Die andere Seite der Stille. Andre Brink

Die andere Seite der Stille - Andre  Brink


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war der Körper verschwunden. Das war angesichts der Menge an Aasfressern nicht weiter ungewöhnlich. Aber ihre weiblichen Reisegefährten? Waren die so tief in ihre eigene Erniedrigung versunken, dass sie nichts bemerkten? Oder es ihnen egal war? Gleichviel, was wir wissen, ist, dass immerhin eine von ihnen, die junge, sich doch so viel für Hanna interessierte, dass sie von Zeit zu Zeit nach ihr sah. Vielleicht aber auch wollte sie, nachdem es passiert war, lieber kein Interesse auf sich ziehen. Alles in allem ein höchst ärgerliches Mysterium und keinesfalls das einzige in dieser Geschichte. Hanna X, die sich auf ewig hinter dem trivialen Symbol des Unbekannten verbirgt.

      Sie stirbt nicht, natürlich nicht, auch wenn es ihr selbst damals so vorgekommen sein muss. Als sie wieder zu Bewusstsein kommt, Stunden später oder sogar Tage? – sie weiß es nicht, es ist auch egal, da ist sie bei einer Gruppe von Namas in ihrem Lager in der Wüste. Ihr erster Gedanke, während sie sich durch viele Schichten aus Schwindel und Schmerz aus der Dunkelheit ins Licht zurückkämpft, ist, dass im Waisenhaus ein Konzert stattfindet und jeder sein Festkleid trägt. Obwohl Festkleid ein Witz ist angesichts der kruden Mixtur aus Kleidungsstücken und Schmuck, die sie tragen. Grob geschneiderte Kappen aus Luchs- oder Zibetkatzenfell, aber auch breitkrempige Hüte mit Straußen- oder Fasanenfedern an der Krempe. Einige haben Hemden und Röcke an, aber auch Ketten aus Muscheln oder Zebra- und Schakalschwänze. Einige wenige Jacken, aber ebenso weite Umhänge aus den ungegerbten Fellen von Klippschliefern oder Gazellen. Baumwollhosen, aber genauso knappe Lendenschurze, die die Scham bedecken. Einige wenige Männer haben Gewehre, andere tragen Pfeil und Bogen. Die Oberkörper der Frauen sind nackt, es gibt pubertierende Brustknospen zu sehen und die Schlauchbrüste alter Weiber, leere Hautsäcke, die bis auf die faltigen Bäuche hängen, und Nippel wie schuppige Eidechsenköpfe.

      Alle plappern sie durcheinander, es klingt wie Vogelgezwitscher, mit seltsamen Klick- und Zisch- und Kehllauten, aber als sie bemerken, dass sie die Augen aufgeschlagen hat, kommen einige näher und fangen an, in gebrochenem Deutsch mit ihr zu reden, das sie von den Besetzern ihres Landes gelernt haben müssen. Hanna vermag nur den Kopf zu schütteln. Als sie nicht aufhören, öffnet sie widerstrebend den Mund und deutet hinein auf die fehlende Zunge. Schockierte und verblüffte Ausrufe, vielleicht auch mitleidige. Aber diese kleine Anstrengung hat sie schon so erschöpft, dass sie wieder in Ohnmacht versinkt, obwohl sie noch mitbekommt, wie Hände ihren Kopf anheben und wie eine Kalebasse an ihren Mund gehalten wird und man ihr eine saure, übelriechende, geronnene Flüssigkeit in die Kehle zwingt. Schmerz, Schmerz.

      Entgegen allem Anschein bessert sich aber offenbar ihr Zustand. Die Intervalle von dunkler Bewusstlosigkeit werden kürzer. Die Zeiten schmerzvoller Wachheit werden länger, ihre Gedanken nehmen Form an, die Erinnerung kehrt zurück. Noch immer wäre sie lieber tot und verwünscht hilflos diese Menschen hier, die ihr nicht gestatten wollen, in Frieden zu sterben. Aber der Schmerz, konstatiert sie fast schon gegen ihren Willen, der Schmerz wird langsam stumpfer, weicht, schwächt sich ab und ist nicht mehr – oder nicht mehr die ganze Zeit – so überwältigend, wie er war.

      Als sie zwischen ihren Schenkeln warme Feuchtigkeit spürt und mit dem Finger nachfühlt, entdeckt sie, dass ihre Blutung begonnen hat – und zwar die altbekannte aus dem Innern, nicht das Bluten von Wunden. Einige der Frauen, die ältesten, spreizen ihre Beine und tupfen sie mit Grasbüscheln ab, sie kann hören, wie sie mit der Zunge klicken, tsk-tsk, während sie ihr verstümmeltes Geschlecht betrachten. Erst jetzt kehrt der Albtraum im Zug in ihr Gedächtnis zurück und sie würgt an der Erinnerung. Zuerst war ihr Gesicht dran. Dann wurde ihr Mund aufgezwungen, ein Stück Holz zwischen ihre Zähne gesteckt, um an ihre Zunge zu kommen. Sie erstickte fast am Blutschwall. Dann wurden ihre Brustwarzen abgeschnitten. Ihre stark durchbluteten, hühnerleberartigen Schamlippen weggeschnitten. Oh Gott. Oh Gott. Gib mir ein Messer, denkt sie, damit ich mich umbringen kann, wie kannst du mich denn so weiterleben lassen? Ich bin doch keine Frau mehr, kein Mensch mehr, ich bin nur noch ein Ding.

      Was wohl Pastor Ulrich sagen würde, wenn er sie jetzt sehen könnte? Sie stöhnt und verzieht das Gesicht. Das Versteck des Teufels hatte er den Ort genannt. Wie unschuldig erscheinen jetzt, nach dem, was ihr im Zug angetan wurde, sein bohrender Finger und seine Kneiferei und seine flüchtigen Fummeleien. Aber dann steigt die bittere Galle in ihr hoch. Die Frauen müssen sie mit Gewalt unten halten. Sie versucht »Nein!« zu schreien, aber das gurgelnde Geräusch aus ihrer Kehle ist unverständlich. Nichts daran war unschuldig, denkt sie wütend, während sinnlose Zornestränen ihre brennenden Wangen hinabrinnen. Vielleicht ist es ein gradueller Unterschied, aber kein prinzipieller. Was der Frau im Zug geschehen ist, war nur eine Variation und Erweiterung dessen, was auch schon dem Kind angetan worden war. Es ist alles dieselbe Sache, es hat nie ein Innehalten darin gegeben, kein einziges Mal.

      In ihrer Hilflosigkeit schluchzt und stöhnt sie auf, das bringt den Schmerz zurück, und der wütet weiter und weiter, bis endlich eine weitere Ohnmacht ihr eine Ruhepause gönnt. Und als sie das nächste Mal wieder erwacht, hat sie keine Energie mehr, um zornig zu sein. Sie vermag nur noch mit angezogenen Knien dazuliegen und zu wimmern. Es gibt keine Hoffnung, keinerlei Hoffnung, es gibt keine Widerstandskraft mehr. So sieht ihr Leben aus und das muss gelebt werden, das ist alles.

      Tage und Nächte hindurch kümmern die alten Nama-Frauen sich um sie, bringen stinkende Kräuter und zerstoßenes Pulver herbei, um damit die Wunden zu behandeln, füttern sie mit unsäglich übel schmeckenden Gebräuen und zwingen sie, an einer langstieligen Pfeife zu ziehen und den ranzig-süßen Rauch zu inhalieren, von dem ihr übel wird, aber der die Spannung und den Schmerz lindert und ihr am Ende zu Schlaf verhilft. Sie überreden sie, Sauermilch zu trinken, an merkwürdig schmeckenden Wurzeln und Knollen aus der Steppe zu lutschen, einen Straußeneidotter zu schlürfen, der in seiner Schale auf der Glut erhitzt wurde, bis sie schließlich in der Lage ist, vorsichtig und unter Schmerzen die ersten kleinen Fleischstücke zu verzehren. Wahrscheinlich Vögel. Später sind es dann Streifen von Bockfleisch, manchmal roh und saftig, manchmal gekocht oder gebraten, manchmal getrocknet.

      Noch lebhafter als an alles Essen und alle Arznei und das aufmunternde Klicken, mit dem beides verabreicht wird, wird Hanna sich daran erinnern, wie sie sie mit Geschichten gefuttert haben, von denen die älteste der Frauen unzählige zu kennen scheint. Es fängt an, kurz nachdem sie zum ersten Mal aufgewacht ist, daliegt und stumpfsinnig, in einer Art verständnisloser Benommenheit, auf die Landschaft starrt, die vor Sonne und Zeitlosigkeit pulsiert und über der ein Himmel gespannt ist, aus dem jegliche Farbe herausgebleicht wurde. Nachdem sie sie eine Zeit lang beobachtet hat, macht die älteste Frau – ihr Name ist Taras und das heißt, erklärt sie: Frau – eine Geste, die die ganze sie umgebende Wüste umfasst. »Du fragst dich, wie sie so trocken sein kann?«, fragt sie in ihrem bruchstückhaften Deutsch. »Das liegt an einer Frau. Der Frau Xurisib, die sehr schön war, aber auch sehr eitel, die eitelste Frau in Namaland. Und all die jungen Männer schwärmten von ihr, dass ihnen die Kämme schwollen. Selbst die alten Männer wachten mitten in der Nacht auf und sahen ein Rohr zwischen ihren Beinen hervorwachsen, so intensiv hatten sie von ihr geträumt. Hanna liegt da mit geschlossenen Augen und lässt die Worte der alten Frau über sich strömen wie kühles, perlendes Wasser. Xurisib, erzählt Taras, war so eitel, dass sie sogar die Blumen verachtete, welche die Erde bedeckten, nachdem es der gute Gott Tsui-Goab hatte regnen lassen. »Die halten nicht«, sagte sie. »Morgen fangen sie schon an zu verschrumpeln und sterben, dagegen wird meine Schönheit nie welken.« Alle Menschen warnten und warnten sie, aber Xurisib hörte nicht auf sie. Schließlich erschien Tsui-Goab ihr persönlich in Gestalt einer Heuschrecke in einem kleinen Busch, der brannte und brannte, ohne dabei zu verbrennen. »Du hast mir sehr wehgetan, Xurisib«, sagte er zu dem Mädchen. »Denn ich bin es, der nach dem Regen diese Blumen wachsen lässt, ich bin der Spender aller guten Dinge.« Aber Xurisib lachte nur stolz und schüttelte den Kopf, wobei ihre Brüste wogten und ihre Armreifen klimperten. »Ich brauche deine Blumen nicht«, sagte sie, »und dich brauche ich auch nicht. Das Einzige, was ich will, ist meine Schönheit.« Da wurde Tsui-Goab sehr traurig und ging davon, und von da an wurde Namaland der trockene Ort, der es noch heute ist. Die Flüsse vertrockneten und die Bäume verdorrten und das Schilf verfaulte und die Vögel verstummten, und alles was übrig blieb, war weißer Sand und roter Sand und lange Dornen, die ihr die Beine aufkratzten. Als Xurisib zurück in ihr Dorf kam, fand sie ihre Nachbarn dabei, alles zusammenzupacken, um fortzuziehen, und natürlich gingen auch alle jungen Männer fort. Das Mädchen


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