MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken. Robert Mccammon
…«, er machte eine Pause, um den Gedanken zu formulieren, »… andere dazu zu benutzen, sich immer ganz nach sich selbst zu richten«, sagte Oberley schließlich.
Matthew ließ sowohl das Thema als auch Jesper Oberley in Ruhe. Die Kutsche schaukelte über einen steinigen Weg. Gefrierender Regen peitschte gegen die mit schwarzen Vorhängen zugehängten Fensteröffnungen. Matthew spürte das Bedrückende des Sturms und des Winters; eine tückische Kombination. Irgendwann rutschten die Kutschenräder zwei beängstigende Sekunden lang nach links weg, bevor die Pferde sie weiterzogen. Matthew wurde sich bewusst, wie er seine Knie so hart umklammerte, dass er zehn blaue Flecke bekommen würde. Es war schwer, sich an einem Abend zu entspannen, an dem der Tod sein Unwesen trieb. Aber es gab ein Licht am Ende dieses Tunnels: Eine Weile würde er es genießen können, New York und der Gegenwart von zwei Schatten in seinem Leben entronnen zu sein, dem teuflisch gutaussehenden Dr. Jason Mallory und seiner schönen Gattin Rebecca. Die beiden schienen ihm in letzter Zeit ständig an den Fersen zu kleben. Wohin Matthew auch ging – in Sally Almonds Schänke, in die Trinity Church, ins Trot Then Gallop, oder auch nur von seinem ehemaligen Kühlhaus zur Arbeit – tauchten diese beiden auf und beobachteten ihn mit ihren dunklen Augen. Matthew wusste, dass Mrs. Mallory wollte, er möge zu ihnen zum Essen kommen, was mit einem gewissen Professor für Verbrechen zu tun hatte … aber was wollten sie wirklich von ihm?
Er hatte keinerlei Zweifel daran, dass es sich mit der Zeit zeigen würde.
Matthew schob den einen schwarzen Vorhang beiseite und wurde dafür mit einer Ladung Schneeregen im Gesicht belohnt. Als er sich die Augen abgewischt hatte, sah er, dass sie immer noch auf einem zerfurchten, schlecht zu befahrenden Waldweg unterwegs waren. Die Anstrengungen der Pferde, in einer Nacht wie dieser die Kutsche zu ziehen, waren heldenhaft. Plötzlich tauchte eine überdachte Brücke über einem geschwollenen Bach auf – die Eichenbrücke, nach der das Dorf Oak Bridge benannt war, nahm Matthew an –, und die Hufschläge hallten zwischen dem Dach und den Planken wider. Abgesehen von einem Brettergeländer waren beide Seiten der Brücke offen und Eis bildete sich sogar auf den rauen Bodenplanken. Es war ein Abend, an dem man weder Mensch noch Tier vor die Tür jagte, dachte Matthew. Sicherlich würde selbst der Tod in einer solchen Nacht nicht unterwegs sein wollen.
Gleich hinter der Brücke lag der kleine Ort, den sie schnell hinter sich ließen. Er schien Matthew nur aus einigen Geschäften, ein paar weiß verputzten Wohnhäusern, einer Kirche, einem Friedhof und einem Stall zu bestehen, sowie einer Schänke, aus deren Fenstern sich Lampenlicht ergoss. Sie kamen noch an einem langen Gebäude mit mehreren Schornsteinen vorbei, bei dem es sich um irgendeine Werkstatt handeln mochte, und dann waren sie bereits wieder aus dem Dorf hinaus.
Die Kutsche fuhr weiter. Jesper Oberley war jetzt wach und spähte ebenfalls aus dem Fenster. »Nun ist es nicht mehr weit«, beantwortete er Matthews gedachte Frage, die er gerade hatte stellen wollen, denn selbst die gut gepolsterten Ledersitze konnten einen Arsch auf einer steinigen Straße nicht schonen. Und Matthew kam sich in seiner Situation definitiv wie ein Arsch vor; wie jemand, der einen Sterbenden ausraubt, auch wenn Lord Mortimer nach Oberleys Meinung selbst ein Räuber war.
Bald darauf durchfuhr die Kutsche eine Kurve und begann sich einen steilen Hügel hochzuarbeiten. Doch das gelang nicht, denn Matthew hörte und spürte, wie die Räder auf vereistem Kies wegrutschten und die Pferde der Peitsche zu gehorchen versuchten, obwohl ihre Hufe ausglitten.
»Na los! Los, zieht!«, brüllte der Kutscher durch seine Vermummung. Die Peitsche knallte und die Kutsche bebte, aber voran kamen sie nicht. Dann gab der Kutscher anscheinend auf und ließ die Pferde vorsichtig rückwärtsgehen, denn der Wagen rutschte den Hang hinunter, und als er hielt, ertönte das Klunk der Bremsenspitze, die, so tief es möglich war, in der gefrorenen Erde versenkt wurde.
»Tja«, sagte Oberley bedrückt. »Anscheinend sind wir …«
»Kommen die Steigung nicht hoch in diesem Mist!« Der eingehüllte Kopf des Kutschers war beunruhigend plötzlich im Fenster aufgetaucht. »Die Pferde können’s nicht ziehen!«
»… angekommen«, beendete Matthew Oberleys Satz, nachdem der Kutscher verschwunden war, um sich, so gut es ging, um sein Gespann zu kümmern.
Gegen die beißende Kälte vermummt und mit seinen in einer Ledertasche verpackten Sachen für zwei Nächte in der Hand folgte Matthew Oberley den Hügel hoch. Unter ihren Stiefeln knirschte das Eis. Der bittere Regen fiel noch, klopfte auf die Krempe von Matthews Dreispitz. Seine Stiefel rutschten aus und drohten mehr als einmal, ihn zu Boden zu befördern. Als sie die Hügelkuppe erreichten, konnte Matthew durch die Bäume die Umrisse einer riesigen – man könnte auch sagen monströsen – Villa sehen. Aus einigen Fenstern strahlte Kerzenschein, aber viele andere – die meisten – waren tintenschwarz. Ein Dutzend gemauerte Schornsteine stach aus den spitzen Dächern, aber nur aus zweien strömte Rauch. Wenn dieses Herrenhaus ein Monster war, dann lag das Biest tatsächlich im Sterben.
Als Matthew und Oberley sich dem Haus näherten, sah der Problemlöser, dass es von toten Bäumen umgeben war. Die nassen dunklen Steinmauern waren von verfilzten abgestorbenen Rankpflanzen bedeckt, die wie das braune Netz einer ebenso monströsen Spinne wirkten. Matthew entschied, dass er in einem solchen Haus vielleicht eine Nacht verbringen konnte – aber zwei? Nein.
Sie erreichten die Haustür. Oberley pochte zweimal mit dem Türklopfer, der wie ein Stück Kohle geformt war. Immer noch fiel der Eisregen und bildete eine Kruste auf Matthew Umhang. Schließlich wurde ein Riegel zurückgeschoben, die Tür geöffnet und eine schlanke Frau mit einem straffen grauen Dutt und traurigen, aber wachsamen Augen spähte hinaus. Sie trug ein schwarzes Kleid, das mit grauer Spitze verziert war, und hielt einen dreiarmigen Kerzenleuchter in der Hand.
»Ich habe jemanden mitgebracht«, sagte Oberley. Diese einfache Erklärung schien Bände zu sprechen, denn die Dienstmagd mit dem Gesicht, das einer zerknitterten Tasche glich, nickte und trat zurück, um ihnen Eintritt zu gewähren.
»Sir? Ich werde das tragen«, sagte ein anderer Diener, der mit einer brennenden Kerze aus der Halbfinsternis kam, und nahm Matthews Tasche. Er half Matthew aus seinem Umhang heraus und nahm auch den Dreispitz entgegen, bevor er wieder ging.
»Wie steht’s um ihn, Bess?« Oberley sprach mit der Frau, die die Tür zugemacht und den Riegel wieder vorgeschoben hatte.
»Schlechter«, antwortete die Frau, deren schmallippiger Mund sich gerade so viel bewegte, dass sie dieses eine Wort hinauspressen konnte.
»Dann gehen wir jetzt zu ihm. Wollen wir, Mr. Corbett?«
»Ja.« Hatte er denn eine Wahl?
»Bess, macht Mr. Corbett einen Tee. Und bringt ihm einen Teller Maisbrot und Schinken. Ich bin mir sicher, dass unser Gast Hunger hat.« Als die Frau durch die Eingangshalle verschwand, nahm Oberley einen Kerzenhalter mit einem brennenden Talglicht von einem Tisch. »Folgt mir bitte«, sagte er. Es klang weniger wie eine Einladung als wie eine ernste und gefürchtete Pflicht.
Matthew lief Oberley durch einen von Ritterrüstungen flankierten Korridor hinterher. Die Helme und Brustplatten reflektierten die einsame Kerzenflamme. Matthew fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass solche Rüstungen gemacht waren, um den darin befindlichen Körper vor gefährlichen Schlägen und Stößen zu schützen. Lord Brodd Mortimers Körper konnte ein solcher Schutz jetzt nicht mehr gewährt werden. Matthew konnte die gefürchtete Krankheit in diesem Haus bedrückend deutlich spüren. Die an den Wänden angebrachten Hirsch- und Wildschweinköpfe und gekreuzten Degen, und auch die Kollektion von Musketen in einem Glaskabinett entgingen ihm nicht. Lord Mortimer war ein Jäger gewesen, ein lebhafter Mann der Tat. Aber jetzt tickte eine vergoldete Standuhr in der Ecke und jede verstreichende Sekunde klang so laut wie ein Schuss.
Am Ende des Korridors befand sich eine Treppe. Matthew folgte Oberley nach oben und erreichte schon bald eine Tür. Der Knauf wurde gedreht und die beiden Männer betraten einen Raum, in dem selbst das mildeste Kerzenlicht harte Grausamkeit war.
In dem Schlafzimmer brannten ein paar Talglichter. Es war ein großer Raum, dessen Fußboden von einem roten Teppich mit goldenen Verzierungen bedeckt war. Die Möbel waren dunkel und wuchtig. Die Zimmerdecke