MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken. Robert Mccammon
kämpfte ein Dreimaster vor mondbeschienenem Himmel gegen die Wellen an, auf einem anderen saßen vier Gentlemen in ein Kartenspiel vertieft um einen Tisch herum, auf dessen Mitte Goldmünzen aufgehäuft waren.
Das Himmelbett befand sich so weit von der Tür entfernt, dass man fast eine Kutsche rufen musste, um hinzugelangen. Neben dem Bett stand ein schwarzer Lederstuhl im Kerzenlicht, und von diesem Stuhl erhob sich ein silberhaariger Mann in grauem Anzug, als Matthew hinter Oberley eintrat.
»Dr. Zachary Baker«, stellte Oberley ihn vor. »Er hat die letzten Tage an der Seite meines Herrn verbracht.«
Sie gingen ans Bett. Baker, der um die sechzig war, trug eine Brille mit quadratischen Gläsern. Er hatte eine schlanke, gerade Figur. Seine silbernen Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Er hatte einen ausgeprägten Kiefer und die klaren, blauen Augen eines Menschen jugendlicher Natur. Das ist kein Landarzt, dachte Matthew. Vermutlich stammte er aus Boston oder war vielleicht sogar aus England geholt worden.
»Guten Abend«, sagte Baker und nickte Matthew zu. Sein Blick war neugierig, aber nicht unhöflich. »Ihr seid …?« Er streckte die Hand aus.
»Matthew Corbett, zu Euren Diensten.« Matthew schüttelte ihm die Hand und spürte eine Kraft, die einen Mann zehn Jahre zuvor noch in die Knie hätte zwingen können.
»Aha. Ich nehme an, Ihr seid aus New York geholt worden, um Euch dem Tod in den Weg zu stellen?«
»Ja, das scheint wohl meine Aufgabe zu sein.«
»Nun dann.« Ein kurzer Blick durchbohrte Oberley. »Unsinn und nichts als Unsinn, aber gut, so ist es nun mal.«
»Corbett?«
Dann wieder: »Corbett?«
Die Stimme hatte den Namen wie das Rascheln von trockenem Schilfgras im Wind geächzt. Sie klang wie ein einsames Echo in einem ausgeräumten Zimmer. Sie war wie das Klappern von Knochen in einer leeren Suppenschüssel. Sie klang wie der traurigste Ton einer Geige und das Winseln, das vor dem Schluchzen kommt.
»Sprecht nur mit Lord Mortimer«, sagte Dr. Baker und wedelte mit der Hand in Richtung Bett.
Matthew hatte noch keinen Blick aufs Bett geworfen. Er zögerte es absichtlich hinaus. Er war sich bewusst gewesen, dass unter den Laken und der roten Decke etwas lag, aber sein Verstand hatte seinen Augen noch nicht erlaubt, sich darauf zu richten.
Aber jetzt drehte er den Kopf ein paar Zentimeter nach links und sein Blick fiel auf den reichen Mann.
Konnte Haut flüssig werden, wenn sie sich noch an den Knochen festhielt? Konnte sie gerinnen und glitzern und wie eine überreife Birne kurz vor dem Verfaulen mit dunklen Flecken überzogen sein? Es sah tatsächlich so aus. Und dann waren da noch die Pflaster, die wohl offene Wunden bedeckten, und dann die offenen Wunden, die so groß waren, dass weder Pflaster noch Verband sie bedecken konnten. Und es schien, als gäbe es davon unzählbar viele.
Lord Mortimer hatte seit seinem letzten Jagdausflug mit Sicherheit abgenommen, denn seine stöckchendünnen Arme konnten niemals eine Muskete oder auch nur eine Handvoll Musketenkugeln halten, und solch skeletöse Beine konnten selbst einen so gebrechlichen Körper nicht tragen. Spinnenhafte Hände waren auf der knochigen Brust gefaltet und über der Brust ragten der von Adern überzogene Hals und das bartstoppelige, kadaverartige Gesicht empor. Die Nase schien bereits nach innen einzufallen. Die Lippen waren weiß mit irgendeiner Salbe beschmiert, die die Schmerzen der roten wunden Stellen in den Mundwinkeln lindern sollte. Unter den spärlichen weißen Haaren und der schweißbesetzten Stirn starrten zwei Augen voller Angst und Hoffnung zu Matthew hoch. Das linke Auge war dunkelbraun, das rechte unter einem hellen, austernfarbenen Schleier blind.
Der Geruch nach Krankheit, den Matthew bei Betreten des Schlafzimmers sofort gerochen hatte, war hier am Bett so durchdringlich, als würde ihm jemand einen Teller mit verfaultem, madendurchzogenem Rindfleisch unter die Nase halten. Matthew zweifelte an seinem Mut, als er die Ruine von Lord Mortimers Gesicht musterte. Er konnte nicht anders als sich fragen, ob sein Leben eines Tages auch so enden würde. Möge Gott ihn davor bewahren, dass er auch nur einen Augenblick als feuchtes, sich auflösendes Fleisch im faulig grünen Dunst von Krankheit und Pisse und Exkrementen durchleben musste.
»Helft mir, Mr. Corbett«, wisperte der reiche Mann. »Ich weiß, Ihr könnt es.«
Matthew brauchte einen Moment, um seine Sprache wiederzufinden. »Ich werde mein Bestes tun, Sir.« Aber bei was?, fragte er sich. Der kaltherzigen Ausbeutung eines solchen armen Kerls?
»Euer Bestes.« Bakers Stimme klang verzerrt. »Oberley«, wandte er sich an den Diener. »Ich muss gegen diese … diese Lächerlichkeit protestieren. Eine Reise nach New York, um diesen Jungen herzuholen? Schaut ihn Euch an! Grün wie Gras hinter den Ohren!«
»Zachary!« Selbst so kurz vor seinem Ende konnte Lord Mortimer noch eine Art von Donner heraufbeschwören. »Ich vertraue darauf … dass Oberley meiner Bitte gefolgt ist. Den … besten Mann geholt hat. Ich kenne …« Er musste innehalten, um Atem zu schöpfen. Wenn man sein Keuchen denn so nennen konnte. »Ich kenne Eure Einwände. Sie sind zur Kenntnis genommen worden.«
»Das ist doch lächerlich. Jemanden zu bezahlen, damit …«
»Die Einwände sind zur Kenntnis genommen«, sagte Lord Mortimer. Und diese Stimme kam dem Donner ferner Kanonenschüsse nahe. Sie veranlasste den Arzt, seine schwarz glänzenden Schuhspitzen zu betrachten und dann seine manikürten Fingernägel zu inspizieren.
»Mr. Corbett«, sagte der sterbende Mann. »Ihr müsst nur … hier bei mir sein. Um mir zu helfen … mir mehr Zeit zu verschaffen. Für mich mit dem Tod reden … wenn er vor der Tür steht.«
»Ach herrje«, sagte der Arzt, aber leise hinter seiner Hand.
»Sie wird kommen.« Das Gesicht nickte. »Ja. Ich glaube, sie wird heute Abend kommen. Ich glaube … sie wird kommen.«
»Bei diesem Wetter, Sir?« Oberley beugte sich vor, um die Bettdecke zurechtzuzupfen. »Es ist sehr übel draußen. Ich weiß nicht, ob Miss Christina …«
»Sie wird kommen«, sagte Lord Mortimer, was die Diskussion beendete. Trotz seiner schweren Krankheit hatte der Mann in seinem Haus noch das Sagen.
»Jawohl, Sir.« Oberley ging seiner Arbeit mit geübter Hand nach. Sein Gesicht war ernst und traurig; als treuer Hund kannte er seinen Platz. Er zog sich auf eine respektvolle Distanz zurück, einsatzbereit, falls er gebraucht wurde.
Eine der Spinnenhände bewegte sich. Langsam, wie in großer Qual. Zitternd hob sie sich und winkte den besten Mann zu sich heran.
»Dr. Baker glaubt es nicht«, sagte der sterbende Mann zu Matthew Corbett. »Er … weiß nicht … was ich weiß.« Das eine Auge blinzelte. Es lag noch ein roter Funke Feuer darin. »Hört Ihr mir zu?«
»Ja, Sir«, kam die feste Antwort.
»Der Tod wird herkommen. In menschlicher Gestalt. Wie er auch … zu meinem Vater gekommen ist. Und auch … zu meinem Großvater. Ja. Da bin ich mir sicher.«
Matthew sagte nichts, denn es gab keinen Grund zu einem Kommentar. Er hatte die offene Arzttasche auf dem Nachttisch betrachtet und all die glänzenden Instrumente und Arzneifläschchen und Kräuterpäckchen und Salben und geheimnisvollen Tiegel. Doch keine menschliche Hand oder Arznei, selbst keine aus London, konnte das bevorstehende Ereignis aufhalten. Und so, wie Lord Mortimers Lungen kämpften, schien es äußerst bald einzutreten.
»Hört jetzt«, sagte die Stimme vom Bett, als könnte der Mann die Menschen noch immer so gut lesen wie zu der Zeit, als er wie ein Gott durch die arbeitenden Massen stolziert war. »Hört mir zu«, beharrte er. »Der Tod kam als Mann zu meinem Vater. Mein Vater … hat dasselbe … mit seinem Vater erlebt. Meinem Poppa«, hauchte der leise Atem. »Immer … immer … so beschäftigt.«
»Brodd, Ihr solltet Euch ausruhen«, sagte Arzt.
»Ausruhen? Für was?«, fuhr Lord