Geschichtsmatura. Christian Pichler
dauernden Verfügbarkeit von historischem Wissen und damit am „Bildungsertrag“ aufgekommen.249 Die Formel der „Tübinger Beschlüsse“ (1951), die „Durchdringung des Wesentlichen“ habe Vorrang vor der Quantität zu erarbeitender Stoffgebiete, war eine erste Reaktion auf die Verunsicherung im Umgang mit Fachwissen. Bereits dieser Empfehlung lag die Einsicht zugrunde, „[…] die Schule vermittelt nicht den ‚Stoff‘, sondern erzeugt ihn, indem sie Wissen aus anderen Kontexten (z. B. Kultur, Wissenschaft, Alltag) sich anverwandelt und nach ihren eigenen systemischen Logiken verwendet“.250 Die Diskussion um die PISA-Ergebnisse hat den Eindruck entstehen lassen, dass die in den 1970er Jahren erwarteten Erfolge ausgebleiben sind, trotz punktueller didaktischer Kurskorrekturen in den 1980er Jahren. Daher sollte mittels kompetenzorientierten Unterrichts ein ernsthafter Versuch unternommen werden, Nachhaltigkeit zu generieren, indem Wissen mit Können verknüpft wird. Für Wolfgang Sander ist diese bildungstheoretisch untermauerte Wissens-Definition der „[…] Referenzbegriff für die Beschreibung der Ziele der Schule […]“ in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern.251 Gautschi äußert die Befürchtung, es drohe in der Dynamik der Implementierung des Kompetenzparadigmas die Gefahr, dass sowohl in Teilen der Lehrerschaft als auch bei einzelnen Didaktiker*innen die Auffassung aufkeimen könnte, fachliches Wissen sei obsolet geworden. Sollte das der Fall sein, werde übersehen, dass die Kognitionspsychologie den Begriff „Wissen“ so ausdifferenziert habe, dass ihm komplexe Denkvorgänge zuzuschreiben sind. Gautschi beruft sich auf Walter Edelmann, demzufolge Wissensaufbau durch „[…] kognitive Strukturen oder mentale Modelle, die durch Kognition über die Wirklichkeit erworben werden […]“,252 erfolgt. Dabei handle es sich um Prozesse, die nicht bloß Abbildungen darstellen, sondern als neuronale Verknüpfungen samt der Entwicklung neuer Systeme zu verstehen sind, i. e. als Denkoperationen. Nach Escher und Messner definiert Gautschi Wissenserwerb als „[…] individuelle gedankliche Repräsentationen“,253 die durch Sprache evident werden und Teil eines schrittweisen Erkenntnisprozesses sind. Da „Historisches Lernen […] in der Auseinandersetzung des Individuums, das in eine Gesellschaft und in den zeitlichen Wandel eingebunden ist, mit Ausschnitten aus dem Universum des Historischen, das durch den zeitlichen Wandel stetig wächst. [...]“254, vollzogen wird, komme der Aneignung von Fachwissen im Zuge der Entwicklung historischer Kompetenzen eine zentrale Bedeutung zu. Gautschi und Béatrice Ziegler sehen die Funktion von Wissen als Hilfsmittel, die das Zurechtfinden in der Geschichte ermöglicht. Es unterstützt die Herausbildung der Fähigkeit, mit historischen Narrativen umgehen zu können.255 Thünemann nimmt vor dem Hintergrund der gewünschten Synchronisation von Wissen und Können den Aspekt des „trägen Wissens“256 in den Blick und begrüßt an der Kompetenzdiskussion, dass sie das Problem seiner Existenz wahrnimmt. Zwar müssten die für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht erforderlichen Wissensbestände erst modelliert werden. Dessen ungeachtet stehe fest, dass im Geschichtsunterricht lange Zeit Wissen generiert worden sei, das sich Deutungen entziehe und somit keinerlei Orientierungsnutzen für das Individuum aufweise. Thünemann beruft sich auf Rüsen, der kritisch anmerkt: „Was nützt ein ausgebreitetes historisches Wissen, wenn es als bloße Gedächtnisleistung erlernt worden ist und keine Orientierungskraft hat? Auf der anderen Seite: Was nutzt die Fähigkeit zur historischen Reflexion und Kritik von Praxisentwürfen, wenn sie erfahrungsarm ist […]?“257 Sollen Erkenntnisse ermöglicht werden, bedarf es der Klärung der Frage: „Wieviel Wissen braucht man eigentlich, um historisch kompetent zu sein […]“258 und der Entscheidung darüber, ob Kompetenzorientierung eine Trennung von Wissen und Fähigkeiten meint oder das Fachwissen als integralen Bestandteil des Umgangs mit Geschichte sieht.259 Dem Verdikt Thünemanns über „träges Wissen“ hält Roland Reichenbach einen erweiterten, philosophisch determinierten Bildungsbegriff entgegen. Es hänge allein von der Entscheidung des Individuums ab, ob Wissen tot, träge oder nützlich sei. Da Wissen dann träge werde, wenn, wie Renkl nachgewiesen habe, das Erlernte nicht angewendet wird, sei es Sache der Lehrer*innen Sorge für die Schaffung von Lernumgebungen zu tragen, die Handlungsorientierung fördern. „Die Praxis lernt man nur in der Praxis selbst. Schwimmen etwa im Wasser und nicht in Schwimmseminaren und Schifahren allein durch Schifahren und nicht in Vorlesungen zur Geschichte des Wintersports.“260 Reichenbach verweist auf Dilthey, der Wissen als essenzielles Element von Bildung ansieht und selbst jenem Wissen, das keinen unmittelbaren Nutzen stiftet, einen hohen Stellenwert einräumt, weil auch implizites Wissen, ja sogar Vergessenes seine Funktion in der Ausbildung von Horizonten hat. Entscheidend sei nicht das Ad-Hoc-Verfügen über Wissen, sondern der Prozess der Aneignung und die dabei entwickelten Fähigkeiten und Fertigkeiten. Versteht man Lernen als einen individuellen Vorgang des Erfahrungen-Sammelns, sei der momentan dominante „[…] gegenwartszentristische und instrumentalistische Zugang zu Wissen und Bildung“261 zu kritisieren. Reichenbach sieht am Verlauf der Diskussion eine verengte Vorstellung von Wissen erstarken und setzt dem ein Verständnis entgegen, das er mit dem Begriff „Orientierungswissen“ versieht. Dieses zeichne sich durch die „[…] Befähigung zur Beurteilung von Berechtigungsgründen des Tuns“262 aus, verbinde das Individuum mit seinem Umfeld, führe zum Einnehmen von Standpunkten und benötige dazu Wertmaßstäbe. Jeder Vorgang von Meinungsbildung, aber auch die Überprüfung von Ansichten samt möglicher Korrekturen, bedürften dieses Orientierungswissens. Durch diesen Prozess würden Illusionen zerstört und Unwahres eliminiert werden. Soll Bildung Wandelprozesse initiieren, begleiten und steuern, bedarf das Individuum Wissens jeder Art. Entscheidend sei, dass allfälliges implizites Wissen durch Anwendung explizierbar werde.263 Für Matthias Martens kann Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht, will sie gemäß dem Postulat Tenorths „[…] den Bildungsanspruch […] neu begründen […]“,264 ohne Einüben in den Umgang mit narrativistisch-konstruktivistischen Prinzipien nicht gelingen: „Geschichte als Gegenstand des Geschichtsunterrichts kann ausschließlich als eine Deutung verstanden werden und ist ohne konstruktivistisches Denken nicht zu erschließen. Schülerinnen und Schüler müssen lernen, dass Geschichte ein narrativistisches Konstrukt ist und müssen die geschichtsunterrichtliche Praxis der historischen Sinnbildung als eine konstruktivistische Praxis begreifen.“265 Martens weist darauf hin, dass sich der Umgang mit Geschichte nicht in der summarischen Aneignung aller verfügbaren Kenntnisse erschöpfen kann, sondern dass historisches Denken und dessen Ausprägungsgrad den Inhalt des Fachs ausmacht. Um mentale Operationen zu ermöglichen, bedarf es des Erwerbs von Kenntnissen über zentrale Kategorien und des verfahrensgeleiteten Umgangs mit ihnen, also des Verfügens über implizites Wissen. Die Definition von Dimensionen und von Handlungsanforderungen sollte jene Kernbereiche rahmen, die eigenständiges Denken und Handeln (selbstbestimmtes Leben) ermöglichen. Im Zentrum des Kompetenzerwerbs stehe daher der Aufbau der Fähigkeit, Quellen und Darstellungen deuten zu können.266 Thomas Hellmuth schließlich schlägt, ausgehend von der lernpsychologischen Wissensdefinition Roland Arbingers,267 ein Zwei-Stufen-Verfahren im Umgang mit Wissen vor, nämlich die Teilung der Wissensbestände in zu erwerbendes Grundwissen (Fakten, Begriffe, Kategorien, Konzepte) samt dessen Anwendung in themenbezogener Bearbeitung und in die Entwicklung von Orientierungswissen, das zum Auf- und Ausbau von Kompetenzen führen soll.268 Der fachdidaktische Diskurs macht einen Konsens darüber sichtbar, dass Fachwissen als unabdingbar für einen gelingenden kompetenzorientierten Unterricht angesehen wird.269 Die Meinungen über Rolle und Stellenwert teilen sich aber an zwei Trennlinien. Die eine Grenze entsteht entlang der Frage, wann und wie Wissen aufgebaut zu werden hat. Es gibt die Auffassung, dass Fachwissen als Voraussetzung für Kompetenzerwerb anzusehen ist (z. B. Gautschi, Hellmuth) und daher gesondert erarbeitet gehört. Dem entgegen steht der Wunsch nach einem integrativen Wissensaufbau im Zuge des Lernprozesses (z. B. Martens, Reichenbach) im Umgang mit Geschichte. Eine weitere Trennlinie verläuft entlang der Frage, ob für den kompetenzorientierten Umgang mit Geschichte spezielle Wissensbestände nötig sind (z. B. Thünemann, Hellmuth) oder ob jede Form einer Begrenzung bzw. Modellierung obsolet ist, weil alle Arten von Wissen für individuelle Erkenntnisprozesse nützlich bzw. nötig sind (z. B. Martens, Gautschi). Mit der Klärung des Theorieproblems ist auch die Beantwortung der Frage verknüpft, ob das Verfügen über Fachwissen eine Teilkompetenz darstellt (Gautschi) oder ob es die Voraussetzung für den Aufbau und die Anwendung (eigentlicher) historischer Kompetenzen bildet (Hellmuth).
2.3.7.2