Die andere Seite der Stille. Andre Brink

Die andere Seite der Stille - Andre  Brink


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Braunschweig ist viel gereist, durch ganz Deutschland hindurch, von Hamburg hinunter bis zu den bayerischen Alpen und von Dresden bis Saarbrücken. Sogar bis nach Wien und Prag und Budapest und einmal sogar nach Paris.

      »Wenn ich groß bin, will ich auch reisen«, sagt Hanna. »Ich werde einmal um die ganze Welt reisen. Ich will alles sehen, was es gibt.« Bei diesen Worten glüht ein Fieber in ihrer Brust. Sie legt die Hände auf die glatte Oberfläche des Globus in Fräulein Braunschweigs Raum. Unter ihrer Berührung dreht er sich langsam. »All diese Orte mit so musikalischen Namen.« Sie bewegt den Finger auf gut Glück vorwärts. »Cordoba, Carcassonne, Tromsö, Nowgorod, die chinesische Mauer, der Bosporus, Tasmanien, Saskatchewan, Arequipa, Tierra del Fuego, Sierra Leone, Yaoundé, Okahandja, Omaruru. Ich will dahin, wo die Vögel im Winter hinfliegen. An die warmen Orte auf der Erde. Hinter den Ursprung des Winds. Wo die Sonne scheint und seltsame Tiere leben und Kannibalen und Drachen und wo es Palmen gibt.«

      Fräulein Braunschweig ermutigt sie zu diesen Fantasiereisen. »Irgendwann einmal«, sagt sie, »gehe ich vielleicht mit dir.«

      »Sie?«

      Zu ihrer Überraschung läuft Fräulein Braunschweig rot an. »Ich habe auch immer vom Reisen geträumt«, gesteht sie wie ein Schulmädchen. »Vor Jahren einmal hatte ich einen genauen Plan ausgearbeitet. Ich wollte mit ... einem Freund verreisen.« Sie macht eine Pause und schließt abrupt an: »Und dann starb er.«

      »Das tut mir so leid.«

      Immer wieder überrascht die Lehrerin das Mädchen. Allen anderen gilt Hanna als ungeschickt, sie ist diejenige, die immer etwas verschüttet, irgendwo dagegenläuft, Dinge versehentlich von Tischen und Kommoden stößt, einen Schuh verliert oder ihren Hut oder ihre Schürze, die vergisst, Türen und Fenster zu schließen, die Socken in der Wäsche verlegt, die über alles stolpert, was in der Gegend herumsteht, sie ist diejenige, die weder anständig ihr langes Haar aufstecken noch ein Laken falten kann, die sich ständig den Finger in einer Tür oder Schublade einklemmt und deren Arme und Beine andauernd mit Schürfwunden und blauen Flecken übersät sind. Aber für Fräulein Braunschweig ist sie eher eine Kameradin als ein Kind.

      Vor allem ist Fräulein Braunschweig jemand, der sich sorgt und kümmert. Sie ist es, die Arzneien holen lässt, wenn Hanna sich unwohl fühlt, sie, die ihr gestattet, sich auf ein Sofa zu legen, und sie zudeckt, wenn sie vor Hunger im Klassenzimmer in Ohnmacht fällt, weil sie aufgrund irgendeines Verstoßes kein Frühstück bekommen hat. Und sie ist es natürlich auch, die an diesem Donnerstag Anfang November bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt, und fragt: »Was ist los mit dir, Kind? Du siehst so blass aus.«

      Zunächst ist sie zu schüchtern, etwas zu sagen. Aber als Fräulein Braunschweig in sie dringt, gesteht sie mit hängendem Kopf und brennendem Gesicht: »Ich blute jetzt schon seit zwei Tagen, Fräulein.«

      »Wo?«

      Mit schamrotem Gesicht deutet Hanna hastig auf ihren Unterleib.

      »Wie alt bist du jetzt, Hanna?«

      »Zwölf. Ende des Monats werde ich dreizehn, am fünfundzwanzigsten.«

      Über das Gesicht der Lehrerin gleitet der Schatten eines Lächelns. »Ich glaube, du bist dabei, zur Frau zu werden, Hanna.«

      Sie ist zu perplex, um zu antworten. Und sie fürchtet sich, über den ihrer Ansicht nach tatsächlichen Grund zu sprechen, nämlich dass Pastor Ulrich ihr eine tödliche Wunde beigebracht hat. Denn dann müsste gar zu viel erklärt werden.

      »Von jetzt an wirst du jeden Monat einmal bluten, mein Kind.«

      »Wie kann das denn sein?«

      »Das passiert uns allen so. Und jetzt setz dich einmal hin und höre mir genau zu.«

      Danach versorgt Fräulein Braunschweig sie mit ein paar Streifen Leinen aus der Schublade, in der sie unerschöpfliche Reserven der unerwartetsten Dinge für jeden nur möglichen Notfall aufbewahrt, und dann gibt sie Hanna einen Brief für Frau Agathe mit und ein neues Buch, das sie mit zu den Kindern Jesu nehmen kann.

      15

      Es ist ein Buch, das Hanna für ihr ganzes zukünftiges Leben prägen wird. Kein Buch mit Geschichten oder Reisebeschreibungen wie die meisten anderen, die Fräulein Braunschweig sie zu lesen anhält, sondern Geschichte. Eine Erzählung vom Leben und Sterben von Johanna von Orléans. Im Laufe der Zeit wird es die Leere füllen, die der Verlust ihrer Fantasie-Freunde Trixi, Spixi und Finni hinterlassen hat. Johanna wird wirklicher für sie als alle Mädchen im Waisenhaus einschließlich der kleinen Helga. In der duftenden abendlichen Dunkelheit, wenn die Kerzen ausgeblasen worden sind, wird sie ihre Furcht vor der Nacht mit der Vorstellung austreiben, Johanna liege neben ihr in dem schmalen Bett. Sie werden lange Gespräche miteinander führen, die manchmal bis zum Morgengrauen dauern. Wieder und wieder wird die Jungfrau die baren Fakten ihres kurzen Lebens erzählen: Wie sie im düsteren Heim der Familie im Dorfe von Domrémy im Maastal ihren häuslichen Pflichten nachgeht, aber sich, wann immer sie kann, in die Büsche schlägt und die kleine, winzige weiße Kapelle von Bermont aufsucht, die verborgen im Wald liegt und zu der sie der Glockenklang lockt. Ihr ganzes Leben lang wird sie sich von Glocken verzaubern lassen. Im Alter von zwölf hört sie eines Sommertages im Garten ihres Vaters zum ersten Mal jene Stimmen, die ihr sagen, sie sei von Gott auserwählt und solle Männerkleidung anziehen und eine Armee anführen, um König Karl VII. von den englischen Armeen zu befreien, die ihr Land besetzt halten. Aber was kann sie denn um Gottes willen tun? Sie ist schmal wie ein Handtuch, sie hat Angst vor der großen Welt gewalttätiger Männer und politischer Intrige und Feldschlachten weit fort von den bescheidenen Hütten Domrémys. Und wer wird ihr denn je zuhören? Ihr Vater würde sie eher eigenhändig ersäufen als sie in Gesellschaft von Soldaten zu sehen. Aber die Stimmen beharren über die Jahre hin. Manchmal fragt sie sich, ob sie nicht verrückt geworden ist. Aber diesen Gedanken kann Hanna nicht akzeptieren. Hat sie denn nicht selbst Stunden mit Trixi, Spixi und Finni verbracht? Solche Stimmen sind nur zu real.

      Schließlich überwindet Johanna den Widerstand eines gutgläubigen Cousins, der akzeptiert, sie nach Vaucouleurs zu bringen, der kleinen Garnisonsstadt zwanzig Kilometer das Tal hinauf, um dort Robert de Baudricourt zu treffen, den ersten ihrer mächtigen Gönner. Nach langwierigen Verhandlungen – Johanna ist eben siebzehn geworden – stimmt er zu, sie nach Chinon zu schicken, wo sie den x-beinigen, schielenden Dauphin mit der großen Nase treffen wird, den manch einer schon als Karl VII. apostrophiert, obwohl er bislang noch nicht gekrönt ist. Karl sieht hier eine Gelegenheit, seine eigenen Interessen voranzubringen, ohne dabei irgendein persönliches Risiko einzugehen. Nachdem sie in Poitiers, Tours und Blois eingehende Prüfungen über sich ergehen lassen musste, darunter eine handgreifliche Kontrolle ihres Intimbereiches, die von keiner Geringeren durchgeführt wird als der Königin von Sizilien, der Schwiegermutter des Dauphin, um ihre Jungfräulichkeit zu überprüfen, erhält Johanna die Erlaubnis, eine Armee von mehreren Tausend Mann auf die belagerte Stadt Orléans zu führen. Offiziell gelten mehrere Männer als Befehlshaber (und wie Hanna mit ihrer Liebe zu exotischen Namen den Geschmack dieser Silben auf ihrer Zunge genießt: der Marschall von Sainte-Sévère, der Marschall de Rais, Louis de Culen, Ambroise de Losé sowie der ruppige und raue La Hire), aber vom ersten Tag an darf niemand sich Illusionen darüber machen, wer hier wirklich das Kommando führt. Und am 8. Mai 1429 wird die sechsmonatige Belagerung aufgehoben. Die Engländer beginnen mit dem Rückzug, und überall in Frankreich wird der Name Jeanne d’Arcs, eines Mädchens, das nicht einmal schreiben und lesen kann und mit einem Kreuz unterzeichnet, zur Legende. Schmetterlingswolken umflattern ihre Standarte aus Buckram und Seide in den Farben Blau, Silber und Gold, ganze Schwärme kleiner Singvögel lassen sich auf Büschen und Bäumen nieder, um zuzusehen, wie sie in die Schlacht reitet. Kein Jahr später wird sie verraten und gefangen genommen, ein weiteres Jahr später wird sie von dem Inquisitions-Tribunal, dem der Fettsack Pierre Cauchon vorsteht, Bischof von Beauvais, zum Tode verurteilt und unter dem donnernden Glockengeläut aus der Kathedrale als Hexe auf dem Marktplatz von Rouen bei lebendigem Leibe verbrannt. Was für ein schmaler Grat zwischen Jungfräulichkeit und Hexerei. Selbst die tiefste und letzte Erniedrigung muss sie noch ertragen, als man ihr die letzten Fetzen ihrer brennenden Kleider vom Leib reißt und ihre verkohlten Genitalien


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