Die andere Seite der Stille. Andre Brink

Die andere Seite der Stille - Andre  Brink


Скачать книгу
aus reiner Gewohnheit oder Sturheit selbst noch fünf Monate nach dem Tod ihres Hauptmanns weiterkämpfen. In den frühen Tagen dieses Krieges, der in dem riesigen Land hier mittlerweile seit Jahren immer wieder einmal aufflammt, hat es eine Art von Ehrenkodex gegeben, der die Beziehungen zwischen der deutschen Besatzungsarmee und den einheimischen Leuten bestimmte. Es ist allgemein bekannt, dass Witbooi einmal, nachdem er wochenlang auf einem Berg belagert worden war, dem kommandierenden deutschen Offizier unten in der Ebene einen Brief schickte (»Sehr verehrter kaiserlich deutscher Herr Franz«), in dem er seine Bedürfnisse auflistete: Essen, Wasser, zwei Kisten Martini Henry Munition, »wie es sich gehört zwischen großen, würdigen und zivilisierten Nationen«. Aber schon bald war von Ehre nicht mehr viel zu sehen, und im Laufe der Zeit, vor allem nachdem Generalleutnant von Trotha das Kommando übernommen hatte, wurde der Krieg ebenso bestialisch wie jeder andere und griff im Rahmen der Tabula-rasa-Strategie des Generals auf große Teile der Kolonie über. Zu manchen Zeiten war er kaum mehr als eine Anhäufung von kleinen Scharmützeln, von isolierten Guerillaangriffen auf Farmen oder Außenposten oder Armeecamps, aber vor zwei Jahren, 1904, weitete er sich plötzlich zum totalen Flächenbrand. Die Hereros, die von der deutschen Enteignung und einer Viehseuche, die ihre Herden dahinraffte, schließlich aus ihren angestammten Gebieten vertrieben worden waren und nichts mehr zu verlieren hatten, trugen Welle um Welle verzweifelter Angriffe vor, um die Deutschen – Schutztruppen, Siedler, Händler, jedermann – in die weißschäumenden Wellen des Atlantik zurückzutreiben. Diesmal sprangen die meisten anderen eingeborenen Völker ihnen bei, vom Kunene im Norden bis hinunter zum Oranje. Und nachdem die Gewalt sich im Norden totgelaufen hatte, flammte sie im Süden wieder auf. Und jetzt führt, auch nach der Abberufung von Trothas, sein militärischer Nachfolger, der Oberbefehlshaber Dame, seinen Feldzug gegen die Nama weiter. Und von daher kommt diese Truppe hier.

      Irgendjemand, der aus einem der hochgelegenen hinteren Zimmer des Frauensteins blickt, schlägt Alarm. Binnen weniger Augenblicke drängen sich an jedem Fenster Frauen wie Fledermäuse an der Decke einer Höhle, während die Leitung des Hauses, allen voran die winzige, aber ehrfurchtgebietende Frau Knesebeck, auf dem Hinterhof zwischen der Küche und den Scheunen und Ställen eine schützende Phalanx bildet. Das ganze Gemäuer bebt vor Aufregung. Fremde! Besucher! Und so viele. Das allgemeine Gefühl, einen großen Moment zu erleben, etwas nie Dagewesenes. Zugleich aber auch ein böses Vorgefühl, Angst, Furcht. All diese Soldaten – die können doch nichts Gutes im Schilde führen. Ähnliche Besuche in der Vergangenheit haben sich auf kleine Patrouillen von jeweils zwei, drei oder höchstens einem halben Dutzend Soldaten beschränkt, und Gott weiß, was die schon für ein Chaos hinterließen. Was heute bevorsteht, kann sich niemand vorstellen. Ein solcher Einbruch von jenseits der Wüste ist etwas Schwererwiegendes als ein geschichtlicher Moment, es ist der Stoff, aus dem man Legenden und Mythen macht. So nah war der Krieg noch nie am Frauenstein, mit einem Mal ist er kein Gerede mehr und kein Gerücht, keine Ahnung und keine Möglichkeit, sondern etwas überwältigend Wirkliches. Er ist hier, er ist jetzt. Alle zittern sie vor banger Erwartung.

      Der Befehlshaber steigt als Erster vom Pferd. Er schlägt die Hacken zusammen und verbeugt sich steif vor Frau Knesebeck.

      »Gnädige Frau!«

      »Mit wem habe ich die Ehre?«, fragt sie und streckt förmlich die Hand aus.

      Jetzt, auf gleicher Höhe mit ihm, findet sie seine Gestalt weniger beeindruckend als im Sattel. Untersetzter, fleischiger und mit etwas zu kurzen Beinen für den schweren Oberkörper, und außerdem schwitzt er ausgiebig. Nichtsdestotrotz lässt ihn die Khakiuniform mit ihren vielen Litzen und Blechanhängern als ein strahlendes Exemplar imperialer Männlichkeit erscheinen.

      »Oberst von Blixen«, sagt er und drückt seine von der Sonne aufgesprungenen Lippen auf ihren Knöchel.

      Seine Kompanie befinde sich auf dem Rückweg vom Namaland, erklärt er ihr. Er sei glücklich, behaupten zu können, dass er befriedetes Territorium zurücklasse. Von daher sollte nichts mehr zu befürchten sein. Aber seine Männer seien erschöpft. Ein wenig Erfrischung würde ihnen gut tun. Er wirft einen Blick hinauf zu den von weiblichen Körpern fast gesprengten Fenstern. Ein wenig Gesellschaft auch. Wenn denn das, was sie über dieses bewundernswerte Haus gehört hätten, stimme.

      »Das ist hier ein ordentlicher deutscher Haushalt«, sagt Frau Knesebeck schmallippig. Aber dem genauen und vielleicht sogar hoffnungsvollen Beobachter mag der Anflug eines Zwinkerns bei diesen Worten nicht entgangen sein.

      »Wir werden uns in jedem Punkt wie Ehrenmänner verhalten«, versichert er ihr. Sein Zwinkern ist weniger zweideutig.

      »Wir führen hier ein bescheidenes Leben«, informiert sie ihn. »Wir verfügen nicht über Lebensmittel im Übermaß.« Da sie bemerkt, wie seine Augen schmal werden, beeilt sie sich hinzuzufügen: »Aber was wir haben, steht Euer Exzellenz natürlich zur Verfügung.«

      »Sobald wir zurück in Windhuk sind«, entgegnet er mit großartiger Geste, »werden wir dafür sorgen, dass all das, was meine Männer heute verzehren, erstattet wird. Zehnfach.«

      Frau Knesebeck überschlägt rasch mehrere Dinge, bevor sie sich mit Anordnungen an ihre Mitarbeiterinnen wendet. Sechs Hammel sollen geschlachtet werden und so viele Hühner wie nötig. Aus dem Garten soll reichlich Gemüse hereingeholt werden.

      Ein unbekanntes fiebriges Gefühl der Erwartung breitet sich durch alle Korridore und in alle Ecken des Gebäudes aus, während die Frauen mit den Vorbereitungen für das Fest beginnen. Die Männer draußen machen sich daran, das Fleisch auf großen Lagerfeuern zu braten, zu denen sie die Holzvorräte bei der Küche geplündert haben. Aus einiger Entfernung starren die Gefangenen, bedeckt von ockerfarbenem Staub, der nur Augen und Mund frei lässt, in willenloser Apathie herüber. Zwei Wachen mit Sjamboks bewegen sich langsam durch ihre Reihen, um mit jedermann kurzen Prozess zu machen, der vorhaben könnte, vor Müdigkeit, Hunger oder Schmerz zu Boden zu sinken. Bevor der Nachmittag vorüber ist, werden zwei Körper ein Stück vom Haus weg fortgeschleppt und den Tieren überlassen werden, die ihnen schon seit Tagen in respektvollem Abstand gefolgt sind.

      Die Soldaten essen draußen. Die Offiziere werden an dem langen Refektoriumstisch bedient, der mitten in einem der selten benutzten Empfangsräume im ersten Stock des Hauses steht. Da durch die hohen, schmalen Fenster wenig Licht eindringt – das ganze Gebäude wirkt so, als sei es konstruiert worden, um möglichst wenig Außenwelt einzulassen –, stehen Leuchter auf dem Tisch, und an den nackten Wänden sind Fackeln angebracht, die wirre Schatten werfen und den Raum in eine unwirkliche, mittelalterliche Atmosphäre tauchen. Frau Knesebeck sitzt an einem Kopfende der Tafel, Oberst von Blixen am anderen. An die Wände gedrängt, offensichtlich zwischen Faszination und Furcht hin- und hergerissen, stehen die dreißig oder vierzig Bewohnerinnen des Hauses, die die Vorsteherin in entschiedenem Ton herbeizitiert hat, und begaffen die zechenden Männer. Die Bandbreite geht von scheinbar zahnlosen alten Weiblein (obwohl hier eigentlich niemand älter als fünfzig sein kann) bis zu der noch kaum mannbaren Katja. Das Mädchen wird eingerahmt von Hanna X und einer schielenden jüngeren Frau, Gerda Kaiser, die noch nicht sehr lange hier ist und deren Gesicht Pockennarben verunstalten. Auf der breiten Steintreppe (die hinunter Hanna sehr viel später ihr Opfer schleifen wird, bong, bong, bong) herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, da die Bediensteten das abgetragene Geschirr hinunter zur Küche bringen und mit neuen, gefüllten Platten wieder heraufkommen. Frau Knesebeck hat Cognac aus dem Keller kommen lassen. Kaum einer der Insassinnen des Frauensteins war es überhaupt bewusst, dass dort unten Vorräte von dieser Art lagern. Die müssen noch aus der halbvergessenen Frühzeit des Hauses stammen und auf einem der Wagen von Windhuk oder vielleicht auch Lüderitz hertransportiert worden sein, die immer noch ein paar Mal im Jahr mit Dingen beladen die Wüste durchqueren, die der Frauenstein nicht selbst produzieren kann: mit Salz und Zucker, Öl und Essig, Kaffee, Paraffin und Kerzen, mit kleinen Mengen Kautabak, Medikamenten, Schuhen und Kleidung, Nadeln, Wolle und Baumwollballen, mit Besteck und Geschirr, ab und zu auch mit Papier und Tinte für die Register und Hauptbücher, die theoretisch geführt werden müssten, obwohl das in der Praxis kaum geschieht, mit Leintüchern und mit einigen grundlegenden Geräten zur Feldarbeit. (Ab und zu kommt es zu einem Irrtum der Versender, der sich dann im Eintreffen großer Mengen unerwarteter und unnötiger Gegenstände äußert, die auf den Hof gekippt werden: Einmal war es eine ganze Wagenladung


Скачать книгу