Die andere Seite der Stille. Andre Brink

Die andere Seite der Stille - Andre  Brink


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einem Ort geblieben. Immer, immer, immer wandern sie umher. Xurisib blieb, wo sie war, und ihre Haut wurde so trocken wie eine alte abgelegte Schlangenhaut und ihr schwarzes Haar wurde grau, und schneller, als man hinsehen kann, war ein altes Weib aus ihr geworden. Sie legte sich auf die Erde nieder, um zu sterben. Und da erschien ihr die Heuschrecke wieder und sprach aus dem brennenden Busch: »Xurisib, dein Leben ist vorüber. Aber wenn du meinen Namen aussprichst, so werde ich den Fluch von dir nehmen.« Und ganz ganz leise, kaum hörbar, flüsterte Xurisib den Namen des Gottes. Und überall dort, wohin der Klang ihrer Stimme reichte, sprossen Blumen aus der ausgedörrten Erde. Wieder und wieder sagte sie seinen Namen Tsui-Goab, Tsui-Goab, Tsui-Goab, bis ihre Stimme mit ihrem letzten Atemzug so laut geworden war, dass noch von den fernsten Hügeln ihr Klang widerhallte. Und der Regen setzte ein, und von Horizont zu Horizont war die Steppe blumenübersät und Xurisib wurde wieder ein junges Mädchen mit leuchtendem Gesicht und festen Brüsten und kräftigen Beinen und schönen Händen und sie tanzte den Regentanz.

      Die Stimme der hutzligen alten Frau wandelt sich zu einem Singsang, in den einige der anderen Frauen einfallen:

      O der Tanz unserer Schwester!

      Zuerst lugt sie heimlich über den Gipfel,

      und ihr Blick ist scheu,

      und sie lacht leise.

      Dann winkt sie von fern mit einer Hand;

      ihre Armreifen glitzern und ihre Perlen schimmern,

      leise ruft sie.

      Sie erzählt den Winden von dem Tanz

      und lädt sie dazu ein, denn der Hof ist riesig und die Hochzeit herrlich.

      Die großen Tiere kommen von der Ebene herauf

      und sammeln sich auf dem Gipfel.

      Mit geblähten Nüstern

      trinken sie den Wind.

      Dann beugen sie sich hinab, um ihre zarten Fußspuren im Sand zu sehen.

      Die kleinen Tiere tief unten können das Knistern ihrer Füße hören,

      und sie kommen näher und singen leise:

      »Unsere Schwester, unsere Schwester! Du bist erschienen! Du bist erschienen!«

      Und ihre Perlen baumeln,

      und ihre kupfernen Ringe schimmern in der untergehenden Sonne.

      Ihre Stirn trägt die Feuerfeder des Gebirgsadlers:

      Sie schreitet von den Höhen herab.

      Sie breitet das große Vlies zwischen ihren Armen aus,

      und der Atem des Windes hält inne.

      O der Tanz unserer Schwester!

      Es folgt eine lange Pause. Dann beginnt die alte Frau wieder: »Ein paar Tage später begannen die Blumen zu verwelken und zu vertrocknen und zu sterben, und Xurisib starb ganz still mit ihnen zusammen. Aber von jenem Tag an«, fährt sie fort, »kannst du, wenn der Regen im Namaland fällt und du ganz genau hinhorchst, im fernen Donner die Stimme von Xurisib hören, wie sie ruft: Tsui-Goab! Tsui-Goab! Tsui-Goab! Und da wissen wir, dass das Land wieder leben wird.«

      Geschichte um Geschichte, Tag und Nacht hindurch, damit die Zeit vergeht, damit Hanna vergisst, damit die Erinnerungen erträglicher werden. Für alles, was sie sehen und hören kann, für alles, was still ruhend oder in Bewegung rund um das provisorische Lager existiert – schnell hochgezogene Hüttchen aus Binsen und Strohgeflecht über einem Gerippe aus Hölzern –, gibt es eine Geschichte. Manchmal sogar viele Geschichten über dasselbe Ding oder dasselbe Ereignis, sei es nun Stein oder Dornbusch, Geburt oder Tod. Kein Hügel oder Fels, kein Aloe- oder Köcherbaum, kein ausgetrockenetes Flussbett oder Staubteufel oder Graben oder Kalkplateau, das nicht seine Gottheit hätte, wohltätig oder bösartig. Und alle nehmen sie an dem ewigen Kampf zwischen dem guten Gott Tsui-Goab, der im roten Himmel lebt, und dem teuflischen Gaunab teil, der im schwarzen Himmel lebt.

      Wenn Hanna die Hände hebt, um zu fragen, was das alles bedeuten soll, lächelt die alte Taras und antwortet mit einer eigenen Frage: »Was machen deine Schmerzen?« Und Hanna nickt, um ihr zu bedeuten, sie fühle sich besser. Und da sagt Taras: »Dafür sind Geschichten da.«

      Manchmal vergisst sie, den Worten zu lauschen, und überlässt sich einfach dem Klangfluss, den Rhythmen und Wiederholungen und Kadenzen, die selbst im stockenden und verstümmelten Deutsch der alten Frau die reine und komplizierte Musik der Geschichten bilden – Dann liefen sie, dann liefen sie. Sie treckten, treckten, treckten ...

      Manchmal hört sie den Namas auch zu, wenn sie in ihrer eigenen Zunge untereinander reden. All diese komplizierten Klicklaute. Ab und zu öffnet sie ihren stillen Mund, um ihre Bewegungen nachzumachen, gibt es dann aber wieder auf. Wie soll sie jemals mit ihnen kommunizieren können? Es ist nicht nur ihre verlorene Zunge, die sie zum Schweigen verdammt, sondern das Wissen, dass nichts in der Sprache, die sie mitgebracht hat, fähig wäre, das auszudrücken, was sie so dringlich sagen möchte. All das, was mit diesem Ort hier, dieser Welt zu tun hat, aber in Worten, die noch nicht vom Gebrauch anderer zerschlissen sind, oder von der Verwendung für andere Orte. Nur ist das unmöglich. Die Wörter haben ihre eigene Vergangenheit und ihre eigene dunkle Geografie, die sie mit sich nehmen, denkt sie. Die Wörter dieser Menschen hier sind anders. Sie hört genau hin, wenn Taras sie geduldig wiederholt, wie man sie einem schwachsinnigen Kind wiederholen würde. Khanous, der Abendstern. Sobo khoin, Schattenwesen, Geister. Sam-sam, der Friede. Torob, der Krieg. Oder die Namen der Tiere: t’kanna, khurob, t’kaoop, nawas, t’kwu. Wörter, die sie ausschließen, ihr den Rücken zukehren.

      Als Hanna sich schließlich überreden lässt, ein paar zögerliche Schritte nach draußen zu machen, zunächst gestützt von den Armen der Frauen, später dann selbständig, da hat sie beinahe Angst, ihre Füße aufzusetzen, denn sie befürchtet, es könne nicht der Erdboden sein, den sie unter ihren Sohlen spürt, sondern die Geschichten aus lebenden und verborgenen Wesen, teilweise von ganz natürlicher Art, dann wieder übernatürlich, manchmal beides zugleich.

      13

      Der gesamte Nama-Stamm, fünfzig oder sechzig Menschen, Männer, Frauen und Kinder, begleiten Hanna X, als sie schließlich so weit ist, zum Frauenstein transportiert werden zu können. Und sie gehen, gehen, gehen und sie trecken, trecken, trecken durch eine Landschaft voller Geschichten, bis schließlich der seltsame, unwirkliche Bau sich vor ihren Augen am Horizont abzeichnet.

      Im Näherkommen passieren sie einen riesigen Gemüsegarten, der in dieser Wüste eine wirkliche Überraschung ist, und ein Stück Garten, der verdorrt ist und der Friedhof sein muss. Er ist von einer unregelmäßig aufgeschichteten, niedrigen Mauer umgeben. Aber Grabsteine gibt es keine. Jedes der Gräber, es müssen gut fünfzig sein, die in geraden Reihen stehen, hat ein grob geschreinertes Kreuz an einem Ende, aber auf keinem steht eine Inschrift. Auch Blumen sucht man vergeblich oder irgendein anderes Zeichen dafür, dass jemand sich um den Ort kümmert und ihn in Ordnung hält. Die letzte Reihe ist noch nicht voll, aber die letzten drei oder vier Gräber darin sind bereits ausgehoben und notdürftig mit verwitterten Brettern bedeckt, neben denen Erdhaufen liegen. Geduldig warten die Gräber darauf, einen jeden zu empfangen, der hierher getragen wird.

      Der kleine Trupp Namas bleibt eine Weile stehen, um sich diesen Ort genauer anzusehen, der so sehr viel provisorischer wirkt als die Steinhaufen, die ihr Volk quer durch das dürre Land auf seinen Gräbern aufrichtet, um seiner Toten zu gedenken sowie der vielen Tode seines Jägergottes Heiseb – allein auf dem Weg hierher sind sie an dreien davon vorbeigekommen. Nach einer Weile machen sie sich wieder auf und nähern sich dem hochragenden steinernen Bau.

      Eine Frau in grauem Kleid öffnet auf ihr Klopfen hin die riesige Eingangstür. Als sie die Masse von Schwarzen sieht, weicht sie einen Schritt zurück, aber als sie ihnen bereits die Tür vor der Nase zuschlagen will, entdeckt sie die weiße Frau unter ihnen, sieht, wie sonnenverbrannt und mager sie ist, sieht ihr verstümmeltes Gesicht – und zögert.

      »Was wollt ihr?«, fragt sie.

      »Wir bringen


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