Die andere Seite der Stille. Andre Brink
vom Metzger oder den Eimer Scheiße zur Grube im Garten bringen, dann holt Hanna. Sie ist stark und es ist ihr egal. Bong, bong, bong.
Heute Nacht werden die Spiegel nicht blind werden, das Brot wird gehen, die Messer werden scharf bleiben, extrem und wunderbar scharf. Es ist das Fest des Bluts. Dies eine Mal hat sie nicht zurückgeschreckt. (Es gab noch jenes andere Mal, im Zug. Aber das war anders. Gott, und wie anders es war.) Bong.
Sie öffnet die Haustür. Das große Gemäuer in ihrem Rücken stöhnt und murmelt im Schlaf. Draußen geht ein Wind. Es hat den ganzen Tag gewindet, in langen Wellen, die von kürzeren, wütenden Böen unterbrochen wurden, ein Geräusch, das alle anderen Geräusche unmöglich machte und die beängstigende Einsamkeit dieses Hauses im Schatten der Felsen oberhalb der Ebene unterstrich. Sie schleift den Körper hinter sich her, kehrt noch einmal um, um die Tür hinter sich zu schließen, und schneidet sich dadurch von einer Dimension der Existenz ab, von etwas, das nie wieder wird zu ihr zurückkehren können oder sie zu ihm. Wie ein Maultier im Joch, gegen den Wind gelehnt, jeder Muskel ihres schwerfälligen Körpers angespannt, bewegt sie sich voran und hört jetzt nur noch das Schleifen des Dings hinter ihr, wie es über die nackte Erde und Sträucher und Steine gezogen wird. Sie weiß, dass jegliche Spur, die sie hier hinterlässt, in kürzester Zeit vom Wind verwischt sein wird.
In einem weiten Bogen um den Gemüsegarten und den Friedhof herum. Den Hang hinauf zu den Felsen, wo die Quelle entspringt. In der Stille zwischen zwei Windstößen hört sie bereits ihre unterirdische, perlende, triebhafte Melodie. Ein zartes, von zischendem Maßwerk eingefasstes Gurgeln. Ihre Antwort ist ein Aufstöhnen, ein tiefer, leiser Laut, der in ihrem Unterleib entspringt, durch ihre keuchende Brust nach oben steigt, in die feuchte Dunkelheit ihrer Kehle steigt, an dem erbarmungswürdigen Zungenstummel vorbei, und zwischen trockenen Lippen herauskommt. Ohne innezuhalten, außer für einen kurzen Moment, in dem sie sich den Rücken dehnt, beginnt sie damit, den Körper zu entkleiden. Kein Mond scheint, aber die Sterne leuchten bunt durcheinandergewürfelt am Himmel, fast zum Greifen nah. In ihrem neutralen Licht scheint der nackte Körper schwach zu leuchten, ein bleicher, anonymer Klumpen, den sie über Kiesel und durch das eisige Wasser schleift, um ihn dann in das schwarze Loch zu hieven, aus dem die Quelle rauscht. Mit unendlicher Geduld und ohne zu ermüden, müht sie sich, Steine von weiter unten hochzunehmen und zur Quelle zu schleppen, wo sie sie ins Loch kippt. Sie arbeitet mit bewundernswert sparsamen Bewegungen. Auch dies wirkt, als sei es lange Zeit vorbereitet und geübt worden, ein ganzes Leben lang. Nicht bewusst und durch Überlegung, aber innerhalb ihres Körpers, des Körpers, der sich gerade jetzt einer weiteren fruchtlosen Wartezeit und eines Schwalls nutzlosen Blutes entledigt und sich zugleich auf einen neuen Anfang vorbereitet.
Die Kleider und Stiefel, die sie in das befleckte Laken gewickelt hat, trägt sie zurück zu dem außen liegenden Backofen hinter der Küche. Dort reißt sie sorgfältig alle Blechknöpfe und Abzeichen von der Uniform, bevor sie die halbrunde Eisentür des Ofens öffnet. Mit Hilfe von Reisig und trockenem Gras aus der Feuerholzkiste neben den Holzstapeln hat sie aus der Glut, die vom nachmittäglichen Backen noch übrig ist, rasch neue Flammen schlagen lassen. Dann legt sie ein Scheit nach dem andern zu, bis das Feuer wieder mit erstaunlicher Kraft prasselt. In der Zeit, bis die Flammen sich beruhigt haben, nimmt sie die Blechabzeichen von der mittlerweile anonymen Uniform und geht den Fußweg zur Latrinengrube hinab, wo sie sie loswerden kann. Als sie wieder zurück hinter dem Haus ist, brennt das Feuer im Ofen so intensiv, dass es ihr Haare und Brauen versengt. Trotzdem legt sie noch mehr Holz nach, tritt für ein paar Minuten zurück und betrachtet die Flammen mit derselben Konzentration, mit der eine Meerkatze darauf wartet, dass eine Schlange sich bewegt. Schließlich wirft sie mit einem leichten Grunzen der Befriedigung die Uniformjacke ins Feuer, dann die Hose, die Stiefel, den Tropenhelm und das schmutzige Laken, in das sie den Kopf des Offiziers gewickelt hatte. Ein kurzer Blick, um sicherzugehen, dass keine Spur menschlichen oder tierischen Lebens um sie ist. Dann reißt sie das lange, befleckte Nachthemd, das einzige Kleidungsstück, das sie trägt, von sich und übergibt es den wütenden Flammen im Ofen.
Aus einiger Distanz überwacht sie, nach vorn gebeugt, um in die Flammen blicken zu können, die brennenden Kleider noch ein paar weitere Minuten, dann eilt sie, sehr leichtfüßig jetzt, wie ein Schatten rund ums Haus und drückt die schwere Eingangstür auf. Drinnen in der riesigen Eingangshalle horcht sie gespannt in die Dunkelheit und stiehlt sich dann nackt hinauf in Katjas Zimmer. Das Mädchen schläft mittlerweile. Seufzend, die Brust von Schluchzern gehoben, aber von schierer Erschöpfung in den Schlaf getrieben. So soll es sein. Mit einem zufriedenen, vielleicht auch erleichterten Nicken kehrt Hanna um und geht wieder nach unten. In der Küche füllt sie eine große Wanne mit Wasser aus dem Bottich neben dem Ofen, der sie wie mit den Augen einer bösartigen Katze in einem Räuberhaus anleuchtet. Und obwohl das Wasser einen Kälteschock durch all ihre Glieder jagt, fängt sie an, sich zu waschen und zu schrubben und schrubben, von Kopf bis Fuß, in einer kontrollierten Raserei, die so gar nicht zu dem äußeren Ausdruck von Gemütsruhe passen will, den sie ausstrahlt. Dann trocknet sie sich mit sauberen Küchentüchern ab, die sie aus der untersten Schublade des großen Wäscheschranks gezogen hat. Noch immer nackt, aber dennoch fast unsichtbar, außer in dem Moment, wo sie am Fenster des Treppenabsatzes vorüberkommt und blass aufschimmert, kehrt sie auf ihr Zimmer zurück. Jede Bewegung ihrer plumpen langen Glieder bleibt geräuschlos.
Es ist der Moment, in dem sie an dem hohen fleckigen Spiegel auf dem Treppenabsatz des zweiten Stocks vorbeikommt, als ihr Blick auf sie selbst fällt. Sie holt eine Kerze aus ihrem Zimmer und kehrt dann wieder zurück, um zu schauen, zum ersten Mal in drei Jahren, sieben Monaten und dreizehn Tagen. Ihr Gesicht anzuschauen. Und dann des Rest ihres Körpers von oben nach unten. Alles, was sie gesehen haben und was auch sie selbst jetzt anzusehen wagen muss. Was geschehen ist, hat sie endlich zum Schauen-Können befreit.
6
Dies ist, was vor dem Begräbnis geschah: Es ist schon spätabends, als sie den Schrei aus Katjas Zimmer hört, das gegenüber von ihrem eigenen liegt. Sie setzt sich im Bett auf. Niemand wird nachsehen kommen. Viele der Insassinnen schreien oder weinen nachts. Und Katja hat, wie jedermann weiß, Albträume, seit sie auf blutenden Füßen aus der Wüste zurückgehumpelt kam. Aber dieser Schrei jetzt kommt nicht aus einem Traum, das erkennt Hanna auf der Stelle. Sie kennt das Mädchen und sie weiß, was Albträume sind. Sie weiß über Schreie Bescheid. Dazu braucht man keine Zunge.
Nur in ihr Nachthemd gekleidet und ohne sich die Mühe zu machen, wie sonst ihr Gesicht mit der großen Mütze zu verhüllen, bewegt sich Hanna barfuß durchs Zimmer, um die Tür zu öffnen. Sie zieht ein Bein ein wenig hinter sich her, aber ist seit langem daran gewöhnt und bewegt sich dennoch rasch. Angespannt, die Stirn gegen den Türrahmen gepresst, wartet sie. Dann ertönt ein zweiter Schrei und danach etwas, was ein Schlag sein kann oder ein fallender Körper, daraufhin weitere gedämpfte Geräusche, dann die laute Stimme eines zornigen Mannes. Sie erreicht Katjas Tür und drückt dagegen. Sie ist nicht verriegelt.
Als sie über die Türschwelle stürmt, hält sie einen schweren Leuchter aus Messing in der Hand. Wie er da hineingekommen ist, weiß sie nicht. Dergleichen geschieht. Schon einmal, kurz nach ihrer Ankunft am Frauenstein, spazierte sie, weit entfernt vom Haus, durch die Steppe und setzte den Fuß direkt neben eine geblähte, hübsch braun und gelb gemusterte Puffotter. Als die Schlange vorschoss, sprang sie hoch, um dem Biss zu entgehen, und als sie wieder landete, hatte sie einen Stein in der Hand. Erst nachdem sie die Puffotter getötet hatte, fiel ihr ein, sich über den Stein zu wundern. Die Erde war hier nackt und sandig und es lagen keine Steine herum. Aber sie machte sich darüber nicht lange Gedanken. Solche Dinge geschehen. Und diesmal hat sie den Leuchter. Der Mann steht neben dem schmalen Bett mit seiner grau gestreiften Decke. Es ist der Offizier von heute Nachmittag. Sie erkennt die Uniform wieder, auch wenn er nur die Khaki-Jacke mit den schmucken goldenen Litzen trägt. Der Tropenhelm liegt auf dem Bett. Die Hose zusammengeknüllt auf dem Boden. Der Hintern, umgeben von drahtigem schwarzem Haar, wirkt sehr weiß. Das Mädchen liegt nackt und verkrümmt wie ein Fötus zu seinen Füßen und wimmert. Sein rechter Arm ist hoch über den Kopf erhoben, an seiner Hand hängt wie eine Schlange ein Gürtel mit einer schweren Schnalle. Hanna hat diese Positur schon öfter gesehen. Im Waisenhaus. Im Zug.
Die Schlange schnappt zu. Das Mädchen schreit und