Die andere Seite der Stille. Andre Brink
Gewiss ist, dass es wenig Ähnlichkeit hat mit den Gebäuden der frühen Kolonialzeit in Swakopmund oder Windhuk. Diejenigen, die den Bau nicht irgendeinem ausgestorbenen Stamm »aus dem Norden« zuschreiben, gleich ob schwarz, braun oder weiß, mit obskuren Verbindungen zu den verschwundenen Kulturen von Monomotapa, Mapungubwe oder dem Großen Zimbabwe oder gleich zu Salomon und der Königin von Saba oder den Bewohnern des versunkenen Atlantis, kommen einem mit Theorien über skandinavische Walfänger der Vorzeit oder vielleicht auch Besatzungsmitglieder von Bartolomeu Diaz, die dort blieben, als er in Angra Pequeña zum ersten Mal seinen Fuß auf afrikanischen Boden setzte. Höchstwahrscheinlich ist die historische Wahrheit weit weniger aufregend. Gut möglich, dass der Bau irgendwann im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert von einer Gruppe Forschungsreisender oder Abenteurer begonnen wurde, unter denen sich einer fand, der an architektonischem Größenwahn litt, und die örtlichen Anwohner bestachen oder nötigten, ihnen zu helfen.
Was wir immerhin wissen, ist, dass es in den frühen Tagen der deutschen Ansiedlung binnen einer Periode von mehreren Jahrzehnten intensiv aus- und umgebaut wurde, bis es seine derzeitige Gestalt erhielt. Von seiner Nutzung dagegen ist nichts bekannt. Der Landsitz irgendeines unglaublich reichen pensionierten Würdenträgers oder eines Generals aus Bismarcks Armee? (Oder womöglich der des Eisernen Kanzlers höchstpersönlich?) Eine bombastische Festung gegen tatsächliche oder eingebildete Feinde? Ein riesiges Gefängnis für Hereros, Ovambos, Damaras oder Namas, die im Rahmen der endlosen Kriegs- und Strafexpeditionen der Kolonie gefangen genommen worden waren, oder womöglich für Eindringlinge aus anderen afrikanischen Regionen oder von Übersee? Ein Jagdschloss für große Jagdgesellschaften, die aus dem Reich herüberkamen, um die örtliche Fauna in einem Stil zu dezimieren, bei dem nicht einmal die Briten mithalten konnten? Eine religiöse Einkehr, ein Kloster gar? Oder ein Haus für sexuelle Extravaganzen? Oder war es so, dass, wer immer hier auch herkam (und das musste zwangsweise irgendein Er sein), sich einfach einer irrsinnigen Lust am übertriebenen Bauen als Selbstzweck überließ? Dass er eine haarsträubend extreme Revier-Markierung in der Art von »Ich war hier« hinterließ, auch wenn schon lange niemand sich mehr erinnert, wer dieses Ich wohl gewesen sein mag.
Möglich, dass das Haus irgendwann im Laufe seiner Existenz zu all diesen Dingen gedient hat, vielleicht sogar zu mehreren gleichzeitig. Was ihm eine gewisse Form von Größe verleiht, ist, dass es eigentlich überhaupt keinen Grund gibt, warum es da steht, wo es steht. Frauenstein existiert einfach, ob Traumschloss oder Albtraumschloss, eine Phantasmagorie, die eben nicht an den Ufern des Rheins steht oder in Bayern, sondern in der afrikanischen Wüste. Und zu Beginn des letzten Jahrhunderts fand es eine neue Nutzung als Heim für jene Frauen, die in die Kolonie verschifft worden waren, um den dortigen Männern als Unterstützung oder Zeitvertreib zu dienen, und die abgelehnt wurden.
Traf eine der weiblichen Schiffsladungen nach einer dreißigtägigen Reise entlang der afrikanischen Westküste in der Bucht von Swakopmund ein, warteten Hunderte von Männern, deren sexuelle Gier weder die eingeborenen Frauen noch die Haustiere hatten besänftigen können, am Kai, versuchten sich vorzudrängen, drückten einander weg und heulten wie die Wölfe. Einige davon hatten schon vor Wochen und Monaten ihre schriftlichen Wünsche und Anforderungen eingereicht, viele andere kamen einfach auf gut Glück oder auch nur, um zu gaffen und mitzubrüllen, bevor sie sich in den Kneipen der wimmelnden Stadt um den Verstand tranken. Es folgte die viertägige Zugfahrt nach Windhuk, eine überkochende, aggressive Raserei, während der Frauen ausprobiert und weitergereicht und ausgetauscht wurden oder zwischen den streitenden Freiern hin- und hergerissen. Männer kamen zu Tode auf diesen Fahrten. Frauen manchmal auch. Aber im Großen und Ganzen hatte die Mehrheit sich nach diesen vier Tagen und Nächten in übernächtigte Paare gefunden, und es gab Arbeit für die Kirchen.
Aber jedes Mal wieder blieben einige Frauen übrig, die keiner gewollt hatte. Und genau die, die endgültig Verworfenen, die selbst von den übelst beleumundeten Männern für unwert befunden worden waren, genau die waren die Kandidatinnen für den Frauenstein. Im Schinderkarren rollten sie durch Straßen voller feixender Männer, die ein Unehrenspalier bildeten, das ihnen die nackten Hintern zeigte oder der beanstandeten Ware, die sie darstellten, mit ihren ädrigen Pimmeln zuwinkten. Danach wurden sie in die endlose Stille der Wüste fortgeschafft.
So ging es zum Frauenstein, einem kolossalen Schattenriss vor dem schimmernden schwarzen Himmel (aus irgendeinem Grunde geschah die Ankunft immer nachts). Das Gefängnis, das Kloster, das Irrenhaus, das Armenhaus, das Bordell, das Beinhaus, der erste Kreis der Hölle. Aber auch Asyl, Heimstatt und Endstation. Wohinein in großen Abständen immer wieder schmuddlige Individuen stolperten oder Banden marodierender Söldner, Jäger, fahrende Händler oder Geldboten von weit entfernten Minen und eine Unterkunft suchten oder eine Erfrischung. Und von denen fanden die kühnsten oder die betrunkensten oder verzweifeltsten im Schutze der Dunkelheit unter den Insassinnen irgendeine, die nicht allzu unansehnlich war und mit der sie sich amüsieren konnten. Selbst wenn ein Gesicht gar zu abstoßend war, blieb immer noch die Möglichkeit, den Akt von hinten zu begehen, was ohnehin die Regel sein musste bei Männern, die sonst eher mit Vierbeinern verkehrten.
Nicht alle Frauen im Hause waren Treibgut aus dem Vaterland, das hier auf der Suche nach einer Anstellung oder Ehe angespült worden war. Aber allen war gemeinsam, dass die Gesellschaft sie ausgestoßen hatte, weil sie verwitwet waren oder mittellos oder verderbt oder auf die eine oder andere Weise behindert, und dass niemand sonst für sie aufkommen konnte oder wollte.
Der Ort wurde von einer kleinen Schar Frauen beaufsichtigt, die an nichts so sehr erinnerten wie an Vögel in einer Voliere: Vögel verschiedener Form und Größe und Art, aber alle von einem Schlag. Einige von ihnen waren hier gestrandet, um einem Schicksal zu entgehen, das, ganz gleich, welches es war, schlimmer als der Tod gewesen wäre, andere zog ein fehlgeleiteter missionarischer Eifer an. Wieder andere waren vermutlich geworben worden – bloß von wem? Offenbar waren mehrere Kirchen auf die eine oder andere Weise an der Institution beteiligt, die in einem Elan von Selbstgerechtigkeit mittels guter Taten und verschiedener Beispiele von mürrischer Barmherzigkeit ihre christlichen Tugenden unter Beweis stellen und damit der ewigen Gnade und der Belohnung im Jenseits einen Schritt näher kommen wollten. Auch die Kolonialverwaltung war an der Aufrechterhaltung der Einrichtung beteiligt. Schließlich waren alle Frauen, die hier einsaßen, auf Veranlassung der Regierung hierher gebracht worden, und sich überhaupt nicht mehr um sie zu scheren hätte im fernen Berlin ein gewisses Stirnrunzeln hervorrufen können.
Niemand zwang die Insassinnen im Übrigen, innerhalb der unwirtlichen vier Wände zu bleiben. Niemand wurde je eingeschlossen, nicht einmal bei Nacht. Es war ebenso sehr ihre eigene Wahl wie die Entscheidung der Provinzverwaltung, dass sie dort blieben. Aber natürlich war da auch das Bewusstsein, dass, selbst wenn jemand hätte entkommen wollen, die umliegende Wüste ein viel effektiveres Hindernis war als jedes Schloss und jeder Riegel. In der Anfangsphase von Hanna X’ Aufenthalt hier geschah es zweimal, dass eine Frau entlief. Beide Male fand man später das Skelett, halb begraben im ewig wehenden Sand.
Dann gab es noch, vor kaum einem Jahr, die Mädchen Gertrud und Katja: Zwei junge Schwestern aus Windhuk, fünfzehn- oder sechzehnjährig, die der Krieg im Norden zu Waisen gemacht hatte. Ihre Eltern waren von Hereros abgeschlachtet worden, die auf der Flucht vor dem Terror waren, den die Kolonialarmee unter Generalleutnant von Trotha verbreitete. Die Mädchen waren danach der Autorität verschiedener Pflegeeltern unterstellt worden, wurden aber mehrmals wegen Fluchtversuchen oder Herumlungerns auf den Straßen festgenommen. Eine Weile hielt man sie in Gefängniszellen oder Kasernen fest, rüffelte und bestrafte sie, aber es half alles nichts. Schließlich wurden sie aus lauter Verzweiflung und bis zu dem Moment, wo man in Berlin eine Entscheidung über ihre Repatriierung treffen würde, nach Frauenstein transportiert. Dort wirkten sie zunächst ganz demütig und gehorsam, aber nur so lange, bis die beherzte Aufseherin Frau Knesebeck glaubte, die Sache sei ausgestanden, und mit ihrer Überwachung nachließ. Da liefen sie fort. Nach einer Woche kehrte das ältere der Mädchen, Katja, wieder, ein zerzaustes und abgemagertes Strohpüppchen, dem die halbe Füllung rausgerissen war. Gertrud war in der Wüste gestorben. Was von ihr noch übrig war, nachdem die Geier, die Schakale und die Hyänen ihren Teil bekommen hatten, wurde in einem Leinensack zurück zum Frauenstein gebracht und ohne Aufhebens auf dem Friedhof begraben, der jenseits des Kürbisbeets lag und sich unter der Hand immer mehr auswuchs. Danach verhielt Katja sich wie