MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken. Robert Mccammon

MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken - Robert Mccammon


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an Lord Mortimers Schlafzimmer vorbei an zu einer anderen Tür, die er öffnete. Es handelte sich um ein unbewohntes Zimmer mit einem Himmelbett, das dem in Matthews Raum ähnelte.

      »Aha«, sagte Matthew. »Ich sehe. Und was ist damit?«

      »Dies ist Miss Christinas Zimmer«, antwortete Oberley. »Ihr seht, Sir, dass das Bett unbenutzt ist. Es sieht nicht aus, als hätte jemand es benutzt. Ich habe im ganzen Haus nach Miss Christina gesucht und sie nicht gefunden. Ich dachte, dass sie vielleicht auf einem Stuhl neben ihrem Vater geschlafen hat – aber das war nicht der Fall. Ich bin den Hügel hinuntergegangen, um zu sehen, ob ihr Pferd noch da ist. Das ist es nicht. Sie ist fort. Warum … weiß ich nicht. Vielleicht war es alles zu viel für sie. Aber … ich war fast die ganze Nacht lang auf, Sir. Ich habe Miss Christina nicht gehen sehen, und auch sonst niemanden. Keiner hat die Tür gehört. Gut, sie ist fort … aber wann ging sie? Und wie hat sie das Haus verlassen, ohne dass jemand sie gehört hat?«

      »Es ist ein großes Haus«, sagte Matthew. »Es hat ja niemand die ganze Nacht hindurch die Tür beobachtet, oder?«

      »Nein, Sir. Trotzdem … ich habe ein seltsames Gefühl dabei.«

      »Ein seltsames Gefühl?« Matthew wischte sich den Schlaf aus den Augen. »Was für ein Gefühl?«

      »Nur dass … Miss Christina so anders war als die letzten Male, die ich sie in Grainger besucht habe. Inwiefern genau, kann ich nicht einmal sagen … aber anders. Und sie war so zugänglich und hat ihm alles vergeben und ihm bei seinem letzten Atemzug die Hand gehalten. Und nun … na ja … beginne ich zu denken …« Oberleys Stimme verlor sich.

      »Was beginnt Ihr zu denken?«, drängte Matthew ihn.

      »Dass … dass es vielleicht nicht wirklich Miss Christina war.«

      Stille senkte sich herab. Eine der Kerzenflammen zischte.

      »Wiederholt das noch mal«, sagte Matthew.

      »Dass … die Person, die Miss Christina zu sein schien … nicht sie war. Sir«, fügte er hinzu, »wir hatten einen Mann erwartet. Und … Sir … der Tod ist in Menschengestalt zu Lord Mortimer gekommen – aber als Frau gekleidet.«

      Matthew war sprachlos. Er erinnerte sich an die heftigen Worte von Christina Mortimer am Fuße der Treppe: Fasst mich nicht an! Ich will nicht angefasst werden! »Ihr irrt Euch«, brachte er heraus. »Ihr irrt Euch vollkommen!«

      »Ja, Sir, das mag sein. Aber wo ist Miss Christina jetzt

      »Vielleicht zu Hause. Oder auf dem Weg dorthin. Ich glaube, sie … sie war einfach so erschüttert vom Tod ihres Vaters, dass sie das Haus verlassen musste. Warum sie niemand gesehen oder gehört hat, weiß ich nicht, aber ich vermute, dass man sehr leise nach draußen gelangen kann, wenn man es wirklich will. Wie ich schon sagte … es hat doch niemand die Tür beobachtet, nicht wahr?«

      »Nein, Sir.«

      »Na, also!« Matthew wedelte mit der Hand, als wollte er Oberley wegscheuchen. »Es ist Unsinn, was Ihr da sagt! Eure Phantasie ist mit Euch durchgegangen!« Mit diesem Haus wollte er nichts mehr zu tun haben, entschied er. Sein Auftrag war erledigt; es war Zeit, sich anzuziehen, seine Sachen zu packen und nach Hause zurückzukehren, wo er hingehörte. »Ich möchte noch in dieser Stunde zurück nach New York gefahren werden. Ist das möglich?«

      »Es ist noch früh, aber … natürlich, Sir. Das lässt sich machen.«

      »Ihr braucht nicht mitzukommen. Ich kann gut allein nach Hause reisen.«

      »Wie Ihr wünscht, Sir. Ich muss mich sowieso um die Beerdigung kümmern. Vicar Barrington muss benachrichtigt werden. Ich werde Euch den Rest Eures Honorars zahlen.« Oberley wandte sich zum Gehen, blieb dann aber stehen. Matthew kam es vor, als würde der Diener mit den traurigen Augen sich größer machen. »Ich freue mich, dass Ihr gekommen seid und diese Pflicht erfüllt habt, Mr. Corbett. Ich weiß … dies alles hat Euch zutiefst widerstrebt, aber ich glaube – oder möchte glauben –, dass Eure Anwesenheit Lord Mortimer etwas Trost geschenkt hat. Ich kann nicht sagen, dass er ein guter Mann gewesen ist. Ich weiß nicht, wo seine Seele jetzt ist. Ich weiß nur … er war mein Herr.« Und damit verschwand er zielstrebigen Fußes den Korridor hinunter.

      Matthew musste den rutschigen Hügel hinuntergehen, wo die Pferde mitsamt der Kutsche die Nacht verbracht hatten. Der Kutscher war bei seinem Gespann geblieben und hatte es mit Decken warm gehalten, während er selbst sich mit heißem Tee und Maisbrot von Bess gegen die Kälte gewehrt hatte. Er grummelte ein bisschen, als Matthew verkündete, dass er für die mehrstündige Rückfahrt bereit war, aber binnen einiger Minuten saß Matthew in der Kutsche und die Räder drehten sich … wenn auch nur langsam, da die Straße immer noch voller weiß vereister Stellen war.

      Sie waren noch nicht weit gekommen, als Matthew spürte, wie die Kutsche sich zum Schritttempo verlangsamte. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah, dass sie sich der Eichenbrücke näherten.

      »Da voraus ist irgendein Unheil!«, sagte der Kutscher durch seine Vermummung.

      Matthew reckte den Hals, um besser sehen zu können. Die Kutsche war fast zum Stillstand gekommen. Auf der Brücke standen mehrere Männer und auf den Bohlen der Brücke lag …

      … etwas, das mit einem weißen Laken bedeckt war.

      Jetzt hielt die Kutsche an. Ein Mann kam an das Fenster, aus dem Matthew hinaussah. Er war groß und schlank und hatte ein Gesicht, das von der Kälte gerötet war. Er hatte tiefliegende braune Augen unter einer hohen Stirn und unter seiner grünen Wollmütze ringelten sich weiße Haare hervor.

      »Sir? Ich bin Vicar Barrington«, sagte der Mann. »Wohnt Ihr hier in der Nähe?«

      »Nein, ich bin aus New York. Und gerade auf dem Rückweg dorthin. Was ist denn passiert?«

      »Eine Tragödie, befürchte ich. Eine junge Frau ist tot.«

      »Eine junge Frau?« Matthews Herz krampfte sich zusammen und begann zu hämmern. »Was ist geschehen?«

      »Der Wachtmeister hat es gehört. Er glaubt, dass ein Ast unter dem vielen Eis abgebrochen und auf das Dach der Brücke gefallen ist. Der Lärm muss das Pferd erschreckt haben. Sie ist von dem Pferd gefallen und hat sich am Geländer den Hals gebrochen. Sie liegt noch hier, weil … anscheinend niemand weiß, wer sie ist. Ich versuche jemanden zu finden – irgendwen –, der sie kennt. Würdet Ihr sie Euch vielleicht einmal ansehen, junger Mann?«

      »Ja, natürlich.« Matthew öffnete die Tür, um auszusteigen. Wenn es sich tatsächlich um Christina Mortimer handelte, war ihre Rückkehr nach Hause in der Tat eine Tragödie gewesen, besonders nachdem sie so etwas wie Frieden mit ihrem Vater geschlossen – und gefunden – hatte. »Wann ist das passiert? Vor ein paar Stunden?«

      »Oh, nein, Sir«, sagte der Vikar. »Der Wachtmeister sagte, es war um kurz vor neun.«

      Matthew hielt beim Aussteigen inne. »Neun Uhr? Heute Morgen

      »Sir, es ist erst halb neun. Kurz vor neun gestern Abend ist das passiert.«

      Matthew klammerte sich an die Kutsche. Er starrte auf die mit dem Laken bedeckte Gestalt, die keine sieben Meter weiter lag. Er erinnerte sich, wie die Standuhr am Abend zuvor neun geschlagen hatte … kurz nachdem es an der Tür geklopft hatte. Unmöglich, dachte er. Unmöglich. Nein, der Wachtmeister musste sich irren. Es war diesen Morgen passiert, nicht gestern Abend. Und außerdem … war es höchstwahrscheinlich gar nicht Christina Mortimer.

      »Wir verstehen nicht, dass sie bei dem Wetter überhaupt unterwegs war«, sagte der Vikar, der ebenfalls auf das Laken starrte. »Sie muss einen sehr wichtigen Grund gehabt haben. Kommt, Sir! Bitte seht sie Euch kurz an! Es ist kein schrecklicher Anblick. Sie muss sofort tot gewesen sein, denn sie sieht aus, als ob sie schläft.«

      Wie in einem Fiebertraum erinnerte Matthew sich. Ich habe keinen Hunger und keinen Durst, hatte sie gesagt. Mir ist noch nie in meinem Leben so kalt gewesen, hatte sie gesagt. Ich habe gehört …


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