Endspiel. Jean Bolinder
meldete sie sich: „Hallo. Hier ist Margit Svensson.“ „Hallo“, sagte ich und kam mir ein bißchen dumm vor.
„Hier ist Figge Höglund. Der Taxichauffeur, der ... der sich Ihnen neulich nachts aufgedrängt hat.“
„Hallo!“ Das klang fröhlich. „Wie nett, daß Sie anrufen.“
„Ich wollte nur fragen ... wollte hören, ob alles in Ordnung ist. Der Bosse ... er ist doch nicht wieder aufgetaucht?“
„Nein, nein.“ Sie lachte. „Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Das war wohl eine fixe Idee von ihm, die er inzwischen vergessen hat. Alkoholiker sind so. Unheilbare Alkoholiker wie ... wie Bosse.“
„Ja“, antwortete ich blöde und trat von einem Fuß auf den anderen. „Das ist ja gut ... ich meine, daß er nicht mehr gekommen ist. Na ja, ich dachte, ob wir nicht irgendwann einmal ausgehen könnten ... ins Kino oder irgendwo essen? Es wäre doch nett, sich einmal unter weniger dramatischen Verhältnissen zu treffen ...“
Ihre Stimme hatte etwas Ausweichendes: „Ich weiß nicht recht. Ich kann Thomas nicht allein lassen, und ... ich glaube ...“
Ich konnte es ihr natürlich nicht verargen, wenn sie fand, daß mit mir nicht viel Staat zu machen war. Wäre ich weniger interessiert gewesen, so hätte ich mich abspeisen lassen. Aber sie hatte etwas Besonderes an sich, das mich gegen mein besseres Wissen hartnäckig sein ließ.
„Nehmen Sie Thomas mit“, sagte ich. „Ich meine nur, es könnte doch nett sein, einen Abend zusammen zu verbringen und gemütlich zu plaudern. Wenn der Junge mitkommt, um so besser. Wir könnten uns einen Film ansehen, der für Kinder erlaubt ist. Zum Beispiel einen Disney-Film.“
Ich kam mir wie eine Annonce vor: „Du, einsame Mama, die sich auch nach einem Menschen sehnt, mit dem sie die Freizeit nach des Tages Müh verbringen könnte, wirst von einem Mann gesucht, 25 Jahre alt, der Freude an gemütlichen Abenden und einem gemeinsamen Kinobesuch hätte.“
„Ja, das ginge“, sagte sie ein wenig zweifelnd. „Ich ...“ „Morgen abend?“ schlug ich eifrig vor. „Um halb sieben? Ich hole Sie ab.“
„Also gut. Wenn Sie unbedingt wollen.“
Die letzten Worte klangen nicht gerade freundlich. Sie kühlten meine Gefühle erheblich ab. Vielleicht rührte mein Interesse nur von dem Drama in der Nacht neulich her? Vielleicht schmeichelte meiner männlichen Eitelkeit der Gedanke, sie gerettet zu haben? Dabei war es nicht einmal sicher, daß es für sie schlecht ausgelaufen wäre, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Der Bosse mit dem Messer hatte zwar recht gefährlich gewirkt, als ich ihn zu ihr fuhr, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, daß er im Grunde ein armer Kerl war, der keinem Menschen etwas zuleide tun würde.
Ich hatte mehr Gewalt angewendet, als nötig gewesen wäre. Hatte einen Mann abgeschreckt, der ohnehin schon verschreckt war. Das war keine Heldentat. Ich brauchte mich nicht zu wundern, daß Margit sich nicht besonders zu mir hingezogen fühlte. Vielleicht verachtete sie mich? Ziemlich unzufrieden mit mir selbst ging ich zu Bett, mit einem Eierpunsch und Jungs Buch Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, das ich mir in der Leihbibliothek geholt hatte. Ich hegte die Absicht, Interesse für ihre berufliche Tätigkeit zu bezeigen; aber bald fesselte mich das Buch wirklich, und ich las es wie einen Roman mit spannender Handlung.
Zum Kulturprozeß gehört es, schreibt Jung, daß das Animalische im Menschen fortlaufend bezwungen wird. Der Mensch vereinigt in sich sowohl Natur als auch Kultur, und kennzeichnend für den Kulturmenschen ist es, daß er mit sich selbst uneins ist. Ein Sonderfall ist die Neurose. Bei der Neurose liegen zwei Neigungen vor, die in entscheidendem Gegensatz zueinander stehen und von denen die eine das Unbewußte ist.
Zu Beginn des Buches wird ein Fall geschildert, der das illustriert. Eine junge Frau auf dem Heimweg von einer Gesellschaft wurde von einem Pferdewagen so erschreckt, daß sie den Pferden in den Weg sprang. Dem Verhaltensmodell liegt ein früheres Schreckerlebnis in Zusammenhang mit Pferden zugrunde, aber auch der Wunsch, zu dem Haus zurückgefahren zu werden, wo die Gesellschaft stattgefunden hat. Die junge Frau war nämlich in den Gastgeber verliebt und wollte — unbewußt — die Nacht mit ihm verbringen. Sie wurde tatsächlich dorthin zurückgebracht, und man nahm sich ihrer an — das natürliche erotische Bedürfnis fand durch die Handlungsweise Befriedigung. Der bewußte Kulturmensch wußte hingegen nicht, warum er so gehandelt hatte.
Ich fand es erschreckend, daß man Dinge tut, ohne sich bewußt zu sein, warum.
Beruhte meine Weigerung, Bosse hereinzulassen, teilweise darauf, daß ich mich selbst in Margit verliebt hatte? Wurde ich von einem selbstsüchtigen Beweggrund getrieben, als ich glaubte, sie beschützen zu wollen?
Trotz meiner unregelmäßigen Arbeitszeit schlief ich immer sofort ein, sobald ich die Augen geschlossen hatte. An diesem Abend aber hatte ich eine Unruhe im Leib, die den Schlaf fernhielt.
Ich rauchte eine Zigarette. Irgendwo im Haus rauschte eine Toilette. Eine Tür wurde zugeschlagen. In der Ferne heulte ein Krankenwagen. Das Fenster, das aufgehakt war, damit etwas frische Luft eindrang, klirrte hin und wieder. Es klang wie Vogelgezwitscher.
In der Dunkelheit und Kälte der Januarnacht zwitscherten jedoch keine wirklichen Vögel. Stockholm lag still und frostig da in der Nacht.
Die Uhr hatte längst Mitternacht geschlagen, als ich endlich einschlief.
6
„Ist Thomas nicht da?“ fragte ich, als ich sie abholen wollte.
„Nein, er ist bei meiner Schwester. Er ist ziemlich oft bei ihr. Dort geht es ihm gut. Tante und Onkel verwöhnen ihn, und er fühlt sich bei ihnen heimisch.“
„Ach so. Sehen wir uns trotzdem den Walt-Disney-Film an?“
„Wir fahren ein bißchen spazieren, ja? Das ist schöner. Ich habe kein Auto und komme selten hinaus. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich das vorziehen.“
„Einverstanden“, sagte ich.
In meiner Brieftasche lagen drei im Vorverkauf erstandene Eintrittskarten. Das ärgerte mich, obwohl ich vor allem sie hatte treffen wollen.
Wir stiegen in den Saab und fuhren ab. Es war draußen stockdunkel, so daß ich nicht ganz verstehen konnte, was an der Fahrt Schönes zu finden war. Aber für einen Menschen, der nicht berufsmäßig Auto fuhr, mochte es natürlich etwas anderes sein.
„Wollen wir in die Stadt fahren?“ fragte ich.
„Lieber hinaus, zum Beispiel nach Uppsala.“
„Erzählen Sie mir ein bißchen von sich“, bat ich, nachdem ich in die Landstraße nach Uppsala eingebogen war.
„Was gibt’s da zu erzählen? Ein alltägliches, langweiliges Leben. Wie es die meisten führen.“
„Ich denke an das Bild“, sagte ich. „Ödeshög, nicht wahr?“
„Ja, das war das Geschäft meiner Eltern. Der übliche Dorfladen. Ganz klein. Und draußen eine Benzinpumpe. Ich war mir als Kind selbst überlassen. Meine Schwester war fünfzehn Jahre älter als ich, und sie arbeitete schon in der Stadt. Auf der Straße flutete das Leben vorbei. Wir vermoderten wie in einem Stauwasser. Ich glaube, meine Mutter litt schwer darunter und war lebensüberdrüssig. Sie starb an Krebs, als ich fünf Jahre alt war. Ich erinnere mich kaum an sie, nur an ihren Tod. Das war natürlich ein Schock. Danach war ich mit meinem Vater allein. Er begann zu trinken und schlug mich. Er richtete das Geschäft zugrunde, übrigens auch sich selbst. Es war die Zeit, wo die kleinen Läden allmählich ausstarben. Die Supermärkte würgten sie ab.“
Sie zog an ihrer Zigarette, und ich sah die Glut in der Dunkelheit des Autos aufleuchten.
„Er trank und schlug mich“, wiederholte sie hart. „Wenn er morgens den Laden hätte öffnen sollen, schlief er. Oft mußte ich aushelfen und versäumte deswegen die Schule.“
„Daß Sie das ausgehalten haben!“
„Wer