H'mong. Gebhard Friebel

H'mong - Gebhard Friebel


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erstarrte Gerhard vor einem verkrümmten Körper. „Stopp! Da liegt jemand!“

      Ihn packte das Grauen. Nicht weit vor seinen Füßen lag eine Frau. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Offenbar war sie hochschwanger. Quer über ihrem Bauch klaffte eine dreißig Zentimeter lange, tiefe Wunde. Eingeweide und Teile eines Kindes waren mitten im Blut zu erkennen. Die Augen der Frau lagen in dunklen Höhlen. Ab und zu durchlief ein Zucken den Körper.

      Chris wandte sich ab. Gerhard drehte seinen Kopf zur Seite.„Verdammt. “Er schluckte und übergab sich. Gleichzeitig schossen ihm Tränen in die Augen. So etwas war unbegreiflich.

      Der Führer drehte sich um, und betrachtete beide mit verzweifeltem Blick. „Weil sie schwanger war, konnte sie nicht schnell genug weglaufen. Einer der Soldaten hat sie eingeholt, und sofort mit der Machete auf die Frau eingeschlagen. Sie wird bald tot sein.“

      Chris stammelte: „So eine Sauerei. In einer Notfallklinik wäre sie vielleicht noch zu retten. Aber hier...“

      „Vielleicht helfen ihr die Geister des Waldes oder der Berge. “flüsterte der H’mong.

      Zwei weitere Gestalten erschienen: gebückte, ältere Frauen. Sie schlurften heran und betrachteten mit gramvollen Gesichtern die Weißen. Die Deutschen legten eine Bambusstrohmatte neben die verletzte Frau und rollten die Stöhnende unter beruhigendem Murmeln darauf. Sie griffen die Matte an den vorderen Enden und zogen sie langsam über den Boden davon.

      Die Männer schlossen auf. Hinter dem nächsten großen Steingefäß lag leblos mit offenen Augen ein kleiner Junge. Man hatte ihn in den Rücken geschossen. Der Führer hob die Leiche auf seine Arme. „Kommt weiter!“

      Nach weiteren zehn Metern wies er auf zwei auf dem Boden liegende tote Frauen, sie waren ebenfalls erschossen.

      „Können Sie die mitnehmen?“ fragte er.

      Chris und Gerhard nickten. Sie bückten sich, und jeder hob vorsichtig eine tote Frau über seine Schulter.

      „Das ist unfassbar“ murmelte Chris.

      Die Toten waren erstaunlich leicht, sie wogen höchstens vierzig Kilo.

      „Unterernährt“ flüsterte Gerhard.

      Die traurige Karawane zog etwa zehn Minuten weiter zu einer anderen Senke, die durch Büsche von der Straße abgeschirmt war.

      Sie wurden von drei Frauen erwartet, die in leises Schluchzen ausbrachen, als sie die traurige Last erkannten.

      Der H’mong zeigte mit einer Hand nach rechts; die beiden folgten ihm ungefähr fünfzig Meter weit. Hier gab es weder Sträucher noch Bäume. Der Boden war mit Steinen bedeckt. Der Mann blieb stehen, und legte vorsichtig den kleinen, toten Jungen auf den Boden. Mit einer Handbewegung bat er die Weißen, ihre Last daneben zu legen.

      Er bückte sich – und fing an, Steine auf die Leichen zu häufen. Chris und Gerhard taten automatisch das Gleiche.

      Nach fünf Minuten waren die Körper von den Steinen bedeckt. Immer noch mit Tränen in den Augen, schlug Chris ein Kreuz in Richtung des Steinhügels. Mit zusammengebissenen Zähnen kniete Gerhard davor. Seine Stimme klang belegt.

      „Dass die sogar Kinder und Frauen erschießen.“

      Beide schwiegen. Sie gingen langsam zu der hinter Büschen versteckten Senke zurück. Die Frauen hatten unter einer alten Plane ein kleines Feuer entzündet.

      „Wir können nur nachts richtige Feuer machen, und nur unter einer großen Plane. Ihre Flugzeuge kommen manchmal auch bei Dunkelheit,.“ sagte der H’mong müde. „Wenn sie ein Feuer sehen, werfen sie eine Bombe. Manchmal fallen auch Gasgranaten. Wenn wir tagsüber Feuer machen würden, könnten sie den Rauch sehen.“

      Als habe er ein Kommando gegeben, ertönte leises Brummen, das schnell anschwoll.

      Die Frauen zogen die Plane an den Rändern tiefer, so dass das Feuer auch von den Seiten nicht zu sehen war.

      „Hinlegen“ flüsterte der H’mong in dringlichem Ton und legte sich auf den Rücken. „Im Mondlicht könnten sie sehen, dass jemand hier steht.“

      Plötzlich hielt er ein Gewehr in den zitternden Händen. Der Lauf war verrostet; der Schaft von Würmern zerfressen. Er richtete es zum Himmel.

      Chris und Gerhard legten sich neben ihn auf den Rücken, und schauten zum Himmel. In ungefähr 100 Metern Entfernung flog langsam ein kleines, einmotoriges Flugzeug über das Gelände.

      Gegen das fahle Mondlicht konnte man auf der Seite eine aufgemalte, laotische Fahne erkennen. Vorne waren die dunklen Umrisse des Piloten zu sehen. Aus der geöffneten Seitentür drohte silbrig der Lauf eines Maschinengewehres. Das Flugzeug entfernte sich langsam.

      „Zu weit für einen gezielten Schuss, schade. Ich habe schon zwei von diesen Flugzeugen abgeschossen“ bedauerte der H’mong, der sich erhoben hatte.

      „Übrigens, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lia Ler Pao. Der Name Lia bezeichnet unseren Stamm, also den Familiennamen. Ler Pao sind meine Vornamen. Nennt mich einfach Ler, so haben meine Eltern mich auch genannt, bevor sie...“

      Er schwieg wieder.

      Es war ein beredtes Schweigen.

      Beide ahnten, was er noch hatte sagen wollen. Sie nannten ebenfalls ihre Vornamen und schüttelten seine Hand.

      „Das ist das andere Laos. Das, von dem die Touristen nichts wissen.“

      „Wieso sprechen Sie so gut Englisch?“ wollte Chris wissen.

      „Nachdem die Amerikaner ihren Krieg verloren hatten, haben mich meine Eltern nach Bangkok geschickt. Ich sollte Geographie studieren. Aber in Thailand habe ich es nicht ausgehalten. Da waren zu viele Leute.“

      Er setzte sich auf den Boden und betrachtete sein verletztes Bein. Ein heiseres Lachen kam aus seinem Mund. „Ich bin wieder in die Heimat zurückgekehrt, und wollte beim Aufbau meines Landes helfen. Aber die Kommunisten haben mich in ein Umerziehungslager verfrachtet. Von dort bin ich geflohen, hierher. Ich wurde in der Nähe geboren; nicht weit von hier stand mein Elternhaus. Ich fand alles zerstört vor.“

      Deprimiert sah er zu Boden. „Ob von den Amerikanern, oder von den Kommunisten, weiß niemand. Die meisten meiner Verwandten und Freunde waren tot oder verschwunden. Keiner wusste Genaues. So bin ich hier bei dieser Gruppe gelandet. Später fand ich meinen Bruder wieder. Er zog mit uns. Wir gehören fast alle dem Stamm der Lia an. Einige kannten mich noch von früher.“

      Er machte eine kurze Pause. Seine Stimme zitterte.

      „So erging es vielen H’mong. Die meisten sind tot. Oder sie sind ins Ausland gegangen: nach Thailand, Vietnam oder China.“

      Eine der Frauen kam. Sie flüsterte Ler etwas ins Ohr. Er nickte, und schlug die Hände vor die Augen.

      „Die verletzte Frau ist eben gestorben. Ich werde sie auch beerdigen; neben dem kleinen Jungen. Es war ihr Sohn.“

      Gerhard würgte. Das Atmen fiel ihm schwer. Sie war auch tot. Unerträgliche Beklemmung nahm ihm die Luft.

      Er war so überflüssig, dieser Tod. Dieser vielfache Tod!

      Er schluckte, sah Chris an.

      Er hatte den Tod schon oft gesehen. Zu Hause und unterwegs.

      Hundertfach nach einer Überschwemmung in Bangladesh. Tausendfach in Cambodia. In Pol Pot’s Todeslager Tuol Sleng bei Phnom Penh. Tausendfach waren Totenschädel übereinandergestapelt. Viele Meter hoch. Aber das waren nur bleiche Totenschädel. Unpersönlich. Fotografieren und weiterfahren! Tod war immer schlimm, immer schrecklich.

      Der Tod hier war privat; Mutter und Kind; er berührte ihn persönlich. Er versuchte etwas zu sagen. Er konnte nicht und schloss die Augen. Er stand da, die Handballen auf die Ohren gepresst. Die Zeit stand still.

      „Wir helfen Dir“ sagte Chris zu Ler.

      Die drei Männer zogen die Plane mit der Toten


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