Die andere Seite der Stille. Andre Brink

Die andere Seite der Stille - Andre  Brink


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namens Ute eines Tags zur Schule mitbringt. Es ist eine Sünde, das Gut deines Nächsten zu begehren, Gott weiß, wie schwer man sie bestrafen wird, wenn das jemals herauskommt. Aber es gibt noch eine schlimmere Sünde, und das ist zu stehlen. Du sollst nicht – du sollst nicht – du sollst nicht. Wo immer sie sich hinwendet, ist sie umgeben von dieser Palisade von Du sollst nicht. Diese feine, kleine Porzellanfigurine mit dem winzigen Esel, Hund, Katze und Hahn ist das, was sie auf der Welt am meisten begehrt, und das, was sie zu stehlen beschließt. Das ist ihre einzige Möglichkeit, um sie in den Händen halten und bewundern und ihre fein ziselierten Umrisse liebkosen zu können. In der Pause schleicht sie sich ins Klassenzimmer und nimmt sie aus Utes Ranzen, dann rennt sie hinaus und versteckt sie hinter dem Mädchenwaschraum. Nach der Pause, als das Verschwinden der Figurine entdeckt ist, müssen alle ihren Ranzen öffnen und mit verschränkten Armen dasitzen, während der Lehrer durch die Reihen geht und ihre Sachen durchwühlt. Natürlich wird das kleine Schmuckstück nicht gefunden. Hanna lässt es eine Woche lang in seinem Versteck, jeden Tag heimlich nachsehend, ob es noch da ist – bevor sie es zu ihrem Bett im Waisenhaus mitnimmt. Dort lebt es in ihrer Schublade in ihrem einzigen grauen Ersatzschlüpfer, nachts schläft es unter ihrem Kissen. Aber dann ertappt eines der kleineren Mädchen Hanna damit, und als Hanna versucht, es zu verbergen, fällt es hin und ein Stückchen splittert ab. Auf diese Weise erfährt sie, dass man nichts, was man liebt, behalten darf. Denn jetzt muss sie es loswerden, bloß wie?

      Es ist Gott selbst, der eine Lösung des Problems liefert. Die Zeit der Ostermesse rückt heran, nach all den Fastenwochen, in denen die mageren Rationen der Waisenkinder noch unter das Existenzminimum gedrückt wurden (denn man muss leiden für den Herrn). Die Mädchen sollen kleine Dinge mitbringen, die während der Messe verkauft werden und ein paar zusätzliche Pfennige in den Klingelbeutel bringen zur höheren Ehre Gottes. Die meisten stricken formlose Socken oder häkeln Zierdeckchen. Aus zusammengeklebten Streichholzschachteln bastelt Hanna eine Kommode mit einem Spiegel aus Pappe und Silberpapier. Und darauf legt sie, genau in die Mitte, die Stadtmusikanten in all ihrer zerbrechlichen Schönheit. Das, so rechnet sie sich aus, sollte Gott besänftigen und vielleicht auch die Sünden des Begehrens und Stehlens wettmachen. Sie hat sich innerlich bereits von der Figurine verabschiedet. Soll Gott sie jetzt haben. Er hat schon so viel unnötiges Zeugs. In der letzten Zeit hat sie angefangen, ernsthaft an Gott zu zweifeln. Er täte gut daran, achtzugeben, sonst wird sie ganz aufhören, an ihn zu glauben.

      Als Frau Agathe sie nach der Messe zu sich ruft und zu der Figurine befragt, kann sie ohne mit der Wimper zu zucken sagen, sie habe sie gefunden und gedacht, sie werde Gott gefallen. Selbst Pastor Ulrichs nachforschende Hand vermag keine weiteren Geständnisse aus ihr herauszuquetschen, und sie darf mit einer einfachen Warnung wieder gehen. Diese Nacht liegt sie mit dem Gefühl tiefster Erleichterung in ihrem schmalen Bett, hört zu, wie draußen der Regen fällt, und hält den einzigen Besitz von Wert, den sie hat, die Muschel, gegen das Ohr, um dem fernen Rauschen des Meers zu lauschen und sich vorzustellen, wie sie weit weit fortgeht, Hand in Hand mit einem kleinen Mädchen aus einem fernen Land, einem Mädchen mit sehr schwarzem Haar und sehr blauen Augen, fort über alle Weltmeere, bis zu den Palmen einer kleinen Oase, die von den Winden und der Sonne beglückt wird.

      10

      In der Wüste, durch die sie jetzt reisen, gibt es keine Palmen. Auch keine Winde, nur eine schreckliche Februarhitze, die Tag für Tag auf der Erde lastet, die sich unter der Plane des Ochsenkarrens staut und einen ersticken und verschmachten lässt. Aber Hanna X bekommt all das kaum mit. Es interessiert sie nicht, herauszufinden, wie oder warum oder wann sie in diesem Karren gelandet ist, der sie jetzt zu einem Ort bringt, der noch nicht mehr als ein Name ist. Frauenstein. Unter ihrem schmerzenden Rücken – und es gibt kein Glied an ihrem Körper, das nicht schmerzt, vielleicht sind das ja die ewigen Schmerzen des Höllenfeuers – ähneln die Bewegungen des Karrens, sein Stampfen und Rollen und Krängen, so sehr denen während der Seereise, dass ihr dämmerndes Bewusstsein den Eindruck hat, sie befinde sich tatsächlich noch – oder wieder – auf See, während der schmerz- und endlosen Reise vom tiefsten Winter in den Hochsommer.

      Die Zugreise ist vorüber. Irgendwie, dank eines perversen und unwillkommenen Wunders muss sie auch die irgendwie überstanden haben. Aber darüber will sie nicht nachdenken. Das ist ein schwarzes Loch in ihrem Bewusstsein, in das sie nicht hineinblicken will. Wenn sie sich erinnert, dann hat das nicht stattgefunden und wird auch nie stattfinden. (Selbst jetzt, vor dem alten Spiegel auf dem Treppenabsatz gegenüber ihrem Zimmer im Frauenstein, denkt sie, während sie ihr Spiegelbild studiert, nicht an diese Reise. Nicht jetzt. Bald wird dieser Erinnerung ins Gesicht geblickt werden müssen, sie wird, bevor sie vielleicht fortgeht, allem ins Gesicht blicken müssen, aber nicht jetzt, lieber Gott, bitte nicht gerade jetzt.)

      Das Unglück, würde Pastor Ulrich sagen, ist eine von Gott geschickte Prüfung. Katastrophen erst recht. Worunter wohl diese Karrenreise fallen würde? Aber die Frage ist sinnlos. Ihre Wege und die Gottes haben sich schon vor langer Zeit getrennt. Wer von beiden wen verlassen hat, bleibt strittig. Aber eines ist sicher: Es kann nicht ewig so weitergehen. Alles Leiden muss irgendwann an ein Ende kommen. Momentan ist das Vorankommen alles, was geschieht, und alles, was sie ertragen kann. Sie weiß noch nicht einmal, wo man sie da hinbringt. Sie weiß auch nicht, wer »man« überhaupt ist.

      Der Kutscher und seine zwei Begleiter machen keinen Versuch mit ihren Passagieren, ihrer Ladung zu sprechen. Es sind Schwarze und sie fürchtet sich vor ihnen. Sie hat davor noch nie schwarze Menschen gesehen, in Hamburg, bevor sie abreiste, erzählte man entsetzliche Geschichten über sie, sobald man hörte, wohin sie fuhr. War man Missionar, so mochte in einem solchen Unterfangen ja noch eine ausgleichende göttliche Gnade liegen, aber sich einfach so in die Wildnis zu begeben, wo gottverlassene, nackte Wilde lebten ...? Es ist eine deutsche Kolonie, antwortete sie dann. Sie brauchen dort Haushälterinnen und andere Hilfen. Und Ehefrauen, antwortete ihr Gegenüber da wissend. Das wird man dann sehen müssen, antwortete sie. Man wird es jetzt immer noch sehen müssen.

      Eine Militäreskorte begleitet den Karren, vier grämliche Reiter. Anständige, normale Deutsche. Nach dem, was im Zug passiert ist, hat sie vor ihnen mehr Angst als vor den Schwarzen, aber immerhin versuchen sie genauso wenig wie der Kutscher und seine Begleiter, ein Gespräch anzuknüpfen. Ab und zu reiten zwei von ihnen davon und kehren ein paar Stunden später mit einer Antilope zurück, die über dem Sattel hängt. Ein Kudu oder eine Oryx-Antilope. Die Namen klingen fremd.

      In dem Karren werden noch vier weitere Frauen transportiert, Ausschuss wie sie. Auch sie wollen nicht reden oder jedenfalls kaum. Ab und zu kommt eine von ihnen herüber zu der dünnen Matte, auf der sie liegt, und wischt ihr die Stirn ab, scheucht die Fliegen weg oder befeuchtet mit einem schmutzigen Lappen ihre Lippen (oder was davon übrig ist). Eine von ihnen, dem Aussehen nach die jüngste, versucht anfangs mit ihr zu sprechen. »Was haben sie mit dir gemacht?«, fragt sie. Hanna schüttelt den Kopf, die anderen wissen nichts von dem schmerzhaft pochenden Stummel in ihrem Mund. »Warum haben sie so was gemacht?«, fragt das Mädchen wieder. »Was um alles in der Welt hast du getan, um sie dazu zu provozieren? Warum hast du ihnen nicht einfach ihren Willen gelassen? Wir sind nicht dazu geschaffen, den Männern zu widerstehen. Sie bekommen immer, was sie wollen. Und eine Frau muss ihren Platz kennen.« Diese hier kannte ihren Platz vermutlich, bloß was hatte es ihr geholfen? Sie hockt mit ihnen im selben Karren, rollt zum selben Ziel, ihrem Bestimmungsort oder ihrer Bestimmung. Eine Weile ist das Mädchen still. Dann fängt es wieder an, diesmal in einem etwas jammernden Ton: »Natürlich weiß man‘s nie vorher. Ich hab’ mich so bemüht, es ihnen recht zu machen, aber sie wollten mich einfach nicht. Was hab’ ich denn bloß falsch gemacht, was glaubst du?« Hanna antwortet nicht. »Du verachtest mich«, sagt das Mädchen. »Ich weiß, dass du mich verachtest. Aber mit welchem Recht? Sieh dich doch an. Ich meine, welcher Mann wollte dich denn schon haben?« Hanna dreht den Kopf zur Seite. Dann wird sie wieder in Ruhe gelassen. Wenn das Schwindelgefühl oder der Schmerz es zulassen, liegt sie da und sieht die anderen an. Sie haben nicht die Art Wunden und Narben, die sie verunstalten, aber auch sie sind gezeichnet. Ihre Körper tragen genau wie der ihre die Spuren ihrer jeweiligen Geschichte. Man sieht es daran, wie sie sitzen oder stehen oder liegen: Die zwischen die Schultern gezogenen Köpfe, die an den Körper gezogenen Knie, die abgewendeten Gesichter, das leise Weinen, gegen das sie gar nicht angehen, der Rotz, den sie unter ihrer


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