Geschichtsmatura. Christian Pichler

Geschichtsmatura - Christian Pichler


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wurden, um die Schüler(-innen) auf ein Studium vorzubereiten. Der Unterricht wurde seit 1853 in der Muttersprache – zuvor war es Latein gewesen – erteilt und wies eine philosophische, literarische und historische Akzentuierung auf.431 Naturwissenschaften spielten zunächst keine Rolle, sie wurden in Realschulen ausgelagert, die ab 1862 sukzessive zu Realgymnasien mutierten. Die Befugnis zur Erteilung der Hochschulreife erhielten sie allerdings erst 1908. Für angehende Gymnasiallehrer wurde 1853 eine Lehramtsprüfung und das Probejahr eingeführt, für die Schüler die kommissionelle Maturitätsprüfung, die sowohl als Abschlussprüfung als auch als Berechtigungsprüfung (Studium) konzipiert wurde. Inhalts- und die Wissenszentrierung dominierten die Prüfungsgebiete. Zielgruppe der auf lange Dauer angelegten Reform war das aufstrebende Bürgertum der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, für das das Gymnasium mit Matura ein nach ethischen Gesichtspunkten (Neo-Humanismus) konzipiertes Bildungsfundament errichtete und dessen sozialen und politischen Aufstieg förderte. Kinder aus dem Bauern- oder Arbeitermilieu war es zunächst verschlossen, sieht man von kirchlichen Schulen ab, deren Ziel die Rekrutierung geistlichen Nachwuchses aus allen sozialen Schichten war.432 Die gymnasiale Matura symbolisiert über ein Jahrhundert ein attraktives Ingrediens höherer Bildung, ihr Produkt war der „Bildungsbürger“. Konzeption und rechtliche Auswirkungen haben sich als äußerst stabiles Element innerhalb des Schulsystems erwiesen. Ausgehend von den Gymnasien entfaltete die Matura eine Strahlkraft in alle Bildungsbereiche und wirkte als Vorbild für Abschlussprüfungen aller Typen des höheren Schulwesens und darüber hinaus (Abendmatura, Berufsmatura, Lehre mit Matura). Angelegt war sie auf eine strenge Überprüfung umfassender Wissens-Canones und auf Selektion, um die Besten zum Studium zuzulassen.433 Systemisch gesehen, erwies sich die Matura als Erfolgsmodell, was u. a. ihre erstaunliche Stabilität belegt. Erst 1974 wurde sie durch eine Novelle des Schulunterrichtsgesetzes (SchUG) neu geregelt.434 Zwar blieb sie im Wesentlichen in zwei Teile (schriftliche Klausuren und mündliche Prüfungen), gegliedert. Die mündlichen Prüfungsfächer waren aber von nun an aus drei Gruppen (Sprachen, Geistes- und Naturwissenschaften) zu wählen. Den Kandidat*innen wurden zwei voneinander unabhängige Wissensfragen zur Beantwortung vorgelegt. Standards für die Formulierung der Fragen gab es nicht. Sie mussten bloß dem Erfordernis genügen, den Stoffgebieten der Oberstufe zu entstammen, die wiederum den Lehrplänen zu entsprechen hatten. Formuliert wurden sie, wie 1853 verordnet, von den Lehrpersonen. Die Prüfung in einem Fach wie Geschichte dauerte zwischen zehn und 15 Minuten. Der*die klassenführende Lehrer*in der 8. Klasse war zugleich prüfendes Organ, stellte nach dem Prüfungsvorgang in einer Konferenz allen Lehrer*innen der 8. Klasse einen Benotungsantrag, der in Rechtskraft erwuchs, wenn er angenommen wurde.435 Dem Trend zur Individualisierung des Unterrichts Rechnung tragend, wurde die Matura 1986 modifiziert, indem Elemente der Individualisierung in das Prüfungsverfahren integriert wurden. Movens der Reform war die bildungspolitische Intention, die Prüfung um Aspekte selbstständiger Schüler*innen-Lernarbeit und Berücksichtigung persönlicher Interessen zu erweitern. Daher wurde die mündliche Prüfung in zwei Komplexe geteilt: Der eine hatte wissensorientierte „Kernbereiche“ (Stoffgebiete aus der Oberstufe) zum Thema. Über die ausgewählte Frage (zwei waren dem*der Kandidaten*in vorzulegen) war in ein fünf bis sieben Minuten dauerndes Prüfungsgespräch einzutreten (dialogischer Charakter). Der andere Komplex entstammte einem „Spezialgebiet“, das die Kandidat*innen im Vorfeld der Reifeprüfung selbstständig zu erarbeiten hatten. Hieraus formulierte P eine Frage, über die gesprochen zu werden hatte. Beide Fragen mussten unabhängig voneinander positiv bewältigt werden. Eine zusätzliches Individualisierungselement erwuchs aus der Reform des Unterrichts. Mit der Verpflichtung der Schüler*innen, einen „vertiefenden Wahlpflichtgegenstand“436 (WPG) zu besuchen, hatten sie eine Vorentscheidung bezüglich ihrer Reifeprüfung zu treffen, denn die Anmeldung zu einem WPG verpflichtete sie zur Absolvierung der Reifeprüfung in diesem Fach. Der Gesetzgeber ging von der Überlegung aus, dass die Bekundung eines besonderen fachlichen Interesses im Zuge der Oberstufenschullaufbahn (Wahl eines WPG) in der abschließenden Prüfung sichtbar gemacht zu werden hatte. Daher war, nebst der fachlichen Hauptprüfung, eine („Kern“-)Frage aus dem WPG zu beantworten (Wahlmöglichkeit aus zwei Fragen). Die Prüfenden beider Prüfungsteile mussten in der Folge auf einen gemeinsamen Notenvorschlag der Konferenz vorlegen. Schließlich wurden auch freiwillige Formen der Individualisierung geschaffen. Eine davon war die Möglichkeit der Abfassung einer „Fachbereichsarbeit“. Sie hatte nach wissenschaftlichen Methoden angefertigt und von einer Lehrperson betreut zu werden. Das Thema der Arbeit war zwar frei wählbar, musste aber einem Fach zugeordnet sein. Das Format galt als Element der Begabtenförderung. Eine dritte Möglichkeit selbstständiger Schwerpunktsetzung war das Absolvieren einer fächerübergreifenden Prüfung. Dazu wurden Themen formuliert, die eine Schnittmenge zweier Unterrichtsfächer aufwiesen. Die Inhalte waren durch die Schüler*innen selbstständig zu erarbeiten und zu lernen. Aus den Themenfeldern wurde von zwei Prüfenden je eine Frage gestellt, um die Fächerkombination zu repräsentieren.437 Ungeachtet der Bemühungen um Individualisierung und Spezialisierung blieb nach der Reform von 1986 die Wissens- und Inhaltsorientierung der Reifeprüfung dominierend und die Maturareform geriet in die Kritik. Einwände wurden gegen die Fachbereichsarbeit formuliert. Man beanstandete sowohl die punktuell als übertrieben empfundene Betreuung einzelner Kandidat*innen durch Lehrpersonen, die zur Abfassung von Arbeiten führte, die an universitäre Diplomarbeiten gemahnten, aber auch die gute Bewertung qualitativ und quantitativ unzureichender Produkte. An der Erarbeitung der Spezialgebiete wurde die immer wieder feststellbare oberflächliche Vorbereitung mittels neuer Medien (z. B. Wikipedia-Ausdrucke als Lerngrundlage) bemängelt, da sie dem Gedanken einer auf Fachliteratur gestützten Spezialisierung zuwiderlief. Und die fächerübergreifende Prüfung schien den Charakter eines zweckarmen Kunstproduktes aufzuweisen, da das Vorhaben der Etablierung eines fächerübergreifenden Unterrichts aus Kostengründen nicht realisiert worden war. Improvisationen prägte die Erarbeitung der Prüfungsgebiete. Die Matura galt daher als reparaturbedürftig.438

      Die Gelegenheit dazu bot sich mit der Einführung von Bildungsstandards (2008) und des didaktischen Prinzips kompetenzorientierten Unterrichts (2008–2018).439 Es wurde zum bildungspolitischen Ziel, den jahrzehntelang dominanten inhaltszentrierten Unterricht von einem kompetenzorientierten abzulösen.440 Mit einem retardierenden Moment von mehreren Jahren folgte das österreichische Bildungssystem europaweiten Trends. Die Bildungspolitik akzeptierte allmählich, dass Erkenntnisse aus der schulischen Praxis, Ergebnisse empirischer Qualitätsuntersuchungen zur Wirkung von Unterricht (TIMSS, PIRLS, PISA u. a.), der Umbaus der tertiären Bildungs- und Ausbildungsgänge nach den strukturellen Vorgaben der „Bologna-Architektur“ (Erwartungen bezüglich der Studierfähigkeit der Maturant*innen) und der Versuch der fachdidaktischen Wissenschaften, angemessene Antworten auf die Herausforderungen sich ändernder Lehr- und Lernbedingungen zu entwickeln, schulrelevant waren. Letzteres war in Österreich auf wenig Beachtung gestoßen, weil die fachdidaktischen Wissenschaften auf universitärer Ebene ein Schattendasein gefristet hatten. Es gab bis ins beginnende 21. Jahrhundert kaum Fachdidaktik-Lehrstühle an österreichischen Universitäten, daher wenig anerkannte österreichische Forschungsergebnisse zu fachdidaktischen Fragen und kaum autochthone Beiträge zur Weiterentwicklung des historisch gewachsenen österreichischen Bildungssystems. Die Lehrerausbildung befand sich in den Händen der Fachwissenschaften, die didaktische Fragen nur am Rande interessierte. Wenn es erforderlich war, nahm man an deutschen Entwicklungen Maß. Die Fortbildung der Lehrer*innen lag zunächst in der Agenda staatlicher Pädagogischer Institute, deren Personal sich überwiegend aus dem Schulsystem rekrutierte und wurde 2008 den neu gegründeten Pädagogischen Hochschulen übertragen, deren berufsfeldbezogene didaktische Forschungsbemühungen erst allmählich in die Gänge kam.441 Fachdidaktische Impulse, so auch der wirkmächtige Anstoß zur Einführung des Prinzips der Kompetenzorientierung, erfolgten von außen, vor allem aus Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die fachdidaktischen Modelle grosso modo deutschen Forschungsbemühungen entstammen und in Ermangelung eigener Entwicklungsarbeit von Österreich übernommen wurden.442

      Im Gegensatz zu den Modifikationen von 1974 und 1986 intendierte die Reifeprüfungsreform 2010 nicht bloß die Adaptierung des Prüfungsmodus


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