H'mong. Gebhard Friebel

H'mong - Gebhard Friebel


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sagte: „Na endlich.“

      Er umfuhr im Schritttempo ein tiefes Schlagloch. Dann mussten sie anhalten: Vom Boden, zwanzig Meter vom Weg entfernt, erhob sich eine ausgemergelte Frau. Sie schaute angestrengt in ihre Richtung, hob beide Arme, und winkte aufgeregt.

      Chris stoppte.

      Sie rief schrill: „Doktor! Doktor!“

      Hinter einem weiteren Steinbehälter erschien eine männliche Gestalt. Der ausgemergelte Körper in der verschmutzten, zerrissenen Kleidung passte zu einem Landstreicher. Der Mann hinkte keuchend heran. Eine hellrote Blutspur markierte seinen Weg. Er fragte in passablem Englisch: „Sind Sie Ärzte?“

      Beide schüttelten die Köpfe. Sie sahen seine blutverschmierte, zerfetzte Hose an.

      „Was ist mit Ihnen passiert?“,fragte Chris. „Wo haben Sie sich verletzt? Steigen sie ein, wir bringen Sie ins Krankenhaus nach Phonsavan.“

      Der Mann antwortete zögernd: „Ich kann dort nicht hin, dort wird man mich sofort erschießen.“

      Chris stieg aus dem Wagen.

      Gerhard folgte. „Ihr Bein sieht übel aus.“

      Gerhard zog seinen Gürtel aus dem Hosenbund und legte ihn oberhalb des Knies mehrmals um das Bein.

      Das schweißnasse Gesicht des Mannes verzerrte sich vor Schmerz. Er stöhnte. Gerhard zog die Gürtelenden fest zusammen und verknotete sie, so stramm er konnte. „Jetzt wird die Blutung aufhören. Warum, denken Sie, dass man Sie erschießen würde? Was haben sie verbrochen?“

      Zunächst antwortete der Mann nicht. Doch dann sprudelten die Sätze bitter und immer schneller. „Weil wir H’mong sind. H’mong, die aus Angst vor den Soldaten in den Wäldern oder in den verminten Gegenden leben. Vorhin waren Soldaten hier; sie haben uns entdeckt und auf uns geschossen. Sie schießen sofort, wenn sie uns irgendwo sehen.“

      „Warum schießen sie auf Euch?“

      „Weil wir vom Stamm der H’mong deren Feinde sind. Manche unserer Väter und Großväter haben auf Seiten der Franzosen und der Amerikaner in Vietnam gegen die Kommunisten gekämpft. Manche haben auch gegen die kommunistischen Pathed Lao gekämpft. Fast alle sind umgekommen. Die kommunistische Regierung von Laos hat uns H’mong das Kämpfen nie verziehen.“

      Die Frau trat neben ihn. Er stützte sich auf ihre Schulter.

      „Jeder, der irgendwie mit den Kämpfern verwandt war, wird verfolgt. Es reicht schon der Verdacht, aus dem selben Dorf zu stammen.

      Auch wer nie gegen die Kommunisten gekämpft hat, wird brutal verfolgt. Es reicht heute, H’mong zu sein. Es gibt keine Wahrheit, die gegen Vorurteile ankommt. Sie töten uns, sobald sie uns finden.“

      Seine Worte klangen verzweifelt: „Sie töten alle, wenn immer sie können. Auch Frauen und Kinder!“

      Gerhard erwiderte zweifelnd: „Im Norden gibt es doch einige H’mong Dörfer; da herrscht Ruhe. Man kann in jedem Reisebüro Touren in diese Dörfer buchen.“

      „Die Leute wurden zwangsweise angesiedelt. Es sind Vorzeigedörfer der Regierung für Touristen. Die Dörfer dürfen von den Bewohnern nicht verlassen werden.“

      Die Frau ergriff den Arm des Verletzten. Seine Stimme zitterte.

      „Die Dörfer stehen unter strenger Kontrolle der Polizisten, die in der Nähe wohnen. Diese Polizisten stehlen das Geld von den Dorfbewohnern, das die von Touristen bekommen. Sie vergewaltigen Kinder und Frauen, wenn sie betrunken sind.“

      Es machte ihm Mühe zu sprechen. Er holte tief Luft. „Oft schießen die Polizisten wild um sich. Sie verletzen und töten immer wieder Menschen aus den Dörfern. Sie behandeln die Leute wie Tiere. Die Bestien werden für ihre Untaten nie bestraft.“

      Gerhard sah den Mann betroffen an.

      Chris murmelte: „Unglaublich!“

      „Unsere Landsleute in den Dörfern dort hassen die Polizisten. Sie leben in ständiger Furcht. Sie leben nicht gerne in diesen Siedlungen. Wir H’mong waren immer ein freies, stolzes Volk; wir wohnten abgeschieden in großer Höhe, wo es kühler ist. Solange wir zurückdenken können, liebten wir waldreiche, gebirgige Gegenden. Aber die Wälder sind verschwunden.“

      Er holte tief Luft. Sein Gesicht war müde. Dem Verletzten fiel es schwer, weiter zu sprechen. „Nur dort konnten wir uns gut ernähren. Wir jagten Enten, große Vögel, Fische und Frösche, Affen und andere Tiere des Waldes und der Flüsse. Aber heute, was sollen wir machen? Wovon sollen wir leben? Es leben nur noch wenige Tiere dort.“ Erschöpft schwieg er wieder.

      „Waren es Minen, denen die großen Tiere zum Opfer fielen?“,Gerhards Stimme war gedämpft. „Ich habe gelesen, dass es vor nicht allzu langer Zeit viele wilde Elefanten gab.“

      Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Es waren Männer aus den Städten. Sie töteten die Elefanten, weil sie viel Geld für das Elfenbein bekamen.“

      Wieder eine Pause – er dachte nach.

      Langsam fuhr er fort: „In ihrer Not webten die Frauen Stoffe nach uralten Mustern. Sie versuchen Kleider, Hosen und Umhängetaschen zu verkaufen. Aber sie wurden von den Märkten vertrieben. Manche stellten auch Silberschmuck her. Wir konnten kaum vom Verkauf dieser Sachen leben.“

      „Warum leben Sie hier, inmitten der gefährlichen Minen?“ fragte Chris.

      „Die Soldaten trauen sich nicht hier herein. Aber wir kennen einige Pfade,die sicher sind. Manchmal geht eine Gruppe von uns hierher zur Straße, um selbstgefertigte Sachen an Touristen zu verkaufen. Wenn wir Soldaten sehen, verschwinden wir sofort. Auch heute kamen wir zum Verkaufen her. Doch diesmal kamen die Soldaten mit einem Minibus. Mit solchen Bussen kommen normalerweise die Touristen.“

      Die Frau nickte.

      Der Mund des H’mong verzog sich zu einem schmalen Strich. Sein Blick wurde kalt. „Die Soldaten sprangen aus dem Bus. Sie haben sofort geschossen und mit Macheten zugeschlagen. Dahinten liegen drei tote Mitglieder unserer Gruppe. Wir müssen sie nun bestatten. Dann ist da noch eine verletzte Frau. Deswegen haben wir Sie gerufen. Wir dachten, Sie sind vielleicht Ärzte. Neulich waren zwei Ärzte aus Frankreich hier. “Sichtlich erschöpft und noch heftiger zitternd verstummte er.

      Gerhard sah auf seine Uhr, dann zum Himmel. Das gleißende Licht der weißgelben Mittagssonne hatte sich rötlich verfärbt. Es würde bald der Dämmerung weichen. Er sagte zu Chris: „Es ist kurz vor sechs Uhr. Die Zeit wird nicht reichen, um noch bei Helligkeit die Stadt zu erreichen. Im Reiseführer stand in dem Absatz über Minen in Laos: Bei Dunkelheit ist für Ausländer die Gefahr groß, vom Weg abzukommen und auf eine Mine zu fahren.“

      Der H’mong sprach wieder mit festerer Stimme. „Es ist jetzt tatsächlich zu spät für Euch, um noch sicher zur Stadt zu kommen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr bei uns die Nacht verbringen.“

      Chris fragte zögernd. „Wo wohnt Ihr denn?“

      „Nicht weit von hier. Es sind nur zehn Minuten Fußweg.“

      „Aber die Minen?“

      „Wir kennen mehrere Pfade, die minenfrei zu unserem Lager führen.“

      Chris war unschlüssig. „Besser, wir bleiben hier, bevor wir vielleicht auf eine Mine fahren. Was denkst Du?“

      „Gut, dann bleiben wir hier.“

      Er fuhr den Wagen möglichst weit an den Rand des Weges.

      Der H’mong beobachtete ihn, als er den Wagen abschloss.

      „Das war nicht nötig. In zehn Minuten wird es dunkel sein. Nachts kommt hier nie jemand durch, auch keine Soldaten.“

      Verächtlich fügte er hinzu: „Die haben zu viel Angst. Angst vor Minen und vor den Geistern unserer Vorfahren.“

      Er sah Gerhard und Chris in die Augen. „Bleibt genau und dicht hinter mir. Dann kann Euch nichts passieren.“


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