Ulrike Woytich. Jakob Wassermann

Ulrike Woytich - Jakob Wassermann


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ein halbes Mannsbild sei und sich allerwegen habe ihrer Haut wehren müssen. Und sie erzählte im kollegialsten Ton ein paar lustige Episoden aus ihrem bewegten Wanderleben. Da wurde Lothar zahm. Er lauschte vergnügt und mit bewundernder Miene. Sie gingen dabei im Zimmer auf und ab, und Esther und Aimée, die ihren Augen nicht trauen wollten, vergassen weiterzulesen und blickten entgeistert drein, mit den Köpfen automatenhaft ihrem Auf- und Abschreiten folgend. Aus ihrem düsteren Staunen über die rasche Abtrünnigkeit des Bruders schloss Ulrike heimlich belustigt auf den Umfang der Verschwörung.

      Als sie einmal so weit war, bedurfte es keiner grossen Anstrengungen mehr, Lothar völlig auf ihre Seite zu ziehen. Sie fand neben allem andern Wirken, das sich von Tag zu Tag breiter entwickelte, immer noch Zeit und Gelegenheit, sich mit ihm zu beschäftigen. Sie holte ihn schlau über seine Wünsche und Neigungen aus und unterstützte sie, ohne zu deutlich zu werden. Bloss indem sie sich wunderte, wusste sie den Geist der Widersetzlichkeit in ihm zu wecken. Wenn er plötzlich kühn in seinen Äusserungen wurde, warnte sie ihn, aber in solcher Art, dass ein Gelüst erst recht wachgerufen wurde. Sie liess durchblicken, wie leicht die eisernen Gebote, die ihn umschränkten, zu umgehen waren, dabei schien es, als bestärke sie ihn in seiner Furcht vor Übertretungen, so dass sie sich im gegebenen Fall immer rechtfertigen konnte. Sie lieh ihm kleine Geldbeträge. Sie schlug die Hände überm Kopf zusammen, als er ihr verriet, dass er zwanzig Kreuzer Taschengeld in der Woche bekam. Damit liessen sich keine grossen Sprünge machen, sagte sie mitleidig und erzählte von jungen Lords und jungen Grafen, die mit Goldstücken um sich würfen wie gewöhnliche Menschen mit Zwetschenkernen. Sie verstand es, sittliche Entrüstung über eine solche Charakterbeschaffenheit zu äussern und zugleich einen verklärenden Schein um sie zu malen, in den Tadel einen Seufzer nach den verbotenen Früchten zu mischen, und hatte jedesmal das Vergnügen, zu beobachten, wie der Schlummer des Verlangens in wissenden Wunsch überging. Dann aber beschwor sie ihn, das Verderben zu meiden und ein gehorsamer Sohn und anständiger Mensch zu bleiben.

      Er gelobte es treuherzig.

      Da er ihr Schuldner geworden war, die Beträge liefen freilich nicht über zwei oder drei Gulden, geriet er auch in Abhängigkeit. Und da sie als Weib Eindruck auf ihn machte, war seine Unterwerfung freiwillig und enthusiastisch. In seinem Gemüt begann es zu brodeln und zu sieden; jeder Blick, jedes Wort Ulrikes nährte Unzufriedenheit mit dem Bisherigen; die Fesseln, die er kaum gespürt, weil sie gleichsam in die Existenz hineingewachsen waren, fingen an, zu drücken; die Regel und Gebundenheit der Tage erregte eine böse Ungeduld; er wollte über sich hinaus, über die Jahre hinaus, über die Vorschrift hinaus, das Blut war erhitzt, formlose Entschlüsse ballten sich.

      Diesen gefährlichen Prozess vor den wachsamen Augen Christines zu verbergen, war für Ulrike nicht leicht. Aber sie hatte darin die Taktik der Taschenspieler, die durch unablässige Beweglichkeit und witziges Mundwerk die Aufmerksamkeit von ihrem Tun abzulenken wissen. Und es gelang ihr, Christine nicht bloss zu täuschen, sondern ihr auch die Meinung beizubringen, dass sich Lothar, seit sie ihm ihre kameradschaftliche Teilnahme zugewendet, sehr zu seinem Vorteil verändert habe, dass er umgänglicher, freier und zielbewusster geworden sei. Ursache genug, Ulrikes pädagogisches Talent zu preisen. Nicht selten musste Christine lächeln, wenn Lothar in den überschwenglichsten Ausdrücken von seiner neuen Freundin sprach; auch Josephe lächelte dann, zustimmend und erfreut wie ihre Mutter; nur Esther und Aimée waren nicht im selben Mass von Ulrikes Vollkommenheit durchdrungen; mit ihnen hatte auch Ulrike viel mehr Mühe als mit den andern; sie stiess da auf ein unbesiegliches Misstrauen, ein eingeborenes und allgemeines, nicht gerade auf die Person gerichtetes. Fast schien es Trägheit, tiefer geistiger Schlaf. Alle Versuche, die beiden aus ihrer dumpfen Ruhe zu scheuchen, waren gescheitert. Ulrike überlegte allerlei und griff endlich zum Nächstliegenden. Der Erfolg war unerwartet.

      Eines Tages, kurz nach Tisch, kam sie und fand beide Schwestern wieder über einem Roman sitzend. Die Erlaubnis, sich dieser Leidenschaft hinzugeben, war ihnen täglich für eine Stunde erteilt, und mit dem Glockenschlag pflegten sie, auch in der spannendsten Stelle, aufzuhören. Lothar misshandelte im Zimmer nebenan das Klavier, er hatte einen freien Nachmittag; als er Ulrikes Stimme vernahm, erschien er sogleich. Ulrike fragte, wo die Mutter sei; Aimée gab keine Antwort; Esther entschloss sich erst nach einer Weile dazu; sie sagte, die Mutter sei mit dem Vater fortgegangen; sie seien beide zum Schuster, der eine bereits bezahlte Rechnung zum zweitenmal geschickt habe; darüber habe sich der Vater bei Tisch sehr aufgeregt.

      Hinter die Schwestern tretend und sich zwischen ihnen herabbeugend, griff Ulrike nach dem Buch. Sie klappte es zu und las den Titel: Europäisches Sklavenleben von Hackländer. Da lachte sie in sich hinein, legte den Arm um beider Schultern und flüsterte, sie habe sich etwas Prächtiges ausgedacht, es müsse aber vorläufig Geheimnis bleiben und sie erwarte von ihnen Verschwiegenheit. Die neugierig Gewordenen sahen sie fragend an, und sie sagte so leise, dass Lothar, der eifersüchtig am Ofen lehnte, sie nicht verstehen konnte, sie wolle am nächsten Dienstag mit ihnen den Akademieball besuchen; sie habe sich alles schon zurechtgedacht, und wenn sie klug sein und ihr folgen würden, sei das Gelingen sicher.

      In einem Nu waren die zwei Mädchen umgewandelt. Die Augen strahlten, in den Mienen war Leben und Hoffnung. Maskenredoute; sie hatten dergleichen nie gesehen; dass es möglich sein konnte, dabei zu sein, hatten sie nie zu denken gewagt. Sie mussten sich mit den Abenteuern in den Leihbibliotheksbüchern begnügen. Bedauerten sie auch, dass es nur eine törichte Tapete war, deren erlogene Farben sie narrten, so wurde ihre Phantasie doch heiss dabei; abends lagen sie seufzend in ihren Betten, warteten in den Schlaf hinein und sahen zu, wie die ausschweifenden Träume an der nüchternen Wirklichkeit zerschellten.

      Doch ist Beziehung und daher Geschick auch im Unerfüllbaren; auch da zeigt sich das Wesen und gräbt im Finstern seinen Weg. Während Esthers Verlangen auf ausserordentliche Begebenheiten gerichtet war, die verworrenen Qualen und Freuden der grossen Leidenschaften, in denen sie sich als hingerissen Liebende und Opfernde erblickte oder als hoheitsvolle Gebieterin ungerührt an Anbetenden vorüberschritt, hingen die Gedanken Aimées an Bildern von verschwenderischer Pracht und exotischem Luxus, und sie war im Sinnen und Wünschen mit Festen, Aufzügen und grossartigen Entfaltungen so vertraut, dass sie bloss die Augen zu schliessen brauchte, um innerlich davon zu glühen.

      Die erste Frage war natürlich: woher das Geld nehmen? „Lasst mich dafür sorgen,“ beruhigte sie die Verlockerin; „ich hab es schon genau erwogen, wir ziehen die Mutter ins Komplott, im schlimmsten Fall behelfen wir uns mit einer Anleihe.“ Es solle dies auch keineswegs die einzige Gelegenheit bleiben, verhiess sie bedeutungsvoll; sie wisse eine Geldquelle, die nur darauf warte, von einer berufenen Hand zum Fliessen gebracht zu werden. Esthers und Aimées Gesichter bedeckten sich mit dem zarten Rot der Erregung. Wie aber war das Ausbleiben am Abend und in der Nacht vor dem Vater zu verbergen? Nichts leichter als das. Ulrike lädt sie zu sich in ihre Behausung. Schliesslich: was solle man anziehen? Geliehene Kostüme? Gott bewahre; aus alten Fetzen liessen sich zu solchem Zweck die köstlichsten Gewänder schneidern.

      Also gleich ans Werk, gleich ans Suchen. Lothar schaute pfiffig drein; aus aufgeschnappten Brocken hatte er erraten, was vorging. Dennoch erkundigte er sich, um von Ulrike in aller Form eingeweiht zu werden. Ulrike fuhr ihm mit der Hand durch die Lockenwildnis und antwortete, wenn er hübsch artig sein und Feuer schüren wolle, denn es sei wieder einmal barbarisch kalt bei Myliussens, werde man ihn ins Vertrauen ziehen. Er flammte auf unter ihrer Berührung, doch die Weisung, Feuer zu machen, flösste ihm Bedenken ein; Vater habe verboten, am Nachmittag zu heizen, sagte er; man müsse sich in acht nehmen, da es ihm bisweilen einfalle, den Bestand in der Kohlenkiste zu kontrollieren. Ulrike versetzte unwillig, es passe ihr aber nicht zu frieren; sie nehme die Verantwortung auf sich, und wenn Herr Mylius etwas dawider habe, werde sie ihm ein paar Zentner Kohlen schenken. Die aufrührerische Rede rief Bestürzung bei den Geschwistern hervor, aber nach einigem Zaudern gehorchte Lothar mit triumphierender Miene, denn seine Vorstellung von Ulrikes Macht war unbegrenzt. Ulrike fasste jedes der Mädchen an einem Arm; sie fegten durch alle Räume, kramten in allen Schränken, und lachend und jubelnd wurde da ein Stück Stoff oder Seide, dort ein Schleier, ein Spitzenrest, ein altes Band hervorgezogen.

      Es dämmerte schon, da kam Josephe aus der Handarbeitsschule, gleich danach auch Christine. Man war betroffen, wollte aber nichts erklären; Ulrike kniete mit aufgehobenen Händen vor Christine,


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