Die andere Seite der Stille. Andre Brink

Die andere Seite der Stille - Andre  Brink


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über meine aussichtslosen Nachforschungen, die mich an jenem regnerischen Morgen meines Besuchs in Bremen so besonders empfänglich für die Bilder Paula Modersohn-Beckers in der Sammlung Roselius machte. Diese Augenblicke von Menschlichkeit, von Weiblichkeit, diese einsamen und ärmlichen Figuren; Bilder einer fast schon beängstigenden Einsamkeit und doch auch wieder von Trotz, ein Universum aus Melancholie und Zurückhaltung und gedeckten Farben, hinter dem man eine geheime Welt vermutete, die auf ewig versiegelt bliebe, und die der Betrachter nur erspüren konnte, in die er aber nie Einlass finden würde.

      Mir, dem männlichen Betrachter, wollte es so vorkommen, als werde hier die Essenz des Frau-Seins gezeigt; das Pathos, entweder rettungslos jung oder rettungslos alt zu sein, fiel hier auf bemerkenswerte Weise in eins.

      Ich erinnere mich von dieser Reise nach Deutschland nur an ein einziges weiteres Bild, das mir so tiefen Eindruck hinterließ: Ein »Feierabend« betiteltes, großformatiges Gemälde in der Neuen Pinakothek in München, das von einem Künstler war, dessen Namen ich auf ein Stück Papier kritzelte, das ich seither verloren habe. Ein sehr junges Mädchen sitzt an einem Küchentisch, daneben ein ältlicher, bäuerlicher Freier, der dem Betrachter den Rücken zukehrt. Eine seiner großen, groben Hände liegt auf ihrem Schenkel. Sein gesamter Körper, die schlecht sitzende Joppe, der niedrige Hinterkopf, alles ist die Verkörperung eines Verlierers – aber eines gemeinen, gewalttätigen, versoffenen und brutalen Verlierers. Sie selbst ist sichtlich ebenfalls arm. Aber sie ist jung und ihr dünner Körper kann kaum die Wut und den Abscheu verbergen, die dieser Augenblick, der über ihr ganzes restliches Leben entscheiden wird, in ihr hervorruft. Die Einsicht, dass dies hier der allerletzte Mann ist, den sie will, und doch zugleich vielleicht der einzige, den sie je wird besitzen können, raubt ihr alle Kraft.

      Hinter dem Bremer Museum, in dem ich den gesamten Vormittag verbrachte, die Melancholie von Paula Modersohn-Becker um mich geschlungen wie ein fadenscheiniges Schultertuch, liegt der Rathausplatz, auf dem die aus der Nachkriegszeit stammende Skulptur der Bremer Stadtmusikanten steht, jener klapprigen alten Rosinante von einem Esel, des räudigen Hunds, der Katze, die nur noch Haut und Knochen ist, und des gerupften Hahns aus dem Märchen der Brüder Grimm. Ihr kakophonisches Geschrei ist versteinert, aber während ich den Platz verließ, konnte ich mir gut vorstellen, mit welcher höllischen Lust die vier, bekämen sie eines Winterabends auch nur den Bruchteil einer Chance dazu, wieder loslegen würden und schreien, bellen, miauen und krähen, bis die Panik vor der ewigen Verdammnis wie ein Blitz in Räuber und anständige Bürger gleichermaßen hineinfahren würde.

      Ebenfalls vom Rathausplatz tönte nachts – und das ist für mich seither die Erkennungsmelodie Bremens geblieben – Glockengeläut herüber, welches das gesamte Hotel Übersee erfüllte, in dem ich untergebracht war. Es dauerte lange Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, und rief alle ruhelosen Seelen entweder in den Himmel oder in die Hölle. Offenbar waren es Glocken verschiedener Größe und Form, von denen zumindest eine, dem Klang nach zu urteilen, gewaltig sein musste. Sie tönte in einem sonoren, unirdischen Dröhnen, das mir die Vorstellung von einem riesenhaften Bildhauer eingab, der das Chaos formte und bildete und eine ganze Stadt daraus schuf, mitsamt ihren Menschen und deren dunkler Geschichte, und die Glocke läutete und läutete durch Jahrhunderte von wimmelndem, wuselndem menschlichem Leben, durch Hoffnung und Verzweiflung und Leid, Leid und nochmals Leid.

      Aus diesem Bremen, aus diesem Klang, aus der Erinnerung an diese abgerissenen Musiker, entstand Hanna X. Erstand in ein Leben, das von ihren mehreren eigenen Toden strukturiert war. Der erste davon musste schon stattgefunden haben, bevor sie noch mehr tot als lebendig auf der Türschwelle jenes Heims von den Kindern Jesu in der Hutfilterstraße abgesetzt worden war. Danach folgten zwei weitere im Laufe der Waisenhausjahre. Einer, von dem wir mit Sicherheit wissen, auf der Hans Woermann unterwegs im pechschwarzen Meer von Hamburg über Madeira und Teneriffa, die afrikanische Küste hinab. Und dann natürlich x-mal in Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia geheißen. Jeder dieser Tode eine Häutung und ein Neubeginn, wie der Menstruationskreislauf. Ein wenig Trauer, ein wenig Feierlichkeit. Tatsächlich geht das Leben immer weiter. Und jeder dieser Tode könnte der Beginn einer Erzählung sein, jeder könnte, wie der Klang der großen Glocke in Bremen, die Erschaffung eines Menschen bedeuten oder die von Leuten, von Erinnerungen, von Geschichte.

      Für mich liegt, aus Gründen, die zu kompliziert zu erklären sind, der Moment, in dem das Leben der Hanna X zu einer Geschichte wird, nicht am Zeitpunkt eines ihrer Tode, sondern dazwischen, nämlich in dem düsteren Gemäuer von Frauenstein, das sich vor dem nächtlichen Himmel abzeichnet wie die Silhouette eines mächtigen Schiffs, das in der Wüste gestrandet ist: Im Schein einer tropfenden Kerze starrt sie in einen zerbrochenen Spiegel, der auf dem Treppenabsatz steht und der ihr Bild im Vorübergehen festgehalten hat wie ein Gespenst. Es ist das erste Mal, seit sie hierher gebracht wurde, das erste Mal in drei Jahren, sieben Monaten und dreizehn Tagen, dass sie sich in einem Spiegel gegenübersteht.

      Sie zuckt nicht zusammen. Das liegt daran, dass das Spiegelbild so fremd ist, dass sie keine Erinnerung damit vergleichen könnte. (Sie hat nicht immer so ausgesehen.) Dies hier könnte ebenso gut ein Gespenst sein, einer der zahllosen Schatten, die sich nachts durch Frauenstein stehlen und manchmal sogar am Tag. Sie mustert das Bild so gleichmütig und objektiv, als handele es sich um eine große bleiche Motte, die hinter dem Glas aufgespießt wäre. Ohne Furcht, schließlich lebt das Ding nicht. Die Büschel blonden oder grauen Haares, krumm und schief mit dem Küchenmesser abgeschnitten, wabern wie Plasma um das Gesicht herum. Ein Teil des rechten Ohrs fehlt, was ein dunkles Loch in einer Art Pilz hinterlässt. Links nur eine halbe Augenbraue, die sich in eine Zickzacklinie von Narbengewebe verliert. Das Auge darunter steht leicht hervor, als wäre es herausgenommen und nicht wieder richtig zurückgedrückt worden. Die knochige Nase ist krumm. Die gesamte Fläche des Gesichts überzieht ein Netz von Narben, manche von ihnen verblasst, andere rötlich. Das Erschreckendste ist die Grimasse, die den dünnlippigen Mund in die Breite verzieht, der selbst eher wie eine Narbe als wie eine Körperöffnung aussieht: Er öffnet sich über einen Teil des rechten Kiefers unterhalb des Wangenknochens, sodass man die zerbrochenen Zähne sehen kann, die schief im Kiefer stecken. Ein Gesicht, das sich bereits auf halbem Wege zum Totenschädel befindet. Möglich, dass dieses Bild, während sie dasteht und es anstarrt, sie doch fasziniert oder langsam zu faszinieren beginnt. Sie hebt die Kerze ein paar Zentimeter an und öffnet den Mund. Sie gibt ein Geräusch von sich. Aahh. Da ist keine Zunge. Nur ein kleiner schwarzer Stummel, tief im Rachen. Aahhh.

      Das muss also sie sein. Das muss es sein, was sie sehen, wenn sie sie ansehen. Aber normalerweise sehen sie natürlich weg.

      Jetzt sieht sie. Darauf ist es hinausgelaufen. Heute Abend hat sie einen Mann getötet. Sie allein ist wach in diesem dunklen, weitläufigen Haus.

      3

      Das Haus. Im Grunde mehr ein Auswuchs der Erde als ein Haus. In einer alttestamentarischen Landschaft stehend, einer Mondlandschaft, einer Traumlandschaft. Den Frauen, die hierher transportiert wurden, müssen die Tage und Wochen in von Mauleseln oder Ochsen gezogenen Karren nicht so sehr wie eine Reise durch einen geografisch oder geologisch zu definierenden Raum vorgekommen sein, vielmehr wie die Durchquerung einer geistigen Region, als müssten sie jeden Gedanken an einfache Zeit fahren lassen und vermutlich auch jede Hoffnung. Die Ankunft war dann der Eintritt in eine besondere Mentalität, ein Gefühlszustand, und zwar wahrscheinlich ein recht verzerrter. Kilometer und Kilometer und Tage von karger Erde, hier und da ein Büschel dürres Gras oder Gestrüpp, kleine, trockene Hügel und Höhenzüge, flache Passagen schuppigen Felsgesteins, das durch den unfruchtbaren Boden drang wie schwarze Knochen durch die Haut eines massigen Urwelttieres, das hier den Verwüstungen von Sonne und Wind ausgeliefert lag. Dann der langsame Anstieg hinauf zu dem hohen Tumulus erodierter Felsen, die vor allem bei Sonnenuntergang oder im Mondlicht aussahen wie eine Versammlung versteinerter Gestalten. (In jenen Tagen lebten Riesen auf der Erde.) Überragt wurden sie von einem, der den halbverrückten, sexuell ausgehungerten Männern aus der Wüste vorkommen mochte wie eine gigantische Frau, die Galionsfigur am Bug eines nicht mehr vorhandenen alten Schiffs, mit erhobenem Haupt und herrischen Brüsten, vielleicht so etwas wie eine groteske Parodie der Nike von Samothrake. Das zur Salzsäule erstarrte Weib Lots. Das war der Frauenstein.

      Direkt hinter der Frau erhebt sich das Haus,


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