JURASSIC DEAD. David Sakmyster
seiner Taschenlampe zukniff. Damit leuchtete er auf die Sprengstoffladung, für die er mit einem kleinen Pickel in seiner linken Hand einen Riss in das Eis geschlagen hatte. »Es scheint so, als hätten sie alle eine Pause gemacht, um sich Wodka hinter die Binde zu kippen. Hoffentlich stellt uns die amerikanische Seite vor eine größere Herausforderung.« Alex zuckte mit den Achseln. »Warum sind wir nicht einfach dankbar dafür?« Die Leichtigkeit, mit der sie so weit gekommen waren, brachte ihn allerdings ins Grübeln. Das hätte er nie erwartet; eigentlich hatte er fest damit gerechnet, zu diesem Zeitpunkt mit Tony bereits in russischer Haft zu sitzen, und wäre ihm ein Anruf gestattet worden, hätte er sich aus dem Eis bei seinem Vater gemeldet, um ihm die frohe Kunde zu übermitteln, das sein nichtsnutziger Spross es geschafft hatte, jemandem so richtig dumm zu kommen. Dann hätte ihm sein werter alter Herr wenigstens mal ein bisschen Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen. Sein Vater hatte die ganze Welt bereist, wobei er während Alex’ Kindheit stets fort gewesen war, um Fossilien und Zähne aus grauer Vorzeit zu suchen, und sich mehr um Tote als um noch Lebende geschert. Zu Letzteren hatte auch seine kranke Frau gezählt, die Mutter des Jungen. Mittlerweile wünschte sich Alex nichts lieber, als dass der alte Mann Leid erfuhr, egal in welcher Form – auch die Schmach eines irren, freisinnigen Sohnes, der aberwitzig gefährliche Wagnisse einging, um die Umwelt zu schützen und die kleinsten und schutzlosesten Geschöpfe auf der Erde zu retten. »Bring die Zünder an«, trug ihm Alex im ernsten Tonfall auf, »dann statten wir dem anderen Team einen Besuch ab und hinterlegen ein ähnlich großzügiges Geschenk für sie.« »Ein Doppelknall«, entgegnete Tony heiter, und Alex konnte sich ungefähr vorstellen, wie sich unter dem Visier seines Gefährten ein Grinsen ausbreitete. »Hier ist alles fertig. Lass uns runtergehen, das Tauchboot stehlen – das hoffentlich noch dort liegt – und dann rüber zu unseren Landsleuten fahren, um deren Feuerwerk vorzubereiten. Danach lehnen wir uns zurück und genießen die … warte, was ist das?« Alex’ Blick folgte dem Strahl der Taschenlampe nach unten. Die Helligkeit störte die Bildqualität in seinem Visier, weil sie Eis und Nebel verstärkte. Er fuhr mit einer Hand darüber und schloss die Augen fast komplett. »Oh scheiße, die Russen.« Sie kamen aus dem Schatten der Tiefe, mindestens ein Dutzend Männer. »Wo sind ihre Leinen?«, fragte Tony fassungslos. Alex strengte die Augen an, um mehr erkennen zu können. Die Lufttemperatur fiel, während sich jene dunklen Gestalten – sie sprangen, hüpften und stiegen schneller herauf, als es Mensch und Tier hätten tun können – wie in stiller Übereinkunft bewegten, als verfolgten sie ein gemeinsames Ziel. »Ich sehe keine, sie … klettern einfach so.« Und zwar unglaublich schnell. Eine Woge umfassender, animalischer Furcht vor den nahenden Gestalten packte Alex, der sich mit einem Mal sicher war, dass es sich bei ihnen – egal was sie waren, da sie unmenschlich schnell mit schwindelerregenden und ruckartigen Bewegungen herankamen – nicht um die Russen handeln konnte. Jetzt nicht mehr. »Wir müssen ganz schnell von hier verschwinden!« Sie drehten sich um und traten den Rückweg an, obwohl sie wussten, es würde zwecklos sein, und dann stellten fest, dass die Flucht auch in diese Richtung unmöglich war. Denn eine zweite Gruppe von Umrissen kauerte über ihnen und wartete geduldig, still und … hungrig auf sie.
2
»Letzte Chance«, schrie Tony. »Mir nach!«
Als ausgewiesener Draufgänger wusste Alex, dass dies nichts Gutes verhieß, doch sie hatten keine andere Wahl. Sein Nachtsichtgerät zeigte ihm die Russen als grün-schwarze Kleckse an, und ihnen voraus ging ein eisiger Hauch des Schreckens, der ihn auf der Stelle erstarren ließ. Er spürte die Wirkung der Schwerkraft – den Zug der Schwärze dort unten – und glaubte plötzlich, Flüsterstimmen in seinem Kopf zu hören, die ihn lockten, in die Tiefe vorzustoßen und sie zu erkunden …
Vielleicht hörte Tony sie auch, denn einen Moment später, gerade als sich das Getrappel und Scharren der vielen Stiefel mit einer Art unmenschlichem, fast reptilienhaften Zischen vereinte und von den glatten Eiswänden in der Grube widerhallte, nabelte er sich buchstäblich ab.
»Warte …«, rief Alex, als er erst die Schwingung an seinem Gurtzeug und schließlich einen Ruck spürte, doch dann … war Tony fort. Ein Knall wie ein Peitschenhieb ertönte, dann sauste er hinunter, mit eingezogenem Kopf wie ein Zirkusartist, der aus einer Kanone geschossen wird. Er verwandelte sich in einen kullernden Fleck und raste zwischen den heraufkommenden Soldaten hindurch, die sich umdrehten und ihn festhalten wollen, aber nur ins Leere griffen.
»Tony!« Alex kämpfte mit seinem Gleichgewicht, als er in der Luft hing und mit dem Armen ruderte, um sich anzupassen, nun da er plötzlich leichter war, nachdem sich sein Partner ausgeklinkt hatte. Er fasste sich an den Gürtel und nestelte daran herum …
Wo ist …
Da! Das Messer! Der Verschluss war jedoch zugefroren. Er zog und ruckelte daran. Oh Gott, ich habe keine Zeit mehr …
Sie hatten ihn schon fast erreicht, und mit einem kurzen Blick, den er sofort bereute, schaute er in ihre Augen: glühend und fremdartig, aggressiv und mehr als nur hungrig – richtiggehend ausgehungert. So sahen Raubtiere aus, die wochenlang in Käfigen eingesperrt worden waren und dann ein blutiges Stück Fleisch zugeworfen bekamen. Es bedurfte also keiner weiteren Anreize, um Alex’ Muskeln wieder zu lockern, abgesehen von Tonys Stöhnen und Schreien, als würde er beim Rollen gegen etwas stoßen. Alex konnte sich nicht vorstellen, was gerade mit seinem Freund passierte. Ihm blieb nichts weiter übrig, als den gleichen Weg zu nehmen, denn gleich würden sie sich auf ihn stürzen. Er schaffte es, die Klinge springenzulassen, drehte sich dann um und wetzte damit hektisch über die Leine – doch sie ging nicht entzwei, sondern riss nur halb. »Shit!« Er schrie auf, ging in die Knie und schlug erneut auf das Seil ein, während er in die Höhe schnellte. Gerade noch rechtzeitig schoss er nach hinten und schnellte durch eine Menge von Leibern. Arme wurden ausgestreckt und Hände griffen nach ihm, fanden an seiner Gore-Tex-Jacke aber keinen Halt. Er befand sich im freien Fall, wobei er zur Seite gerissen wurde, und er wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis er wieder auf den Hang traf, dann aber schlug er erschütternd heftig gegen die Eisfläche und prellte seine Schulter. Sofort rollte er sich wieder ab und stieg abermals in die Luft auf. Die Kamera ging zu Bruch, fiel aber nicht ab und verdrehte sich an seinem Hals. Das Visier des Sichtgerätes bekam Risse, sodass er nur noch wirre rotierende Dunkelheit mit grünen Flecken sah, in der vereinzelt heller Wände aufblitzten, und von dort, wo er glaubte, hergekommen zu sein, flatterte nun eine Vielzahl von Umrissen wie kleine Fledermäuse hinter ihm her. Verdammt, dachte er. Sie hatten die Verfolgung aufgenommen. Was zur Hölle sind sie? Er bekam nicht viel Zeit, um weiter darüber nachzudenken, denn eine Sekunde später schlug er auf den Rücken auf und rutschte anschließend wie ein olympischer Bobfahrer mit den Füßen voran. Als er an seinen Stiefeln vorbeischaute, erkannte er zunächst gar nichts, aber dann erschienen winzige, flackernde Lichtpunkte, die nur kleine Leuchtfackeln sein konnten. Während er sich dem Ufer des Sees immer mehr näherte, spürte er, dass das Gefälle leicht abflachte, da sein Körper mit den Unebenheiten auf- und niederging. Er drückte seine Hacken in den Boden, soweit er meinte, es tun zu können, ohne sich zu überschlagen, und streckte dann seinen rechten Arm aus, in dessen Hand er immer noch das Messer hielt; wundersamerweise hatte er sich bis jetzt nicht selbst damit gestochen. Nun rammte er die Klinge fest ins Eis, woraufhin er sich umdrehte und das Heft festhielt. Der Griff entglitt ihm beinahe, doch er hielt sich fest und zog so eine lange Furche durch den komprimierten Schnee und das Eis, während seine Rutschpartie immer langsamer wurde. Als er zurückschaute, sah er die Fackeln schwelen und die Umgebung in schwaches, aber dennoch schmerzhaftes Licht getaucht. Ihm fielen neben gestapelten Lattenkisten auch Maschinen auf, kleinere Kräne sowie ein Generator, und nicht weit vom Ufer entfernt schwamm etwas, das wie ein Zweipersonentauchboot aussah. Zuletzt wagte er einen Blick zurück nach oben, und zwischen den Eisscherben, die seinen Absturz nachzeichneten, sah er seine schlimmste Befürchtung bewahrheitet: Seine Verfolger hatten nicht von ihm abgelassen. Sie schlossen auf, und zwar schnell. Sobald er konnte, ließ Alex das Messer los und stieß sich mit seinen nunmehr zerrissenen Handschuhen ab. Als er in die Höhe schoss, ruderte er zurück, um zum Stehen zu kommen. Kurz hatte er Angst, er könne stolpern und rückwärts in den See stürzen, doch kurz bevor er ins Taumeln geriet, packte eine nasse Hand seine Schulter. »Lauf«, rief Tony und klang dabei, als seien seine Lungenflügel mit Eiswasser gefüllt. Er schob Alex überraschend kraftvoll und grob nach links, wo das Boot lag und eine der Fackeln brannte.