Feuer und Blut. Tom Buk-Swienty
seines jugendlichen Alters bereits sehr viel Krieg und Gewalt gesehen und erlebt. Er ist ein Veteran des Dänisch-Deutschen Krieges 1864 und hat 1870–71 als Freiwilliger auf der französischen Seite im Deutsch-Französischen Krieg gekämpft, der erst vor wenigen Monaten zu Ende ging. Doch was er hier in den Straßen von Paris sieht, ist ungeheuerlich. Ekel steigt in ihm auf, als er diese abgestumpfte Vernichtung von Menschenleben um sich herum beobachtet. Vor allem kann er den Blick nicht von den zum Tode verurteilten Menschen abwenden, die vorgeführt und an die Mauern gestellt werden. Die Art, wie sie in den Tod gehen, lässt ihn nicht los.
Schweigend, resigniert und mit gleichgültigen Blicken lassen sie sich erschießen. Nicht einer von ihnen leistet Widerstand. Sie wissen, dass es vorbei ist.
Dinesen geht an einer Gruppe Gefangener vorbei, die noch nicht erschossen wurden und aus einem unbekannten Grund zunächst in einen anderen Stadtteil transportiert werden sollen. Unter den Gefangenen ist ein Mann, der hinkt.
Dinesen hört, wie ein Soldat seinen Offizier fragt: »Hier ist einer, der nicht Schritt halten kann, er hat eine Wunde am Bein. Was soll ich machen?«
»Erschieß ihn!«
Und mit dem Dröhnen des Schusses in den Ohren setzt Wilhelm Dinesen sich auf eine Bank am Boulevard de Sébastopol in die Nähe eines Regiments Soldaten, die ihre Gewehre zu Pyramiden zusammengestellt haben. Auf der Bank neben ihm sitzt eine alte, ärmlich gekleidete Frau.
Zunächst sitzen sie schweigend nebeneinander. Einen Kilometer östlich von ihnen toben die Kämpfe am Friedhof Père-Lachaise, hin und wieder fliegt ihnen eine Granate über den Kopf.
Während sie dort sitzen, wird ein Bürger in Hemdsärmeln und mit der Kopfbedeckung eines Zivilisten aus einem Gebäude gezogen und zu einem Zeitungskiosk in der Nähe geführt. Aus der Tür des Kiosks ragen die Füße einer Leiche. Dinesen beobachtet den Vorgang. Dem Gefangenen wird die Mütze vom Kopf geschlagen. Er legt die Hände auf den Rücken und blickt ruhig vor sich hin. Ein Schuss fällt. Der Mann fällt um, in die Brust getroffen. Einer der Soldaten tritt an ihn heran und schießt ihm eine Kugel in die Stirn. Neben dem Kiosk steht eine Gruppe Offiziere. Sie drehen sich nicht einmal um und unterhalten sich einfach weiter.
Dinesen wendet sich an die alte Dame.
»Wart ihr gute Republikaner in diesem Viertel?«, erkundigt er sich und deutet damit an, dass die meisten Kommunarden radikale Republikaner und Sozialisten waren, die eine Republik wollten, die sich auf Freiheit, Gleichheit und weitgehende demokratische Rechte für die Bürger gründete.
»Ja, das waren wir«, erwidert sie.
»Und sind hier viele exekutiert worden?«
»Alle! Sowohl die, die gekämpft haben, als auch die, die nicht gekämpft haben. Man hat sie erschossen, mein Herr, so wie man ihn dort drüben erschossen hat, wie Sie gesehen haben. Man hat sie an den Haaren die Straße hinuntergeschleift.«
Sie steht auf und geht.
Auch Dinesen macht sich wieder auf den Weg – tiefer hinein in ein Inferno. Denn anders kann diese Welt, die jegliche Humanität, jedwede moralische Basis und Haltung verloren zu haben scheint, nicht beschrieben werden.
Am Théâtre Français kommt er an einer Barrikade vorbei, in deren Graben seiner Schätzung nach ungefähr dreißig Leichen liegen. Ein Karren wird vor den Graben gezogen. Soldaten werfen die Leichen auf die Ladefläche. Währenddessen laufen neugierige Zuschauer zusammen, Bürger, die weder am Aufstand teilgenommen noch damit sympathisiert haben. Sie sehen zu, während einer der Soldaten »einer Leiche die Hose auszieht und ihr einen Schlag auf das entblößte Hinterteil versetzt. Das Publikum lacht.«
Als der vollbeladene Karren davonrumpelt, stößt, wie es Dinesen später beschreibt, »ein Rad an den Kopf einer Leiche und rollt darüber hinweg«.
»Das kann nicht schaden«, hört er den Kutscher sagen. »Wenn er nicht richtig tot war, dann hat’s ihm gut getan.«
In dem Moment, als Dinesen das knirschende Geräusch der Radfelge des schweren Karrens auf dem Schädel hört, ist ihm bewusst, dass er jetzt – jetzt – genug hat.
In den vergangenen sechs Monaten waren seine Sinne in höchstem Maße angespannt, das Adrenalin hat gepumpt. Ununterbrochen war er in Bewegung geblieben. Er hatte den völligen Zusammenbruch der französischen Armee erlebt, danach den blutigen französischen Bürgerkrieg. Es war ein durchaus verlockender und intensiver Wahnsinn gewesen, der beinahe etwas Abenteuerliches an sich gehabt hatte. Das Gefühl, an etwas Großem teilzunehmen, ein welthistorisches Ereignis zu erleben, hatte ihn mit erregtem Kribbeln erfüllt.
Doch jetzt, jetzt ist es zu viel. Es scheint, als würde an diesem Tag alles auf den Kopf gestellt. Es ist der 26. Mai 1871. Wilhelm Dinesen fragt sich nach dem Sinn des Ganzen und kann Tod und Vernichtung nicht mehr ertragen. Er spürt eine sehr tiefe Müdigkeit. Und als er diese Müdigkeit erst einmal zugelassen hat, lässt sie ihn nicht mehr los, er fühlt sich schlapp, kraftlos und missmutig. Zum ersten Mal seit über einem halben Jahr geht ihm durch den Kopf, dass es Zeit ist, nach Hause zu fahren, zum Herrenhof seiner Väter, auf das Gut Katholm Gods in der hübschen Natur Norddjurslands in Jütland – eine traditionsverbundene Welt, in der sein Vater A. W. Dinesen residiert, der große Patriarch der Familie. Eine Welt von gestern, in der die alte Ordnung noch besteht, eine Welt weit weg von blutgetränkten Rinnsteinen und Massenhinrichtungen. Eine Welt, die ihm Ruhe geben kann.
Kann sie es wirklich?
Teil 1
Der Patriarch und sein Sohn
1
Knapp zehn Kilometer südlich des Provinzstädtchens Grenaa in Norddjursland erhebt sich in der Nähe des tosenden Kattegats ein altes, rostrotes, dreiflügeliges Renaissancegebäude mit Kellergewölben, Türmen, geschwungenen Giebeln und hohen Dachfirsten. Es liegt zwischen üppigen Buchenwäldern auf einer Insel mitten im See. Man gelangt zu dem Ort über einen schmalen Hohlweg. Gekrümmte Buchen säumen den Weg, schmiegen sich aneinander in verzweigten Umarmungen und bilden so einen dunklen Tunnel, der zu einem der schönsten Herrensitze Dänemarks führt, Katholm Gods.
Erbaut wurde das Herrenhaus und die dazugehörenden Wirtschaftsund Arbeitsgebäude Ende des 16. Jahrhunderts von einem Gutsherrn namens Thomas Fasti, einer gewaltigen Erscheinung, der im Kampf ein Auge verloren hatte. Mit großer Tapferkeit hatte Thomas Fasti an etlichen Kriegen teilgenommen, unter anderen an dem Siebenjährigen Nordischen Krieg von 1563 bis 1570. Aber nach zahlreichen Feldzügen und treuem Dienst unter dem kriegslüsternen Frederik II. hatte er das Gefühl, dass es Zeit wäre, ein Leben als Zivilist zu führen. Thomas Fasti war für seinen Einsatz im Krieg vom König reich belohnt worden, er besaß mehrere große Höfe und Güter in Djursland. Zu ihnen gehörte Katholm, das nahe am Kattegat im äußersten Osten der jütländischen Halbinsel lag.
Das heißt, Katholm Gods war zu dieser Zeit lediglich ein großer, schlichter Hof, den er von seinem Vater, Christian Fasti, geerbt hatte. Nun zu Reichtum und Ehre gelangt, war Thomas Fasti von der Idee besessen, dass dieser Ort die Krönung seines Lebenswerks werden sollte. In einer geradezu unverfrorenen Präsentation dessen, was er vermochte, ließ er auf der Insel im See zwei imposante, sehr moderne, zweistöckige Hauptflügel errichten. Im Jahr 1600 war der Bau vollendet.
Abgesehen davon, dass später noch ein weiterer Flügel gebaut wurde und fortlaufend Verbesserungen durchgeführt wurden, ruhte über Katholm Gods, wie dies für Herrensitze typisch ist, bald eine eigentümliche Aura der Unveränderlichkeit. Generationen kamen und gingen, während der Herrensitz einfach stehen blieb, wie ein alter, stolzer Mann, der seinen Blick in die Ferne richtet. Thomas Fasti selbst konnte nur neun Jahre auf Katholm Gods wohnen, bevor er starb. Aber es folgten neue Generationen. Im Laufe der Jahrhunderte war das Landgut als Wohnsitz in wechselndem Besitz von Gutsherren mit klangvollen aristokratischen Nachnamen wie Skeel, Sehested, Ramme, Trolle und Rosenørn. Einige dieser Gutsherren erwiesen sich als human, andere zeigten sich hart gegenüber ihren Zinsbauern. Manche verstanden sich auf die Verwaltung des Gutes, andere wiederum nicht.
Und es gab einiges zu verwalten. Zu Katholm