MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken. Robert Mccammon
sehen … in dem mein Vater im Sterben lag. Als ich zehn Jahre alt war. Einen jungen Mann … gut gekleidet. Er ging in das Zimmer … und als er herauskam, war mein Vater tot. Kannte irgendwer diesen Mann? Oder … von wo er kam? Nein. Ich stand draußen … im Regen … als er an mir vorbeiging. Und er sah mich an und lächelte … und ich wusste … ich wusste … dass gerade der Tod an mir vorbeigegangen war. Mein Vater hatte immer gewusst, dass dieser Mann kommen würde. Oh ja … ich habe ihn … oft von dem Mann erzählen hören … den er ins Schlafzimmer seines eigenen Vaters … hatte gehen sehen. Einen jungen Mann … gut gekleidet. Selbstbewusst, sagte er. Ging zu Fuß weg … kein Wagen, keine Kutsche, kein Pferd. Der, den ich auch gesehen habe. Der bald hier sein wird … sehr bald schon.« Die Hand griff nach Matthews Ärmel. »Ihr müsst mit ihm sprechen. Dass er mir Zeit lässt … mich mit Christina zu versöhnen.« Ein Schluchzen stieg in ihm auf und überwältigte seine Stimme beinahe, aber Lord Mortimer schluckte es hinunter. »Meine Tochter«, sagte er schwach, fast am Ende. »Ich muss meine Tochter sehen.«
Oberley trat ans Bett. »Das Wetter, Sir. Es ist so furchtbar.«
»Sie wird kommen«, sagte Lord Mortimer schläfrig. Seine Kraft verebbte immer mehr. »Ich weiß, sie wird kommen … mit welchen Mitteln sie auch kann.«
Matthew sah Oberley an, der traurig den Kopf schüttelte. Ein Blick auf Dr. Baker wurde mit Schulterzucken quittiert.
Auf der anderen Seite des Schlafzimmers waren hohe Fenster, die mit schweren roten Vorhängen verhängt waren. Matthew ging an eines davon, zog den Vorhang zur Seite und spähte hinaus. Das Fenster war von einer Eisschicht überzogen. Außer Dunkelheit war nichts zu sehen. Er spürte, dass jemand hinter ihn trat, und wusste, wer es sein musste. »Kann sie heute Abend noch eintreffen?«, fragte Matthew leise. »Sie lebt sechs Meilen weit entfernt von hier, nicht wahr?« In einer Nacht wie dieser war das eine große Entfernung. Er nahm an, dass er seine eigene Frage beantwortet hatte. »Vielleicht kommt sie morgen.«
»Vielleicht«, sagte Oberley. »Aber morgen ist es zu spät.«
Matthew nickte. Brodd Mortimer war sicherlich ein sehr starker und zielstrebiger Mann, aber sein Leben ging dem Ende zu. Matthew durchquerte das Zimmer, um wieder in die Nähe des Himmelbettes zu gelangen – und dann hörte er das leise, hohle Klock … Klock … Klock.
Es war das Kohlestück, erkannte er; der Türklopfer. Jemand war gekommen.
Lord Mortimer stemmte sich plötzlich auf seine Ellbogen. Sein feuchtes Gesicht mit den grässlichen offenen Wunden verzerrte sich. Das eine Auge fand Matthew.
»Ich bitte Euch!« Seine Stimme klang trotz seines Flehens harsch. »Helft mir! Wenn sie es ist, dann bringt sie hoch! Wenn er es ist … oh, mein lieber Gott … dann überredet ihn, mir noch ein paar Stunden zu schenken!«
»Sir, ich …«
»Bitte! Jetzt ist es soweit! Bitte!«
»Also gut«, sagte Matthew. »Ich gehe runter.« Er wandte sich vom Bett und dem ab, was von einem reichen Mann übriggeblieben war, und plötzlich war Dr. Baker an seiner Seite. Der Arzt flüsterte Matthew ins Ohr. »Die Schwindsucht hat ihm den Verstand geraubt. Das wisst Ihr, nicht wahr?«
»Ich weiß, dass ich bezahlt worden bin, eine Arbeit zu verrichten. Die ich ausführen werde, so gut ich kann.« Matthew war an der Schlafzimmertür angelangt. Mit der Kerze in der Hand kam Oberley und öffnete sie. Zusammen verließen sie das Zimmer und gingen nach unten, um den abendlichen Besucher zu begrüßen.
Sünden und Gräuel
Während sie die Treppe hinuntergingen, begann die Standuhr zu schlagen. Sie verstummte beim neunten Schlag, als Oberley Bess anwies, nicht zur Tür zu gehen. Matthew zog den Riegel zurück, öffnete und wurde von eisigem Regen und eiskaltem Wind bombardiert.
»Ich bin gekommen, um ihn zu sehen«, sagte die in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt.
»Oh … bitte.« In seinem Eifer stieß Oberley Matthew beiseite. »Bitte tretet ein, Miss Christina.«
Sie überquerte die Türschwelle und erschauderte. Oberley machte hinter ihr wieder zu.
»Euer Umhang. Darf ich?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Mir ist sehr kalt. Noch nicht.«
»Tee und Maisbrot sind fertig«, bot Bess ihr an.
»Ich habe keinen Durst und keinen Hunger«, antwortete Christina Mortimer kurz angebunden. »Ich will das nur hinter mich bringen … und dann gehe ich nach Hause.«
»Ich trinke gern einen Tee, danke«, sagte Matthew zu Bess. »Mit ein wenig Zucker, wenn möglich.« Dann konzentrierte er seine Aufmerksamkeit ganz auf die Tochter des reichen Mannes, die der Verzweiflung nahe versuchte, wieder Wärme in ihre Arme zu reiben.
»Mir ist noch nie in meinem Leben so kalt gewesen«, sagte sie. Ihre Augen, genauso braun wie die ihres Vaters, betrachteten die Eingangshalle. »Herr im Himmel, was mache ich in diesem Haus?«
»Das Richtige und Anständige, glaube ich«, sagte Matthew, woraufhin Christina ihn ansah, als wäre er zuvor nur ein kaum vom Kerzenschein beleuchteter Schatten gewesen, den sie erst jetzt bemerkte. Ihre braunen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wer seid Ihr?«
»Mein Name ist Matthew Corbett. Ich bin aus New York angereist.«
»Das sagt mir nichts. Woher kennt Ihr meinen Vater?«
»Er hat mich engagiert.«
»Für was, Sir?«
Es nützte nichts, es zu verschweigen. »Um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Oder vielmehr … um den Tod zu bitten, Eurem Vater noch so viel Zeit zu schenken, dass er mit Euch reden kann.«
»Ach … die alte Geschichte.« Christina bedachte ihn mit der leichten, äußerst verächtlichen Andeutung eines Lächelns. »Dann seid Ihr also hier, den Auftrag eines Verrückten zu erfüllen.«
»So oder so ist es ein Auftrag.«
»Hm«, machte sie, dann schienen sie sich gegenseitig zu mustern.
Christina Mortimer nahm die Haube ihres Umhangs ab, vielleicht, damit Matthew besser sehen konnte, mit wem er es zu tun hatte. Ihre dichten rotbraunen Haare fielen über ihre Schultern. Ihr Gesicht war blass, ihr Kinn fest, ihre Augen durchbohrend. Sie war durchschnittlich groß und kräftig gebaut, eine undurchdringliche Mauer aus Stolz. Irgendetwas an ihr machte Matthew nervös. Ihr auf seine Augen gerichteter Blick flackerte nicht. »Ihr haltet das nicht für Unsinn, Sir?«
Bess kam mit einer Tasse braunen Tee, von dem Matthew trank, bevor er antwortete. »Hier geht es nicht um meine Meinung, sondern um das, was Euer Vater denkt.«
»Ich verstehe.« Sie begann ihre schwarzen Handschuhe auszuziehen und besann sich dann blinzelnd eines Besseren. »Kalt«, murmelte sie. »Ich hätte heute Abend nicht kommen sollen.«
»Gott sei Dank, dass Ihr gekommen seid«, sagte Oberley. »Möchtet Ihr wirklich keinen Tee, um Euch aufzuwärmen?«
»In diesem Haus gibt es keine Wärme«, antwortete sie. »Selbst wenn mir der Bauch brennen würde, wäre mir kalt.«
»Und doch seid Ihr hier«, sagte Matthew. Sie bedachte ihn wieder mit ihrem durchbohrenden, beunruhigenden Blick. »Ihr habt Euch durch Wind und Wetter geschlagen, um herzukommen. Das bedeutet, dass Euch zumindest interessiert, was Euer Vater zu sagen hat.«
Sie schwieg. Ihr Mund öffnete sich und schloss sich dann wieder. Sie neigte den Kopf zur Seite. »Wind und Wetter«, sagte sie und wirkte ein paar Sekunden lang gedankenverloren. Dann: »Ja. Verzeiht … meine Gedanken sind …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich mag das Haus nicht. Ich bin schon bei Tageslicht daran vorbeigefahren, da hat es mir bereits Unwohlsein bereitet. Abends, da …« Ihre behandschuhten Finger strichen über ihren Nacken. »… tut es mir weh«, sagte sie.
»Wollen