Geschichtsmatura. Christian Pichler
(didaktischer Zugang) erfolgt. Von zentraler Bedeutung ist stets, dass „[…] Wissensaufbau und Förderung der Kompetenzen Hand in Hand gehen sollen […]“, indem darauf geachtet zu werden hat, „[…] dass Reproduktion – Transfer – Reflexion nicht als aufeinander folgende und in den Niveaus unterschiedliche Stufen verstanden werden, sondern dass sie als nebeneinander liegend und vernetzt gesehen werden.“300 Alle Wissenschaftler betonen, dass es keine Interpretation ohne ausreichendes deklaratives Fachwissen geben kann und dass Orientierung ohne metakognitives Wissen oder Methodenkompetenz ohne prozedurales Wissen nicht existieren.301
Die Kritik am Zugang von FUER zur Funktion historischen Wissens im kompetenzorientierten Unterricht zeigt, dass das Thema auf der Agenda der Theoriearbeit bleibt. Ziegler und Gautschi anerkennen zwar, dass FUER die Kompetenzprogression als Wechselwirkung von Wissen und Können sieht, vermissen aber genauere Angaben über die Mechanik Prozesses. Es sei evident, dass Kompetenzaufbau ohne Wissen unmöglich ist, die Funktion von Wissen erscheine aber diffus, wenn nicht sogar ungeklärt. Am ehesten fassbar ist für Ziegler und Gautschi das deklarative Fachwissen als Element des kategorialen Wissens. Es ist in die Progression der Kompetenzentwicklung integrierbar und kann im Zuge der Kompetenzstufung sichtbar gemacht werden.302 Wissen „[…] hat seine Funktion darin, dass an ihm mit den Kompetenzen die Verfügung über Wissen aufgebaut werden kann, wobei der Aufbau von historischem Wissen zu kategorialem und nicht zu deklarativem Wissen führt. Solches Wissen wird in FUER Geschichtsbewusstsein als in den Kompetenzen enthalten gesehen und zusammengefasst als Sachkompetenz beschrieben.“303 Im Gegensatz dazu kritisiert Sander am FUER-Modell die Existenz eines eigenen Kompetenzbereichs „Sachkompetenz“, denn er erwartet, dass dessen Modellierung zu einer separierten Betrachtung des Fachwissens verleiten könnte. Außerdem würde das Kompetenz-Strukturmodell nur über ein einziges genuin historisches Basiskonzept verfügen, nämlich das der Kategorie „Zeit“.304 Hellmuth greift in seiner Beurteilung des Wissens im FUER-Modell die Kritik Pandels an den Begriffskreationen auf und wirft der Gruppe Willkür bei der Definierung der zentralen Termini Re-Konstruktion, De-Konstruktion und Sachkompetenz vor. Aus seiner Sicht könnten Re- und De-Konstruktion jeweils eigenständige Kompetenzbereiche bilden, während die Dimensionen des Kompetenzbereichs Sachkompetenz dem Grunde nach Arbeitswissen umschreiben und daher Bestandteile der Methodenkompetenz seien.305 Resümee: Die Diskussion erweckt den Anschein, als sei die „Gretchenfrage“: „Wie hältst du’s mit dem Wissen?“, vorerst wissenschaftlich nicht zufriedenstellend beantwortbar, sodass die Lehrer*innen weiterhin gefordert sind, in Eigenverantwortung damit umzugehen. In der Entwicklung eines allfälligen Progressionsmodells wird die Klärung der „Wissensfrage“ jedoch eine entscheidende Rolle zu spielen haben.
3. Kompetenzen und ihre Progression: Zur Graduierung fachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten
Es entspricht sowohl den Logiken didaktischer Konzepte zum Kompetenzaufbau als auch den Interessen der Bildungssysteme, die mittels Lehrplänen Kompetenzorientierung als Unterrichtsprinzip vorgeben, dass die Kompetenzprogression bei Schüler*innen diagnostiziert wird. Niveaustufen der Kompetenzentwicklung sind als analytisches Hilfsmittel aufzufassen, um Unterricht zu gestalten. FUER bietet eine wesentliche Voraussetzung zur Ermöglichung von Kompetenzanalyse, dem Modell ist eine Graduierungstheorie inhärent. Trotzdem erweist sich die Einstufung von Schüler*innen-Leistungen in gesellschaftswissenschaftlichen Domänen prinzipiell als komplex, wie nachfolgend dargestellt wird. Das gilt auch für das FUER-Modell.
3.1 Erkundung eines Systems von Niveaustufen
Der Begriff „Graduierung“ umschreibt die Unterscheidung von Niveaus als Feststellung eines Grades im Umgang mit Fähigkeiten und Fertigkeiten. Am Beginn der Theorie-Arbeit steht die Idee von Taxonomien, die der Lernzieltheorie der 1970er Jahre entsprungen ist. Damals hat man sich eines von Benjamin Bloom in den 1940er Jahren entwickelten Konzepts bedient, um Lernziele in die Fachcurricula zu implementieren und deren Erreichen zu messen. Der didaktische Fortschritt gegenüber den Richtig-Falsch-Analysen besteht in einem ernsthaften Schritt der Abkehr von „Abbilddidaktik“ samt ihres Postulats des Erlernens von Daten und Fakten und einer Hinwendung zu verstehendem Wissen. An die Stelle der Vermittlung deklarativen Fachwissens, meist mittels Master-Narratives und ausgerichtet an politischen Wünschen, tritt allmählich eine kritisch-emanzipatorische Didaktik mit subjektiven Interessen, die sich in Lernzielen manifestiert. Das Resultat von Unterricht (Ziele), die Verfahren, es zu erreichen (Methoden) und die Messung der Ergebnisse (Tests) bilden eine systemische Einheit.306 Um das Jahr 2000 ist die Bloom’sche Taxonomie durch David Kratwohl und Lorin Anderson an das Kompetenzparadigma herangeführt worden, indem das skalierte Schema in ein System stufenweisen Aufbaus von Fähigkeiten („Komplexitätsstufen“) gewandelt worden ist. Die modifizierte Taxonomie beschreibt auch Entwicklungen, die einen nomologisch-kausalistischen Aufbau zeigen. Bloom, Kratwohl, Anderson gehen von der Annahme aus, dass jede Fähigkeit eine Voraussetzung hat und es Entwicklungen gibt. Ähnlichen Überlegungen folgt Lee S. Shulman, der ein Kreislaufmodell, bestehend aus sechs Dimensionen entwickelt, das Handeln über Wissen stellt. Es gebe eine Progression vom Wissen zum Tun. Weder Bloom noch Kratwohl, Anderson oder Shulman bilden Kompetenzentwicklungen ab und leisten damit auch keine Kompetenzniveau-Definitionen.307 Kompetenzgraduierung findet, laut Körber, erst dann statt, wenn „[…] mithilfe eines plausiblen Konzepts unterschiedliche Hierarchiestufen innerhalb der Verfügung über eine Fähigkeit unterschieden und beschrieben werden.“308 Pandel sieht 2005 drei denkbare Zugänge zur Stufung historischer Kompetenzen: die Berücksichtigung der Entwicklungspsychologie der Kinder, die Orientierung an der Chronologie der Geschichte oder die Steigerung der Anforderung von Lernaufgaben.309
3.1.1 Niveaustufen-Unterscheidung: Anthropologie oder Aufgabenschwierigkeit
Kompetenzerwerb und -ausbau markieren Lernprozesse, die ein Leben lang andauern. Sie vollziehen sich im Rahmen komplexer Entwicklungsvorgänge, die nach außen hin kaum manifest werden. In der Fachdidaktik dominiert die Ansicht, dass es der theoriegebundenen Festlegung von Etappen und deren Veranschaulichung bedarf, um das Wahrnehmungsdefizit von Kompetenzprogression zu beenden. Für Pandel ist es „[…] eine unabweisbare plausible Forderung, dass man historische Lernprozesse gemäß den Lebens- und Lernaltern der Schülerinnen und Schüler stufen muss.“310 In der Umsetzung erweist sich dieses Postulat als Herausforderung, weil es zum Wesen von Denken gehört, dass es autonom und perspektivisch erfolgt. Die Ergebnisse manifestieren sich in subjektiven Deutungen, „korrekte“ Lösungen gibt es nicht, stattdessen plausible.311
In der fachdidaktischen Theoriebildung erscheint die Stufung von Kompetenzen nach wie vor als ungelöstes Problem. Die ältere Forschung hat die Grundsatzfrage diskutiert, ob ein derart komplexes Phänomen wie die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein überhaupt klassifiziert werden kann. Christian Noack war einer ersten, der dazu eine Graduierungstheorie entwickelt hat. Sein psychologisch-anthropologischer Ansatz geht von der Annahme aus, es gebe sechs Phasen, in denen Schüler*innen zu bestimmten persönlichen Entwicklungsschritten bereit seien. Das inkludiert die Progressionen des Geschichtsbewusstseins. Zwei der sechs Stufen würden in die Zeit des Schulbesuchs fallen. Pandel kritisiert den Vorschlag als didaktisch kaum nutzbar. Eine Einschätzung, wie: „Menschen der Stufe 3 neigen zu historischen Romanen, die hohe Identifikation ermöglichen“,312 belegt er mit dem Verdikt: „Horoskop aus der Regenbogenpresse“,313 denn die Koppelung des Geschichtsbewusstseins an die Persönlichkeitsentwicklung ist für Pandel nicht schlüssig. Wichtiger erscheint ihm die Klärung der Frage, warum sich gewisse Prozesse vollziehen, denn Progressionen von Fähigkeiten und Fertigkeiten würden in den einzelnen Dimensionen weder linear noch parallel vonstattengehen. Das gelte besonders für die Ausformung des Geschichtsbewusstseins, das ein „[…] hoch komplexes Konstrukt aus verschiedenen Dimensionen ist, die jeweils eine eigene Genese haben“.314 Der psychologisch-anthropologische Ansatz greife auch deshalb zu kurz, weil zu dem Zeitpunkt, an dem Schüler*innen das erste Mal mit Geschichtsunterricht konfrontiert werden (mit ca. 12 Jahren), ihre Persönlichkeit bereits weitgehend vollendet sei, während die Ausformung der historischen Kompetenzen erst am Anfang stehe. Pandel schließt daraus, dass die