Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht. Marie Brennan

Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht - Marie  Brennan


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Lotte, wie es ist, wenn jemand deine Arbeit erkennt. Und auch noch in einer solch obskuren kleinen Zeitschrift! Es wäre eine Sache, wenn ich etwas Bemerkenswertes im Drakoneischen Philologischen Überblick oder einer derart prestigeträchtigen Reihe veröffentlicht hätte – aber er hat gelesen, was ich geschrieben habe! Und er sagte, es war aufschlussreich!

      Ich werde nicht versuchen, den Rest des Gesprächs niederzuschreiben. In Wahrheit erinnere ich mich kaum daran. Wir standen auf dem Gang und redeten, bis irgendein verhärmter alter Kerl kam und uns böse anstarrte, weil wir laut waren. Dann gingen wir hinaus ins Foyer, wo ein paar Sofas stehen, und setzten uns und redeten noch mehr. Ich bin nie so schnell so herrlich mit jemandem ausgekommen. Ich glaube, es ist das Vergnügen daran, jemanden kennenzulernen, der nicht nur dieselben Dinge mag wie ich, sondern gleichzeitig noch meine Gesellschaft zu genießen scheint. Wir saßen auf demselben Sofa, so gedreht, dass wir einander ansahen, und nach einer Weile legte ich meinen Arm auf die Rückenlehne. Irgendwann kam seine Hand auf meinem Handrücken zum Liegen – nur eine leichte Berührung, dann nahm er sie weg. Lotte, ich glaube, ich habe jetzt diesen Akt, der als »Flirt« bekannt ist, in freier Wildbahn beobachtet, und er hat mir wesentlich mehr Spaß gemacht, als ich erwartet hatte.

      Aaron Mr. Mornett musste gehen, bevor Großmama fertig war, weil sie einen guten alten Streit mit Lord Wishert hatte. Ich ging nicht zurück in die Bibliothek, sondern blieb im Foyer sitzen und ging die ganze Sache mehrfach im Kopf durch, während ich mich in einem warmen kleinen Leuchten sonnte, bis sie wieder nach unten kam.

      Und genau dann ging alles schief.

      Großmama entschuldigte sich, dass sie mich hatte warten lassen, und ich erzählte ihr, dass es mich nicht störte, weil ich einen sehr netten jungen Mann kennengelernt hätte. Aber ihr geistesabwesendes, zustimmendes Gemurmel endete in einem schockierten Ausruf, als ich ihr seinen Namen verriet.

       »Aaron Mornett?«, fragte sie und plusterte sich auf wie ein Drache. »Ach, Audrey. Es tut mir so leid, dass ich dich mit ihm zurückgelassen habe.«

       »Es tut dir leid?«, wiederholte ich erschrocken. »Aber er war liebenswürdig.«

      »Er mag wohl liebenswürdig scheinen«, sagte sie düster, »aber er ist keine Gesellschaft, die ich dir empfehlen kann.«

       Ich habe sie nie so sehr wie eine … ja, wie eine missbilligende alte Großmutter klingen hören. Ich fragte: »Warum? Ist er ein Spieler oder ein Säufer oder ein Wüstling?«

       Großmama blieb mitten auf der Vortreppe stehen und verkündete das verächtlichste Urteil, zu dem sie, wie ich denke, fähig ist: »Er ist kein ehrbarer Wissenschaftler.«

       Ich hätte nicht schockierter sein können, wenn sie mich ins Gesicht geschlagen hätte. »Aber … er ist Kolloquiumsmitglied!«

       »Komm schon, Audrey. Du weißt es besser.« Großmama deutete zur imposanten Fassade des Kolloquiums hinauf. »Ja, theoretisch existiert das Kolloquium, um brillante Forschung anzuerkennen und zu unterstützen. Aber Leute kommen auch aus politischen Gründen hinein oder weil sie Freunde in der feinen Gesellschaft haben oder aus irgendeinem anderen Grund, der gar nichts mit ihrer Arbeit zu tun hat. Und abgesehen davon ist dein Mr. Mornett ein Calderit.«

      Sie sagte das Wort, als ob ich es kennen sollte, aber ich glaube nicht, dass ich es je zuvor gehört hatte. »Und was ist das?«, wollte ich wissen und verschränkte die Arme.

      »Samuel Calder war ein Prediger in Gostershire, bevor du geboren wurdest. Er glaubte, dass der Niedergang der drakoneischen Zivilisation ein Zeichen dafür war, dass der Herr sie verstoßen hatte, wie er Apra und Atzam aus dem Garten verstieß. Daraus folgerte er, dass sie nicht länger irgendeinen Anspruch auf diese Welt haben.« Großmama wirkte, als wollte sie ausspucken. »Einige seine Anhänger brachten seine Ideen zu deren schlimmstem Ausmaß und nennen sich selbst jetzt Hadamisten – ich nehme an, das ist zumindest ein Name, den du erkennst? Sie glauben, dass die Drakoneer ausgerottet werden sollten. Sie wollen beenden, was der Niedergang angefangen hat, und die Menschen als einzige Besitzer der Welt positionieren.

       Jene, die dichter an seinen ursprünglichen Ideen blieben, sind als Calderiten bekannt – aber verwechsle deren Mäßigung nicht mit irgendetwas, das du akzeptabel finden würdest. Sie sagen bloß, dass die Drakoneer nur solches Land besiedeln sollten, das die Menschheit ihnen gnädig überlässt: das Refugium der Schwingen, und nichts sonst. Und eher nach der Art eines Wildreservats statt einer souveränen Nation.«

      Natürlich bin ich mit dieser Debatte vertraut. Es gibt so wenige Drakoneer, und noch weniger von ihnen außerhalb des Refugiums. Die meisten Leute haben nie einen getroffen, also ist es einfach für sie, sich alle möglichen idiotischen Sachen einzubilden. Sie hören »Drakoneer« und denken an die Anevrai, reißerische Geschichten über Menschenopfer und all das. Aber Aaron Mornett ist viel zu intelligent, um seine Ansichten von solcher Ignoranz beeinflussen zu lassen, und genau das habe ich Großmama erklärt.

       Sie schnaubte und lief die Treppe weiter zur Straße hinunter. »Vertrau mir, Audrey. Du wirst glücklicher, wenn du dich von ihm fernhältst.«

       Und damit war die Sache, was sie betraf, erledigt. Aber ich bin nicht überzeugt […]

      29. SEMINIS

      Liebste Lotte,

      ich weiß nicht, ob es Zufall oder geplant ist, aber ich habe seit unserer Begegnung im Kolloquium recht häufig Mr. Mornett getroffen.

      Ich hatte nicht die Nervenstärke, ihn über die Dinge zu befragen, die Großmama gesagt hat – ich will ihn nicht vertreiben. Was auch immer Großmama von seiner Forschung hält, ich kann keine abfällige Bemerkung über seinen Verstand machen. Jedes Gespräch mit ihm ist faszinierend. Ich habe ständig das Gefühl, dass ich jede Gehirnzelle einsetzen muss, die ich besitze, nur um ihm zu folgen, und danach würde ich schwören, dass mein Schädel mit neuen vollgepackt ist, wie ein Muskel, der durch Benutzung wächst. Bei uns gibt es keinen dummen Klatsch über die Gesellschaft oder müßiges Geplauder über das Wetter. Es geht nur um antike Texte, Archäologie, Geschichte, die Dinge, die uns beide interessieren.

       Und er hasst Drakoneer nicht, was auch immer Großmama behauptet. Er hat nie welche getroffen, aber er hörte ganz höflich zu, als ich ihm von Kudshayn und den anderen erzählte, die ich kenne. Vielleicht kann ich, nachdem die Saison beendet ist, Arrangements treffen, dass er nach Yelang oder Vidwatha reist und einige kennenlernt […]

      12. FLORIS

      […] Ganz ehrlich, Aaron bringt reichlich gute Argumente vor. Kudshayns Gesundheitszustand ist schlecht, weil seine Mutter ihre Nachkommen in eine unpassende Umwelt brachte. Sollten wir sie nicht drängen, dort zu bleiben, wo sie sicher sind, statt sie solche Risiken eingehen zu lassen? Die Drakoneer leben schon seit Ewigkeiten im Refugium und sind an jenes Klima sehr gut angepasst. Es wird Generationen dauern, bis sich einer von ihnen erhoffen kann, sich in Südanthiopien wohlzufühlen. Und das bedeutet Generationen an gescheiterten Gelegen und schädlichen Mutationen.

       Alles, damit sie auf Land »zurückkehren« können, das sie seit Jahrtausenden nicht gesehen haben. Land, das bereits besiedelt ist! Wir können jene Leute keinesfalls vertreiben, und Aaron sagt, es ist unvernünftig zu erwarten, dass Menschen wieder Seite an Seite mit ihnen leben, wenn man bedenkt, was in der Vergangenheit passiert ist. Also ist die einzige Möglichkeit, wie sie es einnehmen könnten, durch Eroberung. Wieder tote Drakoneer, wieder tote Menschen, wieder böses Blut über den Schichten, die von vor Jahrtausenden übrig sind. Wozu? Wenn sie in Dajin ein perfekt geeignetes Bergtal haben, wo sie leben können?

      Aber ich kann nichts davon zu Großmama sagen. Sie würde nur glauben, dass er mich verdirbt oder so etwas. Heute Nachmittag habe ich endlich aus ihr herausbekommen, warum sie denkt, dass er ein so schlechter Wissenschaftler ist. Sie behauptet, sein Werk über Gewichte und Maße sei ein Plagiat! Aber sie hat nicht mehr als zehn Worte mit ihm gewechselt, und ich schon. Ein Verstand, der so brillant ist wie seiner, muss


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