaftler, die sich der Aufgabe stellten, konnten aber auf die Vorarbeiten ebenso zurückgreifen153 wie auf internationale Erfahrungen. Als unstrittig erwies sich von Beginn an die Grundsatzentscheidung, die Reformdynamik dafür zu nutzen, das Fach Geschichte im schulischen Kontext neu zu positionieren, um dessen Marginalisierung in Fächerbündeln oder seine Absorbierung durch Nachbardisziplinen hintanzuhalten. Zugleich wurde mit der Erarbeitung von Kompetenzmodellen innerdisziplinär die Erwartung verknüpft, bei Vorlage plausibler Konzepte die Position der Fachdidaktik im Diskurs mit der Fachwissenschaft zu stärken. Und es bot sich die seltene Gelegenheit, Innovationen auf Dauer in den Unterricht zu implementieren und so als Wissenschaft wirkmächtig zu werden. Schließlich erwartete man sich Gelegenheiten zum Austausch mit Bildungsforschung, Bildungspädagogik und anderen Fachdidaktiken, die der Klärung der Zusammenhänge und der Wechselwirkungen der Kompetenzvorstellungen dienen sollten. Eine Hürde stellte die Frage von Bildungsstandards dar, deren Einführung von der KMK mit dem Ziel einer „Output-Steuerung“ verknüpft worden war. Standards sollten sichtbar machen, „welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zur einer bestimmten Jahrgangsstufe in den wesentlichen Inhalten erworben haben sollten.“154 Die Systemfokussierung der Messung der Lernergebnisse erachtete die Geschichtsdidaktik als unbefriedigend. Sie hätte Standards in einem engeren Sinn präferiert, um aus den Messungen fachspezifische Diagnose- und Förderinstrumente entwickeln zu können. Da dies die intendierte Systemüberprüfung („Bildungsstandards im weiteren Sinn“155) nicht zuließ, sollte es eine zusätzliche Aufgabe sein, die eigenen Modelle so zu gestalten, dass sie sowohl den Interessen des Bildungsmonitorings als auch dem Anliegen der Entwicklung einer Diagnose- und Förderkompetenz entsprachen. Andreas Körber meint 2007, der Reformprozess sei ein günstiges Momentum, um mit Hilfe einer „Vergewisserung über Grundkonzepte“156 einen Rückschritt in einen bloß inhaltszentrierten Kanon-Unterricht, wie er durch eine Standardisierung ohne Mitwirkung der Fachdidaktik befürchtet worden war, nachdrücklich hintanzuhalten. Schlussendlich hatte der Fachdidaktik auch die „Anschlussfähigkeit an eine bildungspolitische Entwicklung“157 ein Anliegen zu sein.158

      Die Idee, Kompetenzen zu modellieren, ist ab den 1980er Jahren in den USA und in Großbritannien entstanden. Nach dem Jahr 2000 erreichte dieser Trend Deutschland, die Schweiz und Österreich. Alle wesentlichen Initiativen waren vom Bestreben geleitet, Unterricht weiterzuentwickeln. Es entstand ein buntes Potpourri von Modellen und Begriffen, die die kontroversen Strömungen des fachdidaktischen Diskurses widerspiegelten. Für Körber ist es durch die Kompetenzdiskussion und der Erarbeitung der Modelle erstmals gelungen, die meisten Theoriebildungsprozesse auf den Unterricht zu fokussieren, und er hält das für eine gelungene Annäherung fachdidaktischer Wissenschaften an das schulische Geschehen.159 Demgegenüber findet Thomas Hellmuth, dass es die Vielzahl an Modellen den Lehrer*innen erschweren würde, Unterrichtsplanung an ihnen auszurichten.160 Die wirkmächtigsten waren:

      • The National Curriculum (1980er Jahre) in Großbritannien161

      • Content- and Performance-Standards (1996) in den USA162

      • Kompetenzvorstellungen der Lehrplanentwürfe aus Mecklenburg-Vorpommern (2002) und Berlin (2006/09)163

      • Kompetenzdefinition Michael Sauers und die Bildungsstandards des „Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands“ (2002 und 2005)164

      • Kompetenzmodell Hans-Jürgen Pandels (2005)165

      • Kompetenzmodell der „Einheitlichen Prüfungsordnung für die Abiturprüfung Geschichte“ (2005)166

      • Kompetenzmodell „Hinschauen und nachfragen von Peter Gautschi, Jan Hodel und Hans Utz (2006)167

      • Kompetenzstrukturgitter-Modell des Werner Heil (2010)168

      Darüber hinaus gibt es u. a. Kompetenzmodelle von Jannet van Drie und Carla van Boxtel (2008) oder von Wolfgang Hasberg (2010).169 Pandel meint, die Akkumulation des Prinzips der Kompetenzorientierung zu einem unterrichtsleitenden (Wissens-)Bildungsbegriff sei als „archimedischer Punkt der Kompetenzdiskussion“170 anzusehen. An ihm würden sich fachdidaktische Modelle festmachen, an ihm orientiere sich Unterricht in allen Schulstufen und aus ihm würden Mess-Systeme und Prüfungsverfahren erwachsen, von der Primarstufe bis zur Reifeprüfung und darüber hinaus.171

      Maßgebend für die österreichische Unterrichtsreform im Fach GSPB wurde das Kompetenz-Strukturmodell der Gruppe FUER Geschichtsbewusstsein. Im Jahr 2000 konstituierte sich ein internationales Projektteam an den Universitäten Eichstätt und Hamburg, bestehend aus Fachdidaktiker*innen und Lehrer*innen der Länder Deutschland, Schweiz, Österreich, Ungarn, Rumänien und Südtirol.172 Dem eigenen Selbstverständnis folgend, planten sie die Entwicklung eines Kompetenzmodells, das in prononcierter Weise der Förderung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Umgangs mit Geschichte verpflichtet war. Das Akronym „FUER“ ist programmatisch und nennt die Intention: Förderung Und Entwicklung Reflektierten Geschichtsbewusstseins.173 Um eine innere Schulreform zu initiieren und in Gang zu halten, betrieben die Wissenschaftler*innen Grundlagen-, Implementations- und empirische Forschung. Der erste Schritt der Theoriearbeit war die Entwicklung eines Kompetenz-Strukturmodells, das den richtungsweisenden Titel „Kompetenzen historischen Denkens“ tragen sollte, denn dem Modell wurde Geschichtstheorie die Rüsens zugrunde gelegt.174 Waltraud Schreiber begründet das mit der Absicht, „[…] die Prinzipien und Operationen des historischen Denkens der Geschichtswissenschaft als elaborierte Form des lebensweltlichen Umgangs mit Geschichte, welcher letztlich in der Orientierungsfunktion begründet ist“,175 didaktisch wenden zu wollen. Ausgangspunkt der Theoriebildung zur historischen Orientierung waren Rüsens Überlegungen zum genuinen Zweck historischen Lernens, die er 1983 in die Form eines Regelkreismodells („disziplinäre Matrix“) gegossen hatte. Die Darstellung des Zusammenhangs fachwissenschaftlicher und lebensweltlicher Prozesse, deren zentraler Vorgang Erkenntnissuche ist, mündet in den Akt der „Sinnbildung“, i. e. einem kreislaufartigen Prozesses der Wahrnehmung von Kontingenzen und Zeitdifferenz und der Deutung des Wahrgenommenen mittels narrativer Verknüpfung der Wahrnehmungs-Elemente, sodass daraus Erfahrungen – Erkenntnisse – erwachsen.176 Wahrnehmung wird in diesem Vorgang zur „[…] Initialzündung der Sinnbildungsprozedur des Geschichtsbewußtseins […]“ und damit zum Anstoß


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