Die andere Seite der Stille. Andre Brink
eines von den vielen Gespenstern, die durch das Gemäuer spukten.
Der einzige Mensch, zu dem sie offenbar Kontakt hielt, war Hanna X. Nachts schlich sich das Mädchen in den Frauenschlafsaal, um in der Dunkelheit, die sie beide fürchteten, ein wenig Trost zu finden. Niemand vermochte zu ergründen, was hinter diesem Versuch der Nähe steckte, niemand versuchte es auch nur. Und im Laufe der Zeit wurden die beiden fast unzertrennlich.
Katja konnte tagelang schweigen, ein Schweigen, das in unvorhersehbaren Abständen abrupt von Anfällen unkontrollierbarer Geschwätzigkeit unterbrochen werden konnte. Hanna musste darauf nicht viel antworten, und das war auch gut so, denn ohne Zunge konnte sie natürlich nicht sprechen. Aber dafür begann sie aus den Untiefen ihrer Erinnerung ein paar Bruchstücke der Zeichensprache zu Tage zu fördern, die sie zu einer Zeit hatte lernen müssen, als sie sich um einen wütenden tauben alten Mann und seine wütende taube junge Tochter gekümmert hatte. Die brachte sie stoßweise Katja bei, welche sie begierig lernte. In Fällen, in denen sie sich an die ursprünglichen Zeichen nicht mehr erinnerte, erfand sie neue. Die beiden hatten an diesem freudlosen Ort sogar Spaß daran, sich neue auszudenken. Eine geballte Faust für Mann, eine offene Hand für Frau. Daumen und Zeigefinger, die sich öffneten und schlossen für Vogel, eine sichelförmig gebogene Hand für Mond, eine Hand mit gespreizten Fingern für Sonne, ein Fingerkräuseln für Wasser, einfache und eindeutige Bewegungen, um Gehen, Laufen und Schlafen anzudeuten. Auf gemeinte Körperteile wurde schlicht mit dem Finger gedeutet.
Bald war Katja die einzige Frau in Frauenstein, mit der Hanna in gewisser Weise kommunizieren konnte, und Hanna war die Einzige, mit der Katja Lust hatte zu reden. Das besiegelte die ungewöhnliche Bindung zwischen den beiden. Da Frau Knesebeck und ihre Helferinnen mit einem scheelen Auge auf dieses Verhältnis blickten, versuchten sie es so gut sie konnten geheim zu halten. Aber fast jede Nacht trippelte Katja auf Zehenspitzen von ihrem Zimmer zu Hannas und schlüpfte zu ihr ins Bett. Was manchmal schmerzhafte Erinnerungen an ein anderes Mädchen, eine andere Frau in ihr Gedächtnis rief, aber die unterdrückte sie mit Gewalt. Das war ein Bereich in ihr, der versiegelt war und zu dem niemand so leicht Zugang bekommen würde. Falls da tatsächlich in manch ungeschütztem Moment die flüchtige Erinnerung an die geheimen Urtriebe und -sehnsüchte des Leibes aufkam, wurden sie unterdrückt, kaum dass sie verspürt wurden. Wenn Hanna überhaupt Gefühle für Katja hatte, dann waren es mütterliche, keine sexuellen. Und genau das erlaubte es ihnen beiden, zwischen den alten Mauern des riesenhaften Baus zu überleben, den die Wüste umgab und die Winde peitschten.
Der Frauenstein war zu weitläufig für seine Insassinnen. Es gab auf manchen der Etagen Räume, die seit Jahren nicht geöffnet oder betreten worden waren. Zu der Zeit, als Hanna X hier abgesetzt wurde, war der Wüstensand bereits in einige der Erdgeschosszimmer eingedrungen, war durch zerfallene Fensterläden und zerbrochenes Glas und klaffende Öffnungen hereingeweht, wo man die Türen ausgehängt und zu Feuerholz gemacht hatte. Der Sand stieg in den Ecken und an den Wänden in die Höhe, und langsam begann die Wüste diesen Ort, der einst zu ihr gehört hatte, wieder in Besitz zu nehmen. Selbst die bewohnten Räume litten unter dem schleichenden, unaufhaltsamen Verfallsprozess: Die früheren Ball- und Speisesäle, die Küchen mit den riesigen Kaminen, höhlenartige Säle und Empfangsräume mit kunstvollen Decken, aber auch die kleineren Zimmer, Zellen oder Kammern, wo die Insassinnen schliefen oder den Tag verbrachten und Luftlöcher starrten und vor sich hin murmelten, oder umherschlurften, masturbierten, ruhelos hin und her wanderten, sinnlose Stickereien machten oder Patchwork-Quilts oder Vorhänge oder Tischtücher oder Unterwäsche für eine imaginäre Aussteuer oder einfach dahockten oder sich vor nicht existierenden Spiegeln putzten oder sich mit Hilfe von Messern und Gabeln und Glasscherben oder rostigen Blechteilen Muster in die Haut schlitzten.
Die Unternehmungslustigeren unter ihnen versuchten ihr Glück draußen im Garten und trugen dabei viel zu große Kappen, die sie mit derselben minutiösen Sorgfalt und demselben Mangel an handwerklichen Fähigkeiten hergestellt hatten, mit denen sie alles in Angriff nahmen. Mit all ihrer grimmigen teutonischen Entschlossenheit zwangen sie die Erde, ihre Mühe dreißig-, sechzig- oder hundertfach zurückzuzahlen. Kürbisse, Karotten und Lauch, Kartoffeln und hutzlige Süßkartoffeln, ja sogar Tomaten, Kohl, Bohnen, Erbsen und Stachelbeeren. Denn das ist das Geheimnis von Frauenstein: dass dort oben gegen die Felsvorsprünge direkt hinter der vom Wind geformten Frauenstatue eine magische Quelle entspringt. Unsichtbar, es sei denn, man stößt per Zufall auf sie, entspringt sie weiß und sprudelnd aus einem Riss im Fels, rinnt ein kurzes Stück Wegs zwischen den Kieseln und verschwindet dann wieder im Erdboden, als hätte es sie nie gegeben, oder doch nur in einem Fiebertraum.
4
Das ganze auf Grund gelaufene Wrack von einem Gebäude lehnt sich gegen die Taue, die knirschen und knarren, um es im Treibsand verankert zu lassen. Stellen wir uns vor, in einem Augenblick X könnten sie es nicht mehr halten. Stellen wir uns vor, es reißt sich los und segelt in den dunklen Schlund des Himmels hinaus, segelt durch den Raum, den mondlosen, sternenlosen Raum, zurück zu den Ursprüngen. Wie ein Fluss, der zu seiner Quelle zurückkehrt.
5
Die Quelle ist der Ort, wo Hanna X den toten Mann begrub. Das Ereignis steckt immer noch in ihr, als sie ihr bloßes Gesicht im Spiegel studiert, der seine gesamte Geschichte fokussiert, als sei sie ein einziger Augenblick gewesen. Denn hier läuft ihr gesamtes Leben zusammen: Was bisher geschehen ist, was noch geschehen muss. Ein Tod, eine Geburt.
Das Geräusch, das der Kopf eines Mannes macht, während sie die Treppe hinuntergeht, während sie, die beiden schweren Stiefel unter die Achseln geklemmt, den Körper hinabschleppt. Bong, bong, bong. Und dazu bei jedem Bong ein komisches Kopfnicken, als wäre er immer noch am Leben und würde beifällig zu ihrem Tun nicken oder verkneife sich ein lautloses Gelächter. Ein gedämpftes Geräusch, denn sie hat den Kopf in ein Laken eingeschlagen, um die Blutung zu stillen. Bong, bong, bong. Das Mädchen Katja ist nicht bei ihr. Sie muss noch immer zusammengekauert in ihrem Zimmer hocken, auf dem abgezogenen Bett an der Wand, nackt wie ein kleines gerupftes Huhn, das Kopfkissen vor ihre winzigen Brüste gehalten, und mit schreckgeweiteten Augen ins Nichts starren. Es ist ein langer Weg nach unten, zwei Stockwerke, aber das ist Hanna nicht bewusst. Alles Denken steht still. Sie ist vollkommen auf ihre jetzige Aufgabe konzentriert, ganz genauso, wie sie sich in einem anderen Fall darauf konzentrieren würde, die Fliesen zu waschen oder die Nachttöpfe zu leeren, einen Stapel Teller zu spülen oder ein Bündel Wäsche zu waschen oder einem Huhn die Kehle durchzuschneiden. Jetzt im Moment ist es dies, was getan werden muss, eine Stufe nach der anderen hinabzusteigen, als hätte sie ihr ganzes Leben lang auf nichts anderes gewartet oder auf nichts anderes hingearbeitet. Bong, bong, bong.
Nur auf den Treppenabsätzen hält sie inne und kontrolliert, ob irgendwo Blutspuren sind. Der Mann macht eine ebensolche Schweinerei wie eine geschlachtete Sau. Aber ein paar Tropfen hier oder eine Schmierspur dort bedeutet nicht automatisch, dass jemand sich Gedanken machen würde. Es ist auf dem Frauenstein die monatliche Zeit, wo dergleichen vorkommt. Ihr eigenes Laken war schon fleckig, bevor sie es abzog und um den zermalmten Schädel des Mannes schlug. Alle Insassinnen haben sich auf denselben Rhythmus eingestimmt. Weswegen der Moment heute Vormittag, an dem die Garnison eingetroffen war, auch alles andere als gut gewählt war – und das war auch bestimmt der Grund, warum die Begegnungen zwischen den Offizieren und den Frauen so sehr viel brutaler und gewalttätiger waren als sonst. Die kleine Katja muss die Einzige gewesen sein, die nicht ihre Tage hatte; seit sie, beäugt von den kreisenden Geiern damals aus der Wüste zurück ins Haus stolperte, war ihre Periode extrem unregelmäßig. Das arme Ding. Und jetzt das. Bong, bong, bong.
Im Waisenhaus für Mädchen, als Hanna noch ein Kind war, war es genauso gewesen. Alle gemeinsam im Takt mit den dunklen Rhythmen des Monds und darüber der missbilligende Blick der Vorsteherin. Das jetzt wieder. Jetzt wird das Brot nicht gehen, die Milch kippt um, das Fleisch im Kühlhaus fault, die Messer werden stumpf, die Spiegel werden blind. Der Fluch, der Fluch. Nur dass sie ihn heute Nacht gegen einen Mann gewendet hat, gegen dieses aufgeblasene rosige Schwein. Er ist überirdisch schwer. Es ist harte Arbeit. Aber sie ist stark. Das ist immer schon ihre einzige hervorstechende Qualität gewesen. Hanna ist so stark wie ein Ochse. Um dann noch hinzuzufügen: Und genauso dickhäutig.