Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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[…].“177 Sind Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse gewonnen, materialisiert sich die Auseinandersetzung mit Vergangenheit in Sinnbildungen. Das geschieht in Form „historischer Narrationen“. Historischer Sinn integriert Wahrnehmung, Deutung und Orientierung auf eine Weise, die es dem Individuum ermöglicht, Erfahrungen im Umgang mit Geschichte zu machen und sie für sich und seine Handlungen zu nutzen. Damit verbunden ist das Axiom, dass historischer Sinn Teil des individuellen wie auch des kollektiven Bewusstseins ist. Wolfgang Hasberg und Andreas Körber greifen Rüsens Theorie auf und wandeln dessen Regelkreismodell in ein ausdifferenzierteres Spiralmodell um. Die grundlegenden Operationen historischen Denkens (Re- und De-Konstruktion) werden mit den Bedürfnissen (historisch) Denkender in eine Wechselwirkung gebracht.178 Da seit den Debatten der 1970er Jahre innerhalb der Fachdidaktik (sowie zwischen ihr und Teilen der Fachwissenschaft) ein weitgehender Konsens darüber herrscht, dass der Wunsch des Menschen nach Orientierung der „Urgrund der Geschichtswissenschaft“ ist, war FUER davon überzeugt, dass es im Geschichtsunterricht künftig darum gehen muss, Einsichten zu fördern. Daher war die Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstsein in den Blick zu nehmen. Ziel von Schulunterricht durfte nicht mehr die Formung und Tradierung weitgehend stabiler Geschichtsbilder sein, sondern die Förderung eines historischen Bewusstseins, das dynamisch auf Erkenntniszuwächse reagiert, ergo eine kritische Haltung. Auf diese Weise sollte zwischen den Ansprüchen der Wissenschaft im Umgang mit Geschichte und lebensweltlichen Orientierungsbedürfnissen der Individuen eine Brücke zu schlagen sein.179

      Nachdem grundlegende Fragen geklärt worden waren, wurden die Möglichkeiten eines modellhaften Kompetenzaufbaus samt Festlegung der Niveaustufen ausgelotet. Das Modell sollte die „Planung schulischer Lernprozesse“180 ermöglichen, also in den Unterricht eingreifen können. Die Gruppe FUER entschied sich für die Erarbeitung eines Strukturmodells, weil dieser Modelltyp die Gelegenheit bot, den Geschichtsunterricht vom Grund auf neu zu denken. Das Modell sollte auf alle Formen historischen Denkens anwendbar zu sein, die wissenschaftlich relevanten Begriffe klären, die Vorstellung einer Struktur der Domäne samt ihrer Niveaustufen bieten und Vorarbeiten für eine potenzielle Standardisierung leisten.181 Es wurde bewusst nicht schulfokussiert gedacht, um die theoretische Klärung der Mechanismen zur Förderung historischen Denkens im Kontext lebenslangen Lernens vorzunehmen. Man stütze sich auf das Lebenswerk des Bodo von Borries, der schon in den 1970er Jahren erkannt hatte, dass bei der Erstellung von Aufgabenformaten eine Trennung von Inhalts- und Verhaltensaspekt schwer möglich sei, außer man standardisiere das gesamte Unterrichtsgeschehen von der Planung über den Verlauf bis zu den Materialien. Hierbei bestünde die Gefahr der Interpretation von Geschichte auf der Basis vorgegebener Horizonte.182 FUER entschloss sich dazu, ein Strukturmodell zu entwickeln, das aus vier allgemeinen Kompetenzbereichen (Frage-, Methoden-, Sach- und Orientierungskompetenz) besteht, aus denen Kompetenzen sowie Teilkompetenzen deduziert werden. Man definierte Graduierungsparameter zur Abgrenzung der Niveaus und beschrieb die Niveaustufen.183 Ausständig geblieben sind die Konstruktion eines Modells zur Förderung der Kompetenzprogression samt Entwicklung von Lern- und Testaufgaben für Schüler*innen, die Standardsetzung und die empirische Erforschung sowohl der Kompetenzförderung als auch der realen Verteilung der Kompetenzen in der Bevölkerung.

      Mit diesen Prämissen entfernte sich die Gruppe absichtlich von der Anregung Kliemes, eine „induktiv-explorative Entwicklung von Kompetenzmodellen“ anstreben,184 denn FUER ortete die Gefahr, dass eine prononcierte Aufgabenzentrierung die Hinwendung zu lebenspraktischen Herausforderungen der Menschen ins Hintertreffen geraten lassen würde, sodass die Förderung historischen Denkens nur partiell leistbar wird. FUER habe, laut Körber, einen höheren Anspruch an den Geschichtsunterricht formuliert. Er verweist darauf, dass die Menschen tagtäglich ihr Orientierungsbedürfnis in und an der Geschichte befriedigten. Nahezu jede*r verfüge daher über ein „triviales Geschichtsbewusstsein“. Der Unterricht müsse deshalb Wege öffnen, um Anschluss an professionelles Denken zu ermöglichen. Ein allgemeines Kompetenz-Strukturmodell historischen Denkens sollte jede Form mentaler Vorgänge anhand der Kompetenzbereiche und Einzelkompetenzen sowie deren Unterscheidbarkeit nach Niveaustufen beschreiben können.185 Um die Konzepte des Strukturmodells auf Unterricht hin zu adaptieren, sollten in einem zweiten Schritt der Theoriearbeit Progressionsmodelle entwickelt werden. Unterstützt wurde dieser Zugang zur Modellbildung u. a. von Test-Methodikern. So warnt Jürgen Rost eindringlich vor eindimensionalen Kompetenzstufen-Modellen, propagiert die Untersuchung möglichst vieler kognitiver Teilkompetenzen186 und sieht in dem von Klieme vorgeschlagenen Weg der Kompetenzimplementierung in die Schule wenig Potential, um Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzubauen.187 Den Prozess, der mit der Erarbeitung des Kompetenz-Struktur-Modelles eingeleitet wurde, verstanden die Wissenschaftler*innen als einen umfassenden Vorgang. Es war ihnen bewusst, dass eine Begleitforschung notwendig war und dass eine Diskussion darüber erfolgen würde sowie die permanente Weiterentwicklung des Modells samt Adaptierungen auf Unterricht hin erfolgen müsse. Es war ein Anspruch von FUER, dass das Modell ausdifferenziert entwickelt wird, um den Ansprüchen des Bildungsmonitorings ebenso gerecht zu werden, wie der pädagogischen Diagnostik und der Evaluation.188 Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist es, die Fähigkeiten und Fertigkeiten schrittweise aufzubauen und an ihnen dauerhaft weiterzuarbeiten, sodass „[…] sich langsam ein Vorrat an historischen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bereitschaften sedimentiert, in den natürlich auch Irrtümer und Missverständnisse, Fehlhaltungen und Fehlschlüsse eingebaut sein können.“189 Wesentlich ist das Verständnis, dass einzelne Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Kernkompetenzen niemals für sich stehen.190

      Grundsätzlich attestiert die Fachwelt dem FUER-Modell einen hohen Grad an Ausgereiftheit und einen weiten Horizont. Barricelli, Gautschi und Körber heben hervor, dass FUER das historische Lernen als lebenslangen Prozess begreift, dass es klar unterscheidbare Kompetenzbereiche sowie „[…] das methodisierte Konstruieren und geschichtsbewusste Orientieren“191 gibt, dass ein Graduierungskonzept vorliegt und dass auf der Ebene der Teilkompetenzen die Anschlussfähigkeit an Kompetenzen anderer Modelle gegeben ist.192 Kritik wird an der an der ausgeprägten rational-intellektuellen Ausrichtung des Modells geübt.193 Auch Schönemann et all. würdigen den systematischen Zugang sowie die Forderung nach zeitgemäßer Gestaltung des Geschichtsunterrichts, kritisieren aber den Mangel an empirischer Validität.194 Während Gautschi im FUER-Modell das elaborierteste sieht und Parallelen einzelner Teilkompetenzen zu „Hinschauen und Nachfragen“ erkennt,195 ist Sauer das Modell zu komplex, was vor allem in der Begrifflichkeit deutlich werde. Zwar attestiert auch er dem FUER-Modell, „[…] das am differenziertesten theoretisch entfaltet(e)“196 zu sein, meint aber zugleich, dass es als Basis für die Schule untauglich sei, weil es keine Orientierung auf Lehrer*innen gebe und weil Unterrichtsmaterialien fehlten.197 Aus der Sicht von Heil hat die Gruppe FUER „[…] Maßstäbe in der Beschreibung von Kompetenzen gesetzt, hinter die kein Kompetenzmodell zurückgehen kann“.198 Hervorzuheben seien die Konfiguration der Kompetenzen, die Reduktion auf wenige Kernkompetenzen, die Erarbeitung von Niveaustufen und die Schaffung des Bewusstseins, Kompetenzen seien immer auf allgemeinen Niveaus zu beschreiben. Hierin habe das Modell „Pionierarbeit geleistet und darf als der klassische Prototyp eines Kompetenzmodells bezeichnet werden.“199 Der Rückgriff auf Konstruktivismus sei „[…] in der Natur der menschlichen Erkenntnis verankert“200 und die Beschreibung der Orientierungskompetenz formuliere das zentrale Anliegen im Umgang mit Geschichte.201 Aber auch Heil meint, es bedürfe für die Anwendbarkeit im Unterricht einer inhaltlichen Präzisierung und des Ausbaus zu einem Entwicklungsmodell.202 So sei etwa im Bereich der Fragekompetenz das Fachspezifische unklar, denn Fragen sei nichts „genuin Historisches“.203 Kritik übt Heil auch an der Verengung des Konstruktionsgedankens auf „Sinn“ und moniert, dass die Existenz von „Wirklichkeiten“ ignoriert würde. Es müsse um die „Aufdeckung der Voraussetzung von Sinnbildung gehen“, i. e. um die Entwicklung der Fähigkeit, das eigene Wirklichkeitsmodell (sowie die Wirklichkeitsmodelle anderer) zu erkennen. Stattdessen setze FUER in unzulässiger Weise Narrativität mit Sinnbildung gleich. Daher kommt


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