Geschichtsmatura. Christian Pichler
rel="nofollow" href="#ulink_171036e8-4825-5a7a-9e84-2254b7cca378">9.27 Performanz 27: Die Republik Österreich bis zur Gegenwart
9.28 Performanz 28: Die antike griechische Welt und ihre Kontrahenten
9.29 Performanz 29: Lebenswelt im Mittelalter
9.30 Performanz 30: Die antike griechische Welt und ihre Kontrahenten
10. Ergänzende quantitative Befunde
10.1 Interrater-Reliabilität
10.6 Kompetenzeinschätzung – Überblick
12.1 Tabellenverzeichnis
Christian Pichler
Geschichtsmatura
Eine empirische Untersuchung zum kompetenzorientierten Prüfungsmodus
„Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“ (Johann Gustav Droysen, Historik-Vorlesungen 1857, S. 422).
1. Einleitung
Der österreichische Schriftsteller Alfred Goubran hat im Jahr 2013 ein Büchlein veröffentlicht, das den Titel „Der gelernte Österreicher“1 trägt. In diesem Essay entwirft er eine Kulturkritik zur Identität der Österreicher*innen, deren These lautet: Es mangle ihnen an Einmaligkeit und folglich dem Land an Kultur. Statt eines Klimas zur Begünstigung der Entwicklung bemerkenswerter Eigenarten und Eigenheiten sei die folgenschwere Neigung akzeptiert, sich nach außen hin so zu geben, wie man annimmt, dass andere „die Österreicher“ sehen wollten.2 Das verhindere die Entfaltung einer spezifischen österreichischen Kulturnation, denn anstelle „gelebte(r) Unverwechselbarkeit“3 pflege man Orientierung am Zeitgeist, Normen-Akzeptanz und Sicherheitsdenken. Die Österreicher verbinde „[…] die Gewißheit um die völlige Bedeutungslosigkeit des Landes in der Welt“4 sowie die Überzeugung von einer Sicherheit, „wie sie nur das Durchschnittliche und die sogenannte Normalität […] gewähren kann. Dort ist der Österreicher mehr als andere zu Hause.“5 Goubrans literarischer Tadel trifft sich mit einem zentralen Argument der Kritik an der Bildungsreform: Die Neuausrichtung von Bildung bediene sich des Governance-Verfahrens,6 um auf der Basis der oben beschriebenen Haltung ein aus der europäischen Geistesgeschichte gewachsenes Bildungsverständnis (Neohumanismus) zu eliminieren, ohne adäquaten Ersatz zu bieten. Die Reform orientiere sich stattdessen an ökonomischen Abläufen, sodass die „Produkte“ lenkbare Bürger*innen sein würden.7 Internationalen Trends folgend, wurde ab dem Jahr 2008 die Ausrichtung des Geschichtsunterrichts an Inhalten sukzessive durch Kompetenzorientierung abgelöst. Der Anstoß zum Paradigmenwechsel erfolgte im Fach zunächst nicht von der Bildungspolitik, sondern von der Geschichtstheorie. Nach Rüsen sollen Menschen in die Lage versetzt werden, im Alltag einen „[…] plausible(n) und verlässlich beglaubigte(n) Bedeutungszusammenhang der Erfahrungs- und Lebenswelt […]“ zu erkennen und mit Hilfe dieser Einsichten „[…] die Welt zu erklären, Orientierungen vorzugeben, Identität zu bilden und Handeln zweckhaft zu leiten.“8 Das Postulat der Förderung der Fähigkeit, sind in der Geschichte und durch sie in der Gegenwart zu orientieren, wurden im deutschsprachigen Raum zum Ausgangspunkt der Konzeption von Kompetenztheorien. Die Bildungsreform eröffnete in der Folge die Möglichkeit des Transfers der didaktischen Innovation in den Unterricht, was in Österreich in drei Schritten erfolgte. Zwischen 2008 und 2022 wurden auf der Basis des Kompetenz-Strukturmodells der Forschungsgruppe FUER Geschichtsbewusstsein9 und eines analogen Modells politischer Kompetenzen10 neue Bildungspläne11 geschrieben. Damit wurde dem Fächerbündel „Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung“ (GSPB) erstmals eine analoge didaktische Ausrichtung gegeben.12 Mit der Implementierung einer kompetenzorientierten Reifeprüfung in das Schulsystem (2012)13 wurde seitens der Bildungspolitik die Erwartung verknüpft, die erwünschten Innovationen in der Unterrichtspraxis zu beschleunigen (Steuerung).14 Vorerst letzter Meilenstein war eine Reform der Lehrer*innen-Ausbildung (2015) gemäß dem Kompetenzparadigma.15 Didaktisches Ziel der Reifeprüfungsreform ist die Diagnose des Ausprägungsgrads der Niveaus historischer und politischer Kompetenzen der Absolvent*innen höherer Schulen. Das Aufgabenkonzept folgt dem Axiom eines stufenweisen Aufbaus von Einsichten zur Anregung fachlicher Bewusstseinsbildung,16 die Aussagen zu den initiierten mentalen Prozessen sollen Aufschlüsse über fachliche Kompetenzen geben. Da die Anwendung der Leistungsbeurteilungsverordnung (LBVO)17 kaum Rückschlüsse auf den Ausprägungsgrad domänenspezifischer Fähigkeiten zulässt, sind wissenschaftliche Analyse-Verfahren anzuwenden.
Das Forschungsdesiderat zur Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht ist durch Asymmetrien charakterisiert. Während die Theoriebildung domänenspezifischer Kompetenzen und deren kritische Rezeption18 einigermaßen zufriedenstellend dokumentiert ist, stehen Konzepte zum Transfer der Theorien in die Unterrichtspraxis und die empirische Überprüfung der Wirksamkeit der Innovation weitgehend aus. Die Brücke zur Schulpraxis ist noch nicht gebaut.19 Hinweise auf Aspekte der Unterrichtsplanung sowie methodische Ansätze finden sich zwar bei Gautschi, Sauer, Heil und Pandel, kohärente Skripts fehlen jedoch. Wenig Praxisbezug weist das FUER-Modell auf. Ein angekündigtes komplementäres Progressionsmodell gibt es nicht.20 Christoph Kühberger hat 2009 erste Anregungen zu einer didaktischen Wendung der FUER-Theorie gegeben.21 Zudem ist in Eichstätt eine Reihe von Themenheften mit modellhaften Unterrichtsvorschlägen (Z. B. Arbeit mit Film, in außerschulischen Lernorten, zum Einsatz von Theaterpädagogik, Arbeit mit Zeitzeugen, Schulbüchern etc.) entstanden.22 Einen systematischen Kompetenzaufbau über den Bildungszyklus ermöglichen sie nicht. Es herrscht Konsens darüber, dass die Beseitigung des Mangels an Praxistauglichkeit die Erhebung empirische Befunde zur Haltung von Lehrer*innen zum Prinzip der Kompetenzorientierung,23 zur Gestaltung von Unterrichtsmaterialien und deren Gebrauch,24 zur Anwendung von Methoden,25 zur Aufgabenkultur26 und zu den Ergebnissen von Unterrichtsarbeit („Output“) voraussetzt, um Aufschlüsse über die vorläufige Wirkung der Theorie zu erhalten. Insbesondere die Kategorie Ergebnisforschung („Kompetenzmessung“) stellt im Fach GSPB ein komplexes Vorhaben dar, weil es keine Standardisierungen fachlicher Kompetenzen gibt, die Anhaltspunkte zur Entwicklung von Messverfahren liefern würden. Trotzdem sieht die