Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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Kuhn) beeinflussten Denken und dem des vom französischem Strukturalismus (Hans Süssmuth) angeleiteten – die Theoriedebatte.126 Wichtige Vorarbeiten zur Klärung des Verständnisses von Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht waren jedoch geleistet worden.

      Angelpunkt der Weichenstellung für die Hinwendung der fachdidaktischen Theorie zur Kompetenzorientierung war die Akzeptanz der Erkenntnis, dass historisches Lernen das Bewusstsein des Individuums beeinflusst und dass daher das Lernen verändert werden muss. Eingeleitet wurde die Entwicklung durch Proponenten der „analytischen Geschichtsphilosophie“.127 Die Überlegung, Geschichtsbewusstsein mittels Reflexion und Kommunikation – also narrativierend – zu bilden, ermöglichte die Überwindung der aus dem politischen Links-Rechts-Denken erwachsenen Gegensätze, obwohl Wissenschaftler aus beiden „Lagern“ massive Einwände gegen das Konzept der Narrativierung von Geschichte erhoben.128 Trotzdem ersetzten die Modelle Rüsens und Jeismanns die bisherigen Konzepte, was zunächst an der Implementierung neuer didaktischer Termini sichtbar wurde: Statt von „Lernzielebenen“ war nun von „Kompetenzstufen“ die Rede, und der Ausdruck „Qualifikation“ wurde durch „Standards“ substituiert. Wesentlich war jedoch die Änderung der zentralen Kategorie des Geschichtelernens: Es sollte nicht mehr um die Vermittlung von Inhalten und von Geschichtsbildern, sondern um die Förderung der Entwicklung von „Geschichtsbewusstsein“ gehen. Vorrangig war die Klärung des Verständnisses von „historischem Bewusstsein“. Vorhanden waren zwei wissenschaftstheoretische Angebote: Folgt man Wilhelm Dilthey, beschreibt der Begriff die selbstständige Integration von Erfahrungen in die vorhandene Vorstellungswelt des Individuums und deren autonome Vernetzung zu einem neuen Geschichtsverständnis („Selbstverstehen“). Nach Charles S. Cooley bedeutet Bewusstseinsbildung die Übernahme von Vorgängen des Verstehens anderer Individuen, sogenannte „Spiegelungsprozesse“ („Fremdverstehen“). Im Alltag dürften beide Vorgänge ineinander verschränkt verlaufen.129 Konsens herrscht darüber, dass sie sich in sprachlichen Äußerungen manifestieren, wodurch Erkenntnisse dargestellt oder Standpunkte erklärt und begründet werden.130 Mit der Formel, bei Geschichtsbewusstsein handle es sich um das mentale Realisieren von Identitäten und Alteritäten, die mittels sinnbildender Narrationen wahrnehmbar werden, war eine einigermaßen klare und konsensfähige Vorstellung dessen, was der Begriff meint, gefunden. Jeismann schlug zur systematischen Entwicklung historischen Bewusstseins ein Drei-Stufen-Modell vor. Es umfasst die Fähigkeit zur Analyse (historische Wahrnehmung), zur Bildung von Sachurteilen (historische Deutung) und von Werturteilen (historische Orientierung).131 Rüsen formte daraus ein Regelkreismodell,132 das von Wolfgang Hasberg und Andreas Körber zu einem „prozesshaften Modell der historischen Erkenntnis“133 weiterentwickelt wurde.134 Rüsens Theorie von „Sinnbildung durch Zeiterfahrung“, wurde zur richtungsweisenden Grundlage für geschichtsdidaktische Konzeptionen. Eine prinzipielle Kritik am kognitionslastigen Umgang mit Geschichte stammt von Bärbel Völkel, die „[…] einen inklusiven, historisch-kulturelle wie auch geistig kommunikative Andersheit einschließenden Geschichtsunterricht […]“ durch die Fixierung der Theoriebildung auf Rüsen hintangehalten sieht.135

      Trotz seiner ebenfalls kritischen Haltung zu Rüsen als Grundlage der Theoriebildung fachspezifischer Kompetenzorientierung, war und ist Pandel von der Notwendigkeit des Paradigmenwechsels überzeugt. 2005 würdigt er die weitgehende Akzeptanz einer Abkehr vom Primat der Vermittlung von Faktenwissen zugunsten einer Förderung der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein als „archimedischen Punkt der ganzen Kompetenzdiskussion“,136 denn Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht hätten sich dabei schwerer getan als andere Fächer, weil die „orthodoxe“ Fachdidaktik stets die Dominanz historischen Wissens betont habe.137 Der Konsens zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik über die Arbeit am Geschichtsbewusstsein als Ziel des Geschichtsunterrichts sei bemerkenswert.138 Erzielt wurde Kongruenz im Verständnis von Geschichtsbewusstsein als einem Teil menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. Da Erkenntnis durch individuelle Handlungen gesteuert wird, verlangt Bewusstseinsbildung nach einer Förderung von individueller Kritikfähigkeit. Während Jeismann die analytische Zerlegung eines Geschichtsbildes mittels Extrahierung der Fakten, deren Deutung und Bewertung vorschlägt, sodass das Ziel von kritischem Umgang mit Geschichte darin besteht, die „[…] Identifikations- und Legitimationsmechanismen erkennbar und bewertbar zu machen“,139 wünscht die Gruppe FUER Geschichtsbewusstsein nicht nur die Ausbildung von Urteilsfähigkeit, sondern propagiert die Förderung der Entwicklung eines „reflektierten“ und „(selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins“. Das Forscherteam geht von der Annahme aus, dass den meisten Individuen die Existenz ihres historischen Bewusstseins nicht klar ist. Sie müssten mit dessen Bedeutung für ihr Leben erst vertraut gemacht werden.140 Alexander Schöner definiert Geschichtsbewusstsein daher als „[…] intentionale Herstellung eines Bezugs zwischen Subjekt und Geschichte“.141 In seiner idealtypischen Form solle es reflektiert und (selbst-)reflexiv sein.142 Das umfasst auch den Wunsch nach Identitätsstiftung, nach Legitimation und allgemeiner Orientierung, denn das sei eine Form von Sinnbildung: „Individuen definieren sich und ihren Platz in der Gesellschaft, gewinnen an sozialer Signifikanz“.143 Pandel teilt grundsätzlich sein Verständnis von historischem Bewusstsein mit dem der Gruppe FUER. Allerdings versucht es auszudifferenzieren, beschreibt acht Dimensionen und folgt hierin Jean Piaget, demzufolge Bewusstsein auf zwei Wegen gebildet werden kann. Entweder geschieht das durch kognitive Assimilation, also durch Aufnahme neuer Erkenntnisse in bestehende Begriffsmuster oder durch kognitive Akkomodation, i. e. die Neuausrichtung bestehender Strukturen als Konsequenz der Weigerung des Individuums, neue Erkenntnisse in bestehende Muster zu integrieren.144 Für beide Varianten ist es hilfreich, Bescheid darüber zu wissen, was man wahrnimmt. Nach Pandel sind das: das „Temporalbewusstsein“ (Fähigkeit, sich mit Hilfe von Zeit zu orientieren), das „Wirklichkeitsbewusstsein“ (Fähigkeit, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden); das „Wandelbewusstsein“ (Erkenntnis, dass sich Ereignisse, Personen und Dinge permanent verändern); das „Identitätsbewusstsein“ (die Fähigkeit, die Ich/Wir-Identität im Wandel als etwas Dauerhaftes zu begreifen); das „politische Bewusstsein“ (Erkenntnis, dass gesellschaftliche Verhältnisse von Machtausübung geprägt sind); das ökonomische Bewusstsein (Verstehen von Mechanismen sozialer Ungleichheit); das „moralische Bewusstsein“ (Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden; Erkenntnis, dass Wertvorstellungen Wandlungen unterworfen sind); das „individuelle Geschichtsbewusstsein“ (Erkenntnis eine „Einheit von Gegenstands- und Selbstbewusstsein“145).146 Bodo v. Borries betont, dass allfällige Unsicherheiten im Umgang mit dem Begriff Geschichtsbewusstsein der Bedeutung des Paradigmenwechsels keinen Abbruch tun. Das Prinzip der Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht sei eine notwendige Reaktion auf Versäumnisse aus der Vergangenheit gewesen. Die bewusste Herausarbeitung der Fachspezifik, der Fokus auf Narrativität und reflektierendes bzw. (selbst-)reflexives Geschichtsbewusstsein, die Lenkung des Blicks auf Geschichtskultur und Vermarktung von Geschichte als Lehr- und Lerninhalte sowie die Vorbereitung stimmiger Konzepte zur Diagnose und Leistungsmessung würden auf Dauer angelegte Fortschritte sein. Es sei unabdingbar, dass die Geschichtsdidaktik diesen Weg wissenschaftlich begleite, denn würde die Kompetenzorientierung als fachdidaktisches Prinzip scheitern, wären die Alternativen entweder eine Verkürzung des Fachs Geschichte auf (standardisiertes) Kanonwissen oder sein Aufgehen in Fächerbündeln. Beides wäre nicht wünschenswert.147 Auch Andreas Körber weist darauf hin, dass der Entschluss, dem Auftrag der KMK nachzukommen, nicht nur wissenschaftlichen Interessen geschuldet war, sondern auch der Überlegung, dem Fach die Abiturfähigkeit zu erhalten, damit es nicht in die schulische Bedeutungslosigkeit abgleitet.148

      Die bildungspolitischen Entscheidungen der Jahre 2002 bis 2005 führten zu einer intensiven Arbeit an domänenspezifischen Kompetenzmodellen. Laut Modelltheorie handelt es sich dabei um Konstrukte, die die fachspezifischen Kompetenzbeschreibungen, deren Arrangement untereinander (Strukturen) und deren erwartete Ergebnisse (Entwicklungsziele fachlicher


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