Die andere Seite der Stille. Andre Brink

Die andere Seite der Stille - Andre  Brink


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Aber auf diese sichtbaren Dinge kommt es nicht wirklich an, sie sind nicht mehr als Zeichen. Es gibt ganz andere Narben, unsichtbare, die ungleich schlimmer sind und die nie verheilen.

      Keinen einzigen Moment lang lässt der Schmerz nach. Er ist wie eine Lösung, in der sie schwimmt. Schmerz, Gott, Schmerz. Warum ist sie nicht gestorben? So schlimm kann doch keine Sünde sein, dass man das verdient hätte. Können sie sie nicht einfach hier zurücklassen, damit sie stirbt? Das müsste ganz einfach sein. Aber bislang ist kein Tod stark genug gewesen, sie mit sich fortzunehmen. Weiter und immer weiter dauert der Schmerz. Weiter und immer weiter rollen sie voran.

      Mit jedem Holpern des Wagens fühlt sie sich Stück für Stück in die Brüche gehen. Sie ist nicht mehr, die sie ist, nicht mehr die sie irgendwann einmal gewesen sein mag, nur noch das, was sie sein könnte, nichts mehr als eine Möglichkeit ihres Ichs, eingefasst von Schmerz.

      Ein wenig Trost hätte ihr aus der Muschel kommen können, aber die ist irgendwo unterwegs verlorenen gegangen, womöglich während des Martyriums im Zug. So ein kleines Ding, aber es nicht mehr zu haben macht all den Unterschied zwischen Erinnerung und Leere aus, zwischen einer Möglichkeit, Hoffnung zu empfinden, und der Unausweichlichkeit der Verzweiflung.

      Kaum wahrnehmbar kommt der Wagen in der immensen Landschaft unter der bösartigen Sonne voran. Ab und an erblickt man eine Schildkröte, eine blauköpfige Eidechse auf einem flachen braunen Felsen oder eine fern stehende Oryx-Antilope mit ihrem heraldischen Gehörn oder auch Vögel. Schreiende Wachteln flattern auf, wenn die Ochsen zu nahe kommen, oder kleine getupfte Rebhühner. Manchmal sieht man die Silhouetten von Geiern mit ausgebreiteten Flügeln auf unsichtbaren Luftströmen gleiten. Einmal, wundersamerweise, fliegen Störche vorbei, schwarze Flügelenden und blutrote Schnabelspitzen. Sie erkennt sie wieder. In Bremen hat sie sie immer gegen Ende des Sommers gesehen, wie sie sich auf Bäumen oder Dächern sammelten, bevor sie davonflogen. »Nach dem Süden.« So sagten die Leute. Unmöglich, es noch präziser auszudrücken. Nach dem Süden. Und da sind sie nun. Das muss hier der sommerliche Süden sein. Einen Augenblick lang ist sie von einem merkwürdigen Hochgefühl erfüllt. Auch sie ist wie ein Vogel in den Süden gezogen. Vielleicht wird sie auch noch lernen zu fliegen. Aber der Gedanke daran macht sie wieder schwindlig. Die weiße Sonne blendet sie. Vielleicht hat sie nur fantasiert. Das ist hier ein Fantasieland. Hier flimmern Trugbilder am Horizont, große Seen schimmern in der Hitze und verschwinden dann ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht sind. Ein Strand mit Palmen, die die Brise wiegt, auf dem Kopf. Kinder spielen im Sand, sie kann die Farbflecke ihrer Kleidung gegen den Sonnenglast sehen. Dann verliert sie wieder das Bewusstsein. Aber die Vision geht weiter. Ein kleines schwarzhaariges, blauäugiges Elfenmädchen. Plötzlich ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn mit ungeheuren Schwanzfedern. Sie hört sie schreien und bellen und miauen und krähen. Und versinkt wieder in der Bewusstlosigkeit.

      Als sie erwacht, ist die Landschaft noch immer dieselbe. Sie ist so leer wie zuvor, ja noch leerer, denn die kurz aufgetauchten Lebewesen sind wieder aus ihr verschwunden. Sie ist so leer, wie die Welt gewesen sein muss, kurz nachdem Gott sagte: Es werde Licht, und bevor noch irgendetwas anderes da war. Vielleicht ist diese Wüste ja aber auch gerade der Endpunkt der Schöpfung. Die feste Erde verflüssigt sich an den Rändern und schmilzt in den Himmel hinüber. Das Nichts ist Fülle. Es braucht keinen Zusatz, es ist, was es ist, nicht mehr und nicht weniger, dieser Himmel, diese Erde, diese grandiose Leere, die sich selbst genügt. Gott hat sich von hier zurückgezogen, bevor sein schlimmster Fehlschlag, der Mensch, hier seine Spuren hinterlassen konnte. Das einzig Überflüssige hier ist dieser Wagen mit seinem schwer arbeitenden, schwankenden Gespann, seiner menschlichen Begleitung und dem Wirrwarr an Frauen, darunter sie, Hanna X. Ohne sie alle, ohne Hanna, wäre die Landschaft perfekt.

      Sie dehnt sich nach allen Seiten aus und berührt den schwelenden Abgrund des Himmels. Sie wellt sich anmutig. Wie das Meer auf Höhe des Äquators. Sie ist ebenso endlos wie das Meer. Und von neuem überlässt sich Hanna den wiegenden Bewegungen. Sie ist an Deck. Niemand sonst ist da. Und plötzlich weiß sie, was sie tun muss. Endlich wird sie Frieden haben, eine Welt ohne Ende. Ganz einfach. Warum hat sie daran nicht schon vorher gedacht? Du musst dich nur bis zur Reling bewegen, dich darüberbeugen, dich ein klein wenig hochziehen, und schon bist du auf der anderen Seite und fällst und fällst und fällst ins Nichts. Sie wird nicht einmal versuchen, zu schwimmen oder an die Oberfläche zu kommen, um Luft zu schnappen, sondern immer tiefer sinken und sinken, durch alle Schichten des Schmerzes hindurch, hinab ins tiefste Vergessen, ein Murmeln, ein Verklingen, ein Verklingen, in dem sie dann endlich stirbt.

      11

      Im Waisenhaus gibt es eine Strafe, die Hanna mit der Zeit tatsächlich genießt, auch wenn sie darauf achtet, es nicht merken zu lassen, denn sonst werden sie mit etwas anderem kommen. Sie besteht darin, dass man ihr befiehlt, stundenlang, manchmal einen ganzen Nachmittag hindurch, auf einer harten Bank an einem der langen, leeren Refektoriumstische zu sitzen und in der Bibel zu lesen. Danach muss sie an Frau Agathe über das Gelesene berichten. Lange Zeit hasst sie diese Strafe, denn die Bibel ist das Buch der Leute, die sie am meisten terrorisieren und ihr bis in die Träume hinein zusetzen. Aber dann entdeckt sie die guten Geschichten. Und im Laufe der Zeit findet sie einige, die ihr besser gefallen als andere. In den meisten Fällen sind das Geschichten von Frauen, die sich auf die eine oder andere Weise aus widrigen Umständen herausschummeln oder charmieren oder kämpfen oder winden. Zum Beispiel Ruth, arm und unglücklich, die auf dem Feld des reichen Mannes Boas Ähren liest (was immer das heißen soll). Eines Nachts schließlich kriecht sie unter seine Bettdecke und sorgt dafür, dass er sie bemerkt, und so entschließt er sich, sie zu heiraten. (Eine ziemlich lächerliche Geschichte, findet sie, aber immerhin entkam Ruth auf diese Weise ihrer Armut.) Oder die kluge Esther, die König Ahasverus heiratet, nachdem er sein Weib Vasthi gefühllos verstoßen hat, und die ihre Macht dann benutzt, um ihren Freunden zu helfen und ihre Feinde zu strafen. Und natürlich die berüchtigte Salome, die sich ins Herz von König Herodes tanzt und ihn überredet, ihr das Haupt von Johannes dem Täufer auf einer Platte vorzulegen. Eine ziemlich üble Geschichte, aber wie sonst hätte das Mädchen denn ihre Ziele erreichen sollen?

      Es gibt noch mehr Geschichten, die ein Leuchten tiefer, dunkler Befriedigung hervorrufen. Die Schwester Moses, die die Tochter des Pharaoh betrügt, um das Leben ihres kleinen Bruders zu retten. Thamar, die ihren Schwiegervater dazu überlistet, mit ihr zu schlafen, um ihn dadurch als den heuchlerischen Herrn zu offenbaren, der er ist. Hagar, zurückgestoßen von dem Mann, der sie auf den niederträchtigen Rat seiner alten Frau Sarah hin benutzt hatte, und die dann in der Wüste von einem Engel gerettet wird. Lots Töchter, die ihren Vater betrunken machen und sich dann zu ihm legen, damit ihr Stamm nicht ausstirbt. (Hanna weiß nicht recht, wie die Tatsache, sich zu einem Mann zu legen, zum Überleben eines Stamms führen kann, aber ganz gleich wie, scheint es eine raffinierte Methode, um zu seinem Ziel zu gelangen.) Deborah, die zur Richterin über ihr gesamtes Volk wird und Baraks Armeen gegen den Feind Sisera schickt. Und Jael, die denselben furchtsamen Sisera beschmeichelt, einen Becher Milch gegen seinen Durst zu akzeptieren, woraufhin sie ihn mit einem Leinen zudeckt und zum Schlafen in ihr Zelt legt, nur um dann einen langen Pflock durch seine Schläfe zu treiben, der ihn am Boden festnietet. Umso besser für sie. Und Dalilah, die den wilden, prahlerischen Samson zugunsten ihres Volks verrät und ihn für die vielen Männer bezahlen lässt, die er mit dem Kieferknochen eines Esels totgeprügelt hat. Und so weiter und so weiter durch all diese goldbeschnittenen Seiten, bis hin zu der triumphalen Vision des in Purpur und Samt gewandeten Weibs, das auf einem scharlachroten Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern sitzt: Also das, denkt Hanna, ist genau die Art und Weise, wie sie gerne eines Tags durch die Straßen Bremens reiten wollte, begleitet vom Geläut aller Glocken des Doms.

      12

      Ich habe nie verstehen können, warum der Wagen nicht angehalten hat oder umgekehrt ist. Selbst wenn man Hanna Xs Verschwinden erst später entdeckt hätte, wäre es doch gewiss die logischste Lösung gewesen, so weit wie eben nötig wieder zurückzufahren. Oder kann es sein, dass sie tatsächlich umgekehrt sind, aber sie reglos daliegen fanden, sie für tot hielten und weiterzogen? Aber dann hätten sie doch wenigstens versucht, sie zu begraben, und sei es nur, dass sie die Leiche mit Steinen oder trockenen Zweigen bedeckt hätten. Andererseits herrschte vielleicht wirklich so wenig Austausch zwischen


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