Endspiel. Jean Bolinder

Endspiel - Jean Bolinder


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Bewegung, die er macht, um sich zu wehren oder freizukommen, schneidet ihm die Luft noch mehr ab. Aber bei ihm ist es nicht in ein paar Stunden vorbei. Es dauert Monate und Jahre, bis er ausgezappelt hat.“

      Unvermittelt packte sie mich. „Mein Gott, glauben Sie, daß er sich das Leben nehmen wird? Glauben Sie, daß wir ihn zum Selbstmord getrieben haben?“

      „Bestimmt nicht“, versicherte ich, „ganz bestimmt nicht.“

      Aber sie hörte mich nicht. Sie schaukelte verkrampft hin und her und sagte: „Es ist meine Schuld. Ich bin schuld an seinem Tod. Ich habe ihn getötet.“

      Sprach sie von Bosse oder von einem anderen? War es ein bitteres Geheimnis aus ihrer Vergangenheit, das jetzt aus dem Unbewußten aufstieg?

      4

      Lange saß ich neben ihr und suchte sie zu trösten.

      Endlich wurde sie ruhiger. Sie schmiegte sich an mich und entspannte sich. Es war nichts Erotisches an ihrem Verhalten mir gegenüber. Sie war nur ein kleines Mädchen, das gestreichelt werden und Zuspruch haben wollte. Für mich hingegen hatte ihre Nähe etwas Anziehendes. Ich genoß ihre Weichheit und ihren Duft.

      Ich konnte Bosse die Eifersucht und das Verlangen nach ihr nachfühlen.

      „Bosse tat so, als hätte er mit Ihnen ein Verhältnis gehabt“, sagte ich. „Ist das schon lange her?“

      „Wir haben nie ein Verhältnis gehabt“, erwiderte sie und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. „Bei ihm ist der Wunsch Vater des Gedankens, und so bildet er es sich ein. Möchten Sie auch eine Zigarette?“

      „Ja, gern. Wie haben Sie ihn eigentlich kennengelernt.“

      „Im Beruf. Er kam als Patient, und ich war freundlich zu ihm. Ich gebe mir Mühe, zu allen Patienten freundlich zu sein. Anscheinend faßte er meine Freundlichkeit falsch auf. Möglich auch, daß er meinen Muttertrieb weckte. Er ist ja so hilflos. Ein kleiner Junge, der nie erwachsen geworden ist. Im Grunde ist er nicht älter als mein Thomas.“

      Auf einmal wurde sie besorgt. „Hoffentlich ist Thomas nicht aufgewacht. Am Ende ist er erschrocken ... Warten Sie, ich will schnell nach ihm sehen.“

      „Darf ich mitkommen?“ bat ich.

      Es war plötzlich, als ob alles, was sie betraf, für mich wichtig sei. Sie fand meine Frage ganz natürlich und nickte. Zusammen gingen wir leise ins Kinderzimmer.

      Er schlief tief und fest unter einer weichen goldgelben Steppdecke. Neben ihm lag ein Teddybär. An den Wänden waren große Plakate: Tarzan mit einem Messer in der Hand im Kampf mit einem Löwen, die Pop-Gruppe ABBA, der Frosch Kermit mit Miß Piggy. Tarzan sah muskulös und brutal aus, und man begriff, daß der Löwe keine Aussicht auf einen Sieg hatte.

      Thomas war rothaarig wie seine Mutter. Auch seine Haut war ebenso weiß, und auf dem Nasenrücken hatte er feine Sommersprossen.

      An der Wand stand eine Hobelbank; darauf häuften sich alle möglichen Sachen, die nichts mit Schreinerarbeit zu tun hatten. Auf dem Boden lag ein abgetragener Cowboyhut. In einer Flaschenkiste, die offenbar als Spielzeugtruhe diente, erspähte ich einen Leuchtstab, einen Cowboygürtel, ein Polizeiauto und ein Pferd, auf dem ein Sheriff saß.

      Obwohl es ein freundliches Zimmer war und der Bub friedlich schlief, erinnerte mich hier vieles an die Gewalttätigkeit in der Welt. Tarzan im Kampf, das Polizeiauto, das mit heulender Sirene zum Schauplatz eines Verbrechens fährt, der Wilde Westen mit Mord und Totschlag.

      So sieht es in vielen Kinderzimmern aus. Vielleicht nicht verwunderlich, wenn ein kleiner Junge, der nicht richtig erwachsen wird, auch später glaubt, die Probleme könnten mit Tarzans Dolch gelöst werden ...

      „So ein netter Bub“, sagte ich, nachdem wir uns hinausgeschlichen hatten, „sieht wirklich lieb aus.“

      „Er kann recht schwierig sein“, erwiderte sie abwehrend, doch mit unverkennbarem Stolz. „Kinder sehen immer wie Engel aus, wenn sie schlafen. Manchmal bekomme ich Lust, ihn zu wecken und mich zu entschuldigen für alle die Reibereien im Lauf des Tages.“

      „Jetzt muß ich aber wirklich gehen“, entschied ich. „Bosse kommt heute nacht sicher nicht wieder. Auf jeden Fall müssen Sie mir versprechen, ihn nicht hereinzulassen. Wenn Sie nicht an sich denken, sollten Sie wenigstens an Thomas denken.“

      „Ich verspreche es“, antwortete sie ernst. „Aber bleiben Sie noch ein Weilchen. Ich fühle mich einsam.“

      „Was würde aus Thomas werden, wenn Ihnen etwas zustieße?“ bohrte ich weiter. „Vielleicht würde er wie Bosse aufwachsen und ein ebenso unglücklicher Mensch werden.“

      „Schluß mit der Predigt! Ich habe eine Schwester in Hägersten, die mit einem Gymnasiallehrer verheiratet ist. Sie hat keine Kinder und kann sich nichts Besseres vorstellen, als Thomas ein Heim zu bieten.“

      Ich sah sie verwundert an.

      „Kein Mensch ist unersetzlich“, sagte sie hart. „Nicht einmal eine Mutter!“

      Es wurde eine Weile peinlich still. Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte. Darum zeigte ich auf das Farbfoto und fragte: „Ist das Ihr Elternhaus?“

      Sie nickte. „Ödeshög. Meine Eltern hatten dort einen Dorfladen. Die Aufnahme wurde kurz nach dem Krieg gemacht. Ich selbst bin 1948 geboren.“

      Sie war also etwas älter als ich. Zum erstenmal fühlte ich mich zu einer Frau hingezogen, die älter war als ich.

      Ich fragte: „Leben Ihre Eltern noch?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Meine Mutter starb, als ich fünf war. Mein Vater starb 1965, als ich siebzehn war.“

      „Jetzt muß ich aber wirklich gehen“, sagte ich. „Der Taxibesitzerin werde ich eine ganze Menge erklären müssen. Meine Arbeitszeit ist nicht vor sechs Uhr zu Ende. Ein Taxi muß eine bestimmte Zeit unterwegs sein. Das ist vertraglich geregelt. Ich vergehe mich eigentlich gegen das Gesetz, wenn ich hier sitze.“

      Sie nickte, und ich merkte, daß sie auf einmal sehr müde war. Ihre Blässe wirkte jetzt grau, und sie sah älter aus als vorher.

      Beim Abschied beugte ich mich vor und gab ihr einen leichten Kuß auf die Wange. „Sie sind eine wunderbare Frau“, sagte ich. „Sie müssen auf sich aufpassen. Haben Sie gehört?“

      Sie nickte. Dann sagte sie: „Sie sind ein guter Mensch, wissen Sie das?“

      Es graute schon über Stockholm, bevor ich ins Bett kam. Das Auto stand in der Hötorgsgarage, und ich befand mich in meiner Einzimmer-Wohnung in einem der Reihenhäuser am Klara-See.

      Der Himmel war weiß, die Luft gräulich. Bis zur nächsten Nacht war es nur ein kurzer Tag. Und ich würde den kurzen Tag größtenteils verschlafen.

      „Figge, diesmal ist es ernst“, sagte ich zu meinem unrasierten Spiegelbild. „Diesmal bist du richtig verliebt.“

      Einmal muß es das erstemal sein, dachte ich und machte die Nachttischlampe aus.

      Kurz darauf schlief ich.

      5

      Zwei Tage später rief ich an, um zu hören, ob etwas geschehen sei. Es war ein kalter und windiger Januarabend. Der Schnee war natürlich fort. Auf dem dünnen Eis des Klara-Sees schimmerte nur da und dort noch eine Wehe.

      Der Gedanke beunruhigte mich, daß sich der Mann melden könnte, mit dem Bosse am Telefon gesprochen hatte. Aber es war Thomas, der „Hallo, wer ist da?“ sagte.

      Ließ Margit ihren Sohn antworten, um einem Gespräch mit Bosse auszuweichen? Ob sie wohl mit mir reden wollte?

      „Hier ist Figge Höglund“, sagte ich. „Ich möchte mit deiner Mutter sprechen.“

      „Ja“, sagte er, und dann verriet ein Geräusch, daß er den Hörer auf eine Tischplatte gelegt hatte.

      Ich


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