Feuer und Blut. Tom Buk-Swienty
und führte ein Leben, das an James Fenimore Coopers Lederstrumpf und Der letzte Mohikaner denken lässt. Im Laufe seiner Jahre in der Wildnis hatte er engen Kontakt zu einem Indianerstamm, der sich Chippewas nannte. Er war ein außerordentlich tüchtiger Jäger und gewann den Respekt der Indianer. Sie gaben ihm den Spitznamen Boganis, Haselnuss. Boganis wurde zu seinem Pseudonym, als Dinesen später versuchte, in Dänemark als Schriftsteller zu reüssieren.
Hauptmann Dinesen war in vieler Hinsicht die Personifizierung einer gewaltigen Spanne von Ereignissen, die zu seinen Lebzeiten stattfanden. Er wuchs auf in der traditionsverbundenen, stark patriarchalischen, konservativen und königstreuen Welt der Herrensitze, deren Fundamente Unveränderbarkeit und Weiterführung durch die Familie hießen. Das Geschlecht der Dinesens war nicht adlig, gehörte aber zu einer exklusiven Gruppe von bürgerlichen Gutsherren – Großgrundbesitzern –, die ihrem Wesen nach durch und durch aristokratisch waren. Vom Adelsstand, in den sie teilweise einheirateten, und vom Königshaus, dem sie loyal dienten, wurden sie – obwohl sie formal nicht den gleichen Rang hatten – als Standesgenossen anerkannt. Wilhelm Dinesen war ein Romantiker des alten Schlages, was Frauen und Liebe betraf, und mit Leidenschaft gab er sich dem Krieg und der Jagd hin – aus einem Ritterethos heraus, das wie so vieles in seinem Wesen seine Wurzeln in einer verschwundenen Zeit hatte.
Gleichzeitig war er auf anderen Gebieten einer der modernsten Männer des Landes. Wie so viele Vertreter seines Standes verhielt er sich wie ein wahrer Kosmopolit, der sich von Impulsen aus der großen weiten Welt außerhalb der Grenzen seines kleinen Heimatlandes beeinflussen ließ. Ihn interessierten die neuesten Entwicklungen in jeder Form. So schockierte er beispielsweise seine aristokratischen Standesgenossen, als er mit der Idee des Sozialismus liebäugelte. Ein Flirt, den er öffentlich in seinem ersten Buch Paris under Kommunen (»Paris unter der Kommune«) präsentierte. Dinesen schrieb seinen Augenzeugenbericht im Alter von nur sechsundzwanzig Jahren. Das Ergebnis ist eines der authentischsten Werke, die es über dieses gewaltsame Kapitel der französischen Geschichte gibt. In seinem Buch sympathisiert er offen mit den Roten oder den Kommunarden, wie die Aufständischen genannt wurden, die gegen die konservative französische Regierung kämpften. In diesem Sinn wurde Dinesen nach und nach zu einer Art enfant terrible in seinem eigenen Stand. Dies zeigte sich auch in seinem späteren Leben, als er in die Politik ging und sich trotz seiner Herkunft als Gutsbesitzer für die Partei der Bauern, Venstre, aufstellen ließ. Die Vertreter der Venstre kämpften vehement gegen das Gutsherrensystem, das die dänische Politik bis weit in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts dominierte – bis in die Regierungszeit des damaligen Premierministers J. B. Estrup.
In seinen bekanntesten Erzählungen, Jagtbreve (»Jagdbriefe«) und Nye Jagtbreve (»Neue Jagdbriefe«), die erst im Laufe der 1880er Jahre in der damals progressivsten dänischen Zeitung, der Tageszeitung Politiken, abgedruckt wurden, pflegte Dinesen einen sinnlichen, impressionistischen Stil. Er hätte kaum moderner sein können. Dem prominenten zeitgenössischen Literaturkritiker Georg Brandes zufolge, der Wilhelm Dinesens Werk schätzte und lobte und der ihn für einen Vertreter des »modernen Durchbruchs« hielt, hatte der Hauptmann »Unruhe im Blut«. Es war eine Untertreibung. Ebenso wie seine nervöse Zeit war er ruhelos und permanent in Bewegung, ohne dass sich immer vorhersagen ließ, wohin er unterwegs war.
Hauptmann Dinesen befand sich fast sein ganzes Leben auf der Jagd nach dem, was Karen Blixen und ihr Bruder Thomas Dinesen später als »Des Vaters Gott – Das Große im Leben« loben sollten. Aber es war auch eine Lebensexpedition mit Schattenseiten und tiefen Tälern. Und es wurde niemals ganz geklärt, ob Hauptmann Dinesen Gott oder nicht doch den Teufel suchte und fand.
Tom Buk-Swienty
Feuer und Blut
12 Boulevard du Temple, Paris, Freitag, 26. Mai 1871. Wie die vergangenen Tage beginnt auch dieser Morgen mit einem gewaltigen Spektakel. Im Lärm fliegender Steine, berstender Fenster und pfeifender Kugeln kriecht der fünfundzwanzigjährige dänische Offizier Hauptmann Wilhelm Dinesen vorsichtig ans Fenster der Wohnung, in der er übernachtet hat, um die Kämpfe zu verfolgen, die auf dem Boulevard du Temple im östlichen Teil von Paris wieder aufgeflammt sind.
Ein Bürgerkrieg wütet in der französischen Hauptstadt, und vom Fenster aus kann Dinesen direkt auf die Barrikade blicken, um die auf dem Boulevard gekämpft wird. Eine Gruppe Aufständischer, die sich Kommunarden nennen, halten noch immer gegen eine gewaltige Übermacht an Regierungstruppen stand, die in die Stadt einmarschiert sind. Zwei Monate zuvor hatten die Kommunarden die Macht in Paris übernommen – mit dem erklärten Ziel, die französische Hauptstadt vom restlichen Frankreich abzuspalten. Doch nun haben sie die Stadt nicht mehr in der Hand und kämpfen einen letzten verzweifelten Kampf gegen die Regierungssoldaten.
Vom Fenster aus sieht Dinesen eine Kommunardin auf den Barrikadenwall springen. Sie ist jung, kräftig und zornig. Sie schreit und schwingt ihr Gewehr. Dann legt sie die Waffe an und feuert auf die Feinde, die an den Toren und hinter den Fenstern des Boulevards Deckung suchen. Völlig ungeschützt lädt sie ihr Gewehr nach und schießt erneut. Sie achtet nicht auf die um sie herumfliegenden Kugeln. Der Wahnsinn des Kampfes hat sie gepackt. Es muss furchtbar enden. Und es endet furchtbar. Sie wird getroffen, lässt das Gewehr fallen und taumelt verletzt in einen Graben hinter den Barrikaden, der bereits voller Toter und Verletzter ist.
Mit ihrem Fall ist der Widerstand der Barrikade gebrochen. Hauptmann Dinesen sieht, wie die Soldaten dagegen anstürmen. Ein Soldat springt auf die Barrikade, auf der zuvor die Frau gestanden hat. Sie liegt ihm zu Füßen im Graben, er richtet seinen Gewehrlauf auf sie. »Schieß nicht, schieß nicht!«, schreit die Frau. Deutlich hört Dinesen ihre Stimme, sie ist voller Todesangst. Doch der Soldat zögert nicht. Er drückt ab.
Weitere Soldaten kommen hinzu und postieren sich bei den Verletzten hinter der Barrikade. Ein hohles Dröhnen ist zu hören. Einem Verletzten nach dem anderen wird in den Kopf geschossen. Dies ist kein Krieg. Es ist eine Schlächterei. Wilhelm Dinesen weiß auch, was diese Entwicklung für ihn persönlich bedeutet. Auch er ist nicht mehr in Sicherheit, obwohl er nicht zu den Kämpfenden gehört, sondern den Bürgerkrieg in Paris privat als ausländischer Beobachter verfolgt hat. Bisher wurde dies von den streitenden Parteien immer respektiert. Doch in dieser Situation kann sich niemand mehr sicher wähnen. Er muss verschwinden.
Er stürzt aus der Wohnung, die Treppen hinunter, vorbei an aufgereihten Leichen und Verletzten. Er erreicht den Hinterhof, von hier aus kann er die großen Boulevards erreichen. Um dorthin zu kommen, muss er durch eine kleine Gasse, sie schwimmt im Blut der Toten und Verletzten. Als er endlich auf den offenen Boulevards steht, sieht er zum ersten Mal das unglaubliche Ausmaß der Zerstörung. Die ganze Stadt, ganz Paris, atmet »Feuer und Blut«. Das ist die einzige Formel, mit der er diesen Wahnsinn beschreiben kann. »Feuer und Blut«. Straße um Straße niedergebrannte, qualmende Häuser, vielerorts quillt schwarzer Rauch aus den Ruinen. An anderen Stellen flackern die Flammen in einem letzten Totentanz unter dem grauen, regnerischen Himmel.
Ja, es regnet tatsächlich. Zum ersten Mal seit Wochen regnet es. Der Himmel weint. So ist es wohl. Das Ausmaß der Zerstörung ist unfassbar. Viele der berühmtesten Gebäude der Stadt bestehen nur noch aus Schutt, Mauerbrocken und Asche. Die Oper, die Tuilerien, der Louvre, das Hôtel de Ville. Dasselbe gilt für den Opernplatz, die Place Vendôme und die Place de la Bastille.
Dinesen hat das Gefühl, tief in einem Albtraum zu stecken, der mit jedem Schritt, den er weiter in die Stadt hineingeht, intensiver wird. Die Sinneseindrücke dringen wie spitze Pfeile auf ihn ein. In den Rinnsteinen und auf den Bürgersteigen liegen ganze Reihen von Leichen: hingerichtete Aufständische, viele von ihnen Zivilisten, viele von ihnen Frauen. Wie eine düstere Symphonie ist das Gewehrfeuer und das Dröhnen der Kanonen von den Kämpfen zu hören, die in anderen Vierteln der Stadt noch immer ausgefochten werden. Die düstersten aller Geräusche sind jedoch die knatternden Schusssalven der Hinrichtungskommandos. Dinesen sieht, wie Bürger aus ihren Kellern und Wohnungen gezerrt werden, in denen sie sich versteckt haben.
Ohne Gerichtsverfahren werden diese Menschen – Frauen und Männer, die verdächtig sind, sich an dem Aufstand beteiligt zu haben – in langen Reihen an die Hausmauern gestellt und auf der Stelle erschossen. Erst mit einer Salve in die Brust, dann mit