Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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Fähigkeiten und Fertigkeiten die Fachdidaktik erst in jüngerer Zeit zu beschäftigen begonnen hat, existieren derzeit wenige Studien über das Verfügen fachlicher Kompetenzen bei Schüler*innen. Die frühen Untersuchungen des Bodo v. Borries stellen Lernstandanalysen dar, die das Repertoire an deklarativem Fachwissen zu klären vermögen, nicht aber Denkoperationen.28 Der Vorschlag Hans-Jürgen Pandels, mittels speziell konstruierter Aufgaben Analysefähigkeiten sichtbar zu machen, ermöglicht mentale Operationen ausschließlich zur Methodenkompetenz.29 Umfassendere Aufschlüsse über Denkprozesse bieten Studien von Johannes Meyer-Hamme, in denen mittels teilweise offener Aufgaben Kurzessays evoziert werden, die Einsichten in Denkoperationen ermöglichen.30 Prüfungsergebnisse wurden erstmals von Bernd Schönemann, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting im Zuge einer Analyse des deutschen Zentralabiturs in Nordrhein-Westfalen untersucht. Eine grundlegende Erkenntnis betrifft die eingeschränkte Eignung von Examen zur Bewertung von Operationen des Geschichtsbewusstseins, weil die mentalen Prozesse Laborsituationen entstammen (präformierte Denkoperationen; Prüfung bewältigen),31 nicht dem persönlichen Wunsch der Proband*innen nach Orientierung.32 Für österreichische Reifeprüfungen liegen derzeit keine Befunde zur Kompetenzeinschätzung vor.

      Forschungsfragen und Methode: Die vorliegende Studie will keine Fundamentalkritik am FUER-Modell formulieren, sondern berührt die Kategorien Ergebnis- und Wirkungsforschung, um empirische Evidenzen zur den Effekten einer Reform zu generieren.33 Ausgehend von der Annahme, dass es zur Agenda der Disziplin gehört, sich der Entwicklung fachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Schüler*innen zu vergewissern, ist es das Ziel herauszufinden, welche historisch-politischen Kompetenzen bei Kandidat*innen im Zuge der Geschichtsreifeprüfung an Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS – Gymnasien) in Österreich evident werden und in welchem Ausprägungsgrad das der Fall ist. Das inkludiert den Blick auf die Qualität der aktiven Entwicklung der im FUER-Modell wissenschaftstheoretisch formulierten Kompetenzvorstellungen in der Unterrichtspraxis und der Erreichung erwarteter Niveaus, nicht aber eine Fundamentalkritik an der (FUER-)Theorie. Weil der Reifeprüfung sowohl die Theorie von FUER als auch die der Anforderungsbereiche (AFB) zu Grunde liegt, hat die Analyse die Aufgabe, die vertikale Progression der einzelnen fachlichen Kompetenzen (Graduierungslogik von FUER) aus Performanzen abzuleiten, die einem Aufgabendesign entstammen, das eigentlich eine Steigerung der Leistung auf horizontaler Ebene („Bereiche“) vorsieht (Hierarchisierung der AFB). Um den Bedingungen gerecht zu werden, wird ein Mixed-Methods-Verfahren (qualitative und quantitative) angewandt.34 Zunächst werden die Performanzen anhand der Teilaufgaben (TA) entlang der AFB untersucht, um (Teil-)Kompetenzen nach FUER sichtbar zu machen, ohne dass Aufschlüsse über deren Entwicklungsgrad gewonnen werden. Dieser Schritt erfolgt mittels qualitativer Inhaltsanalyse, ergänzt durch spezielle quantitative Befunde. Danach wird der Ausprägungsgrad der erhobenen Kompetenzen festgestellt und mit den von FUER formulierten Erwartungen des Verfügens über fachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten (intermediäres Niveau; fachspezifische Konventionen) abgeglichen.35 Die Graduierung wird im Zuge eines Double-Rating-Verfahrens vorgenommen und die Interrater-Reliabilität durch die Berechnung des Cohen-Kappa-Werts festgestellt. Da es bis zum Zeitpunkt der Durchführung der vorliegenden Studie kein erprobtes Verfahren zur Einschätzung von Kompetenzniveaus im Zuge mündlicher Prüfungen gegeben hat, ist vorab ein geeignetes Instrumentarium zu entwickeln gewesen. Graduierungsparameter und Niveaustufenbeschreibungen entstammen der FUER-Theorie. Um den Spezifika der Reifeprüfung (mündliches Format mit vorgegebenem Design und kurzer Dauer) gerecht zu werden darstellt, ist aus der komplexen Theorie ein praxistauglicher Analyse-Leitfaden deduziert worden. Durchgeführt wird die Untersuchung anhand von 30 Performanzen des Maturajahrgangs 2015 aus Gymnasien des Bundeslandes Kärnten. Da sich die Proband*innen freiwillig zur Verfügung gestellt haben und die Untersuchung zeitlich und räumlich limitiert ist, handelt es sich um den Typus einer Ad-hoc-Studie. Erwartet wird, dass die Erkenntnisse die Konstruktion einer wissenschaftsgestützten Kompetenzevaluation im Rahmen der Leistungsfeststellung fördern.

      Die vorliegende Studie36 besteht aus einem Theorieteil und einer empirischen Untersuchung zusammen. Auf die Einleitung (Kapitel 1) folgt Kapitel 2, das den bildungspolitischen und wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmen ausleuchtet. Das 3. Kapitel befasst sich mit der Herleitung und kritischen Würdigung der Graduierungstheorie. Inhalt des Kapitels 4 ist die österreichische Geschichtsreifeprüfung (Verfahren), ihre Bedingungen und Einflussfaktoren. Kapitel 5 widmet sich dem Methodenproblem anhand von Beispielen von Kompetenzanalysen (methodische Zugänge, Forschungsfragen, Ergebnisse) und im Kapitel 6 wird das Forschungsinteresse der empirischen Untersuchung (Forschungsfragen) erläutert sowie das Forschungsdesgin beschrieben. Kapitel 7 lotet das Forschungsumfeld (Datenbasis) aus und stellt das Analyse-Instrumentarium zur Kompetenz-Erhebung sowie zur Einschätzung des Verfügungsgrads vor. Kapitel 8 widmet sich dem Untersuchungsdesign (Daten, Vorgangsweise, Material) und Kapitel 9 der Auswertung der Performanzen. Im Kapitel 10 schließlich werden die Ergebnisse zusammengefasst, miteinander verknüpft, interpretiert und Schlussfolgerungen daraus gezogen.

      Zu danken ist Univ.-Prof. Dr. Christoph Kühberger, der diese Studie angeregt und bis zur Publikation beratend begleitet hat, HS-Profin Dr.in Marlies Krainz-Dürr und dem Rektorat der Pädagogischen Hochschule Kärnten, Viktor Frankl Hochschule (PHK), das die Durchführung ermöglicht und gefördert hat sowie vielen helfenden Händen und Geistern aus der PHK und anderen Umwelten für Beratungen, Impulse, Kritik und technische Unterstützung. Namentlich genannt seien stellvertretend für viele HS-Profin Drin Isolde Kreis und Dr.in Almut Thomas, HS-Profin Dr.in Cornelia Klepp und Mag. Jürgen Ehrenmüller (Rating) und (Methoden) sowie Dr.in Angelika Trattnig (Lektorat). Ein herzliches Dankeschön gilt Sandra Unterwieser und Ulrike Kaiser, BA vom Sekretariat des Instituts für Sekundarstufenpädagogik und -didaktik der PHK für unerlässliche praktische Hilfe.

      2.1 Kompetenzen und Standards: Zwei kommunizierende Gefäße

      Das bildungspolitische Anliegen, Unterricht um der Verbesserung der Ergebnisse willen verändern zu wollen, ist dem „PISA-Schock“ geschuldet.37 Mit der Einführung des Unterrichtsprinzips der Kompetenzorientierung und einer teilweisen Standardisierung der Bildungsziele wurde und wird die Erwartung verknüpft, dass deren Wechselwirkung eine Dynamik zwischen „In- und Output“ auslöst, die zu den gewünschten Effekten führt. Um das nachzuweisen, müssen die Schüler*innen-Leistungen evident werden. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang die Übertragung von Governance-Verfahren in die Schule,38 wodurch der Reformprozess das Bildungssystem in toto (Individuen, administrative Gruppen, Organisationseinheiten) erfasst. Die Rolle der Bürokratie39 liegt in der Nutzung der Testergebnisse, um institutionelle Veränderungsprozesse zu initiieren.40 Obwohl zum Stellenwert der Überprüfung von Kompetenzentwicklung und zum Umgang mit den Daten zwischen Wissenschaft, Bildungspolitik und veröffentlichter Meinung Dissens herrscht, ist die Kompetenzmessung in der Schule Realität geworden. Folgt man Eckhard Klieme, sind sieben Kriterien zu beachten, die Kompetenzüberprüfung zu einem didaktischen Instrument formen, das sowohl valide Leistungsdiagnosen als auch individuelle Förderungen der Schüler*innen sicherstellt: Fachlichkeit (Grundprinzipien des Fachs), Fokussiertheit (wesentliche Kompetenzen); Kumulativität (Gültigkeit für die gesamte Bildungslaufbahn); Verbindlichkeit (Mindestvoraussetzungen, um an der Gesellschaft teilnehmen zu können); Differenzierung (Beobachtung der Kompetenzentwicklung); Messbarkeit (anwendbare Messinstrumente); länderübergreifende Wirksamkeit (Vergleichbarkeit). Klieme empfiehlt, auf die curriculare Validität von Testungen zu achten, das Instrument nicht inflationär anzuwenden und höhere kognitive Leistungen in den Fokus zu nehmen, um Lehrer*innen nicht das Gefühl zu vermitteln, ihre Professionalität geringzuachten.41 Sonst würden viele, vor die Wahl gestellt: (to) „choose between personal survival in the system or their student’s education“,42 die Absicherung ihres beruflichen Fortkommens dem Erfordernis, an der Entwicklung von Schüler*innen zu arbeiten, überordnen. Eine Beschränkung der Rückmeldung von Messergebnissen auf summativ erfasste Daten und deren tabellarische Vergleiche würde, ohne die Erkenntnisse in curriculare und didaktische Entwicklungsprozesse zu integrieren, Lehrpersonen unter Druck setzen und deren De-Professionalisierung


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