Rohstoff-Trading mit System. Carsten Stork

Rohstoff-Trading mit System - Carsten Stork


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„Junior-Trader“ eine immense Verantwortung und bewegte teilweise dreistellige Millionenbeträge.

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       Quelle: Privat

       ABBILDUNG 1.1 | MINIATURRADIO

       Die „gute alte Zeit“

      Vergleicht man einen Handelsfloor aus den 90er-Jahren mit der heutigen Zeit, war das wahrhaftig eine andere Welt. Auf dem Trading Floor, auf dem ich damals arbeitete, ging es Tag für Tag heiß her. Alle Abteilungen saßen eng beisammen: Kundenhandel, Eigenhandel, Aktien-Sales, Derivate und Research dicht gedrängt auf einem Stockwerk – heute undenkbar! Es herrschte ein rauer Ton, viel Geschrei und Hektik, natürlich durfte auch geraucht werden. Manch ein Händler qualmte am Tag locker zwei Packungen Zigaretten. Die alten Börsianer schwebten majestätisch über den Floor, um dann gemütlich vom Bahnhofsviertel zur Frankfurter Wertpapierbörse in der Innenstadt zu schlendern. Sie hatten alle ihr Geld gemacht – Compliance gab es damals nicht wirklich. Die Musik spielte auf dem Parkett, das elektronische Handelssystem IBIS steckte noch in den Kinderschuhen und der typische Händler hätte sich schwer vorstellen können, dass sich in wenigen Jahren die Liquidität vom Parkett auf die elektronische Plattform Xetra verlagert. Vorreiter war sicherlich der Handel mit dem Bund-Future (10-jährige deutsche Bundesanleihe), einem der liquidesten und meistgehandelten Futures am Pit der Londoner Terminbörse LIFFE. Nach dem Zusammenschluss der Deutschen Terminbörse mit der Schweizer Terminbörse Soffex im Jahr 1998 wanderte immer mehr Liquidität vom Parkett zur elektronischen Plattform. Heute findet so gut wie kein Umsatz mehr auf dem tristen Parkett der ehemaligen Weltbörsen statt, sie dienen eher als Kulisse für die täglichen Börsenberichte. Der Börsenhändler von damals war sicherlich ein anderes Kaliber als heute. Das gesprochene Wort zählte, und eine gewisse Standhaftigkeit „am Glas“ in den Bars und Kneipen war auch gefragt. Zarte Charaktere und vermeintliche Schwächlinge hatten in der damaligen rauen Welt nicht viel zu lachen. Der typische Trader von heute ist ein Uni-Absolvent mit hervorragendem Abschluss, bedient die automatischen Handelssysteme, übermittelt die Ausführungen dem Kunden online und geht nach Handelsschluss in ein Fitnessstudio. Ich bezweifele, dass es heute in den Banken noch Trader gibt, die sich annähernd vorstellen können, wie es sich anfühlt, am 30.12. im „Bitburger“ zu stehen und Briefkurse auf die eigene Hose, Schuhe und Hemd stellen zu müssen. Der junge Kollege von damals musste dann nackt im Schneetreiben (die Jacke wurde ihm gelassen) über die Freßgass laufen und war um 5.000 Euro reicher. Im Jahr 2020 undenkbar!

      DER AKTIONÄR: Wir werden im Laufe dieses Buches ja immer wieder einzelne Anekdoten aus Ihrem persönlichen Handelsleben hören. Bevor wir nun in die Sachthemen einsteigen, noch eine Frage: Weshalb dieses Buch, weshalb dieser Zeitpunkt?

      Stork: Nach unserem Ausstieg aus der Bankenwelt haben wir uns 2013 selbstständig gemacht. Ursprünglich haben wir diskretionär gehandelt, haben aber schnell erkannt, dass es schwierig ist, zu zweit mehr als 20 Märkte gleichzeitig im Auge zu behalten. So kamen wir auf die Idee, ein mechanisches System zu entwickeln, das uns dabei hilft. In der Fachwelt werden diese Systeme Algorithmen genannt. Unser erster Algorithmus war damit geboren. Zuerst als reine Handelsunterstützung bei der Beobachtung der verschiedenen Märkte konzipiert, entwickelten wir ihn bis Oktober 2015 zu einem vollautomatischen Handelssystem weiter. Wir sind nun also seit mehr als sieben Jahren in diesem Bereich aktiv und wollen mit dem Buch unsere Erfahrungen und Erlebnisse zusammenfassen.

      Hechler: Wir sind inzwischen auf allen interessanten Rohstoffmärkten unterwegs. Wir mögen Volatilität – und irgendwo in den Rohstoff-/FX-Märkten ist immer etwas los. Im Sommer 2017 haben wir angefangen, nach einem Algo zu suchen, der uns entsprechende Signale im Trendfolgebereich liefern kann. So ist dann der zweite Algorithmus entstanden: ein Trendfolgesystem, das basierend auf Chartkonstellationen, Commitments-of-Traders-Daten (CoT) und saisonalen Effekten Kauf- und Verkaufssignale auswirft, die dann aber noch einer diskretionären Überprüfung unsererseits unterzogen werden. Wir werden in unserem Buch an anderer Stelle detailliert darauf eingehen. Unser Zeithorizont hat sich hier erweitert: Positionen werden Tage, ja manchmal Wochen gehalten. Live gegangen ist das System im Mai 2018.

      Seit August 2019 werden die Signale und Trade-Set-ups in einer zweiwöchentlich erscheinenden Publikation, dem ALGOreport, besprochen. Wir haben einiges richtig, aber auch vieles falsch gemacht. Dieses Buch soll eine Orientierung für Trader sein, und damit es nicht zu langweilig und sachlich wird, haben wir unsere letzten 25 Jahre an den verschiedenen Börsen noch einmal Revue passieren lassen und einige „Storys“ festgehalten.

      KAPITEL 2

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       VOM PRÄSENZ-ZUM ELEKTRONISCHEN HANDEL – START DES ALGORITHMISCHEN TRADINGS

      DER AKTIONÄR: Herr Hechler, zu welchem Zeitpunkt Ihrer Karriere haben Sie denn die ersten Erfahrungen mit Handelssystemen gemacht?

      Hechler: Das war in den 90er-Jahren, als ich im Portfolio-Trading gearbeitet habe. Ein Fokus unserer Arbeit war damals die Arbitrage von DAX Kasse gegen den DAX-Future. Im November 1990 legte die damalige Deutsche Terminbörse, also die heutige Eurex, den DAX-Future auf (FDAX). Der DAX notierte vor 30 Jahren noch bei knapp 1.500 Punkten, jeder Punkt entsprach einem Gegenwert von 100 DM, der gesamte DAX kostete damals also rund 150.000 DM. Die Handelszeit war überschaubar: von 11:00 Uhr bis 14:00 Uhr. Wir rechneten den DAX damals in einem Excel-Sheet, das mit den Reuters-Kursen vom Frankfurter Parkett verknüpft war, manuell nach und hatten den Future parallel mitlaufen. Sobald sich eine Differenz von mehreren Punkten (konnte variabel eingestellt werden) zwischen dem FDAX und der Kasse ergab, wurde der Future verkauft (oder gekauft), und der Börsenmakler auf dem Parkett wurde angerufen und kaufte (oder verkaufte) einen von uns vordefinierten Basket der 30 DAX-Werte. Nach wenigen Minuten bekam man die Kurse vom Makler angesagt, die einzelnen Trades wurden dann von einem Junior-Trader oder einem selbst eingegeben. So konnten pro Basket, je nach Ausführungen der einzelnen Aktien auf dem Parkett, zwischen 1.000 und 5.000 DM „risikofrei“ verdient werden. Am letzten Handelstag des DAX-Futures wurden die Positionen dann wieder glattgestellt, für den Börsenmakler auf dem Parkett war das viermal im Jahr der große Zahltag. Idealerweise hatte der Makler einen Kontrahenten, der die Kasse long war, und einen Kontrahenten, der die Kasse short war, somit konnte er beide Seiten risikolos „crossen“ und kassierte zweimal die Kommission. Im Laufe der Jahre kannibalisierte sich der Arbitrage-Handel aber von allein, da immer mehr Marktteilnehmer etwas vom „free lunch“ abhaben wollten und die Margen so stark schrumpften, dass nach Kosten kaum noch ein Gewinn übrig blieb.

      DER AKTIONÄR: Herr Stork, oft wird davon gesprochen, dass die Verschiebung des Umsatzes an den Börsen von den physischen Präsenzplätzen zu den elektronischen Handelssystemen den Startschuss für die Entwicklung des Algo-Tradings gegeben hat. Sehen Sie das auch so, und wenn ja, wann hat diese Entwicklung eingesetzt?

      Stork: Diesbezüglich eines der einschneidendsten Erlebnisse war mein Besuch an der Londoner Börse LIFFE am 9. Oktober 1997. An diesem Tag hat die Deutsche Bundesbank den dritten Leitzins von 3 Prozent auf 3,3 Prozent erhöht. Das am meisten gehandelte Produkt der Londoner LIFFE war ein Terminkontrakt auf Bunds, die 10-jährige deutsche Staatsanleihe. Die DTB bot damals schon ein identisches Produkt an und hatte als elektronische Börse eine niedrigere Kostenbasis. Bis Ende 1996 war die LIFFE die mit Abstand größte Terminbörse in Europa, gefolgt von der MATIF in Paris und der DTB in Frankfurt. Die DTB war eine 1990 gegründete elektronische Börse und der Vorgänger von Eurex. Ich war damals genau zu dem Zeitpunkt der Zinserhöhung in der Nähe des Bund-Future-Pits. Die Präsenzbörsen waren damals noch in unterschiedliche „Pits“ unterteilt, räumlich abgetrennte Bereiche, in denen ausschließlich bestimmte Produkte gehandelt wurden. Die Reaktion war gewaltig: Innerhalb weniger Minuten wurden Millionen von Kontrakten gehandelt. Ein englischer Kollege erzählte mir damals, dass


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