H'mong. Gebhard Friebel
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Als beide spät am Abend ins Hotel zurückkamen, ertönten laute Stimmen aus der Bar.
Chris sah Gerhard an, und sagte: „Komm, einer geht noch. Das hört sich nach der Clique um den Sachsen an.“
Sie hatten noch nicht das erste Bier in der Hand, als der ‚Kamikazesachse’ schon näher kam.
Er grüßte freundlich: „Hallo, und wie war euer Tag? Habt Ihr die Krüge besichtigt.“
Chris bestellte ein zusätzliches Bier für ihn. „Wir waren am Anfang der Ebene. Dort haben wir einen Verletzten gefunden, und später mehrere tote Frauen und ein Kind. Das waren H’mong. Sie sind von Soldaten überfallen worden.“
In Sebastian, dem Sachsen, ging eine Veränderung vor sich. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
Chris sah ihm verständnislos ins Gesicht; er fuhr fort: „Wir wollten den Verletzten in ein Krankenhaus bringen. Aber dort wollte er partout nicht hin. Er hatte Angst vor der Polizei und den Soldaten. Die springen hier ganz übel mit diesen Leuten um.“
„Am besten vergesst Ihr das schnell wieder. Das kann Euch großen Ärger bringen. Über diese Leute redet man nicht. Hier jedenfalls nicht!“ Er wandte sich abrupt ab.
Christian legte dem Sachsen, der wieder neben seinen beiden Kollegen stand, die Hand auf die Schulter: „Du bist doch schon länger in diesem Land. Diese H’mong: erzähl’ mir was über sie.“
Der Sachse fuhr herum und zischte wütend: „Kannst Du nicht hören. Man redet nicht darüber. Schluss. Und quatsch’ mich nicht noch mal an. Basta! Sonst knallt’s.“ Seine Augen funkelten böse.
„Habt Ihr mich verstanden? Noch mal zum Mitschreiben: Über diese Leute redet man nicht!“
Die Begleiter des Sachsen hatten zugehört. Sie sahen sich an und standen von ihren Hockern auf. Kopfschüttelnd gingen sie zum Ende der Theke und tuschelten. Der Sachse nahm ihre Gläser von der Theke und folgte ihnen.
Gerhard war der Szene aufmerksam gefolgt und sah Chris verwundert an. „Was hat er denn, der gute Mann?“
„Ziemlich schlechte Nerven.“
„Komm, wir gehen auf’s Zimmer.“
Er legte das Geld für das Bier auf die Theke und verließ, gefolgt von Chris, die Bar.
„Ich verstehe nicht, warum der so ausgerastet ist. Wir gehen morgen früh auf jeden Fall einkaufen. Vielleicht sollten wir hier über diese Leute wirklich mit niemandem reden. Das, was wir vorhin besprochen haben, können wir überschlafen. Bis morgen früh dann.“
Als Christians Zimmertür zufiel, murmelte Gerhard: „Solch ein Elend, solch ein abgrundtiefes Elend.“
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Am nächsten Morgen standen beide schon früh auf. Nach dem Morgenkaffee fuhren sie zu einem der beiden großen Supermärkte. Gerhard öffnete die Tür zum klimatisierten Verkaufsraum. Chris folgte mit einem Einkaufswagen. Eine dichte Wolke undefinierbarer Gerüche, die von fauligem Fischgestank überlagert wurde, schlug ihnen entgegen.
Gerhard atmete durch den Mund ein. „Chris, mach sofort Deine Hose zu. Auf der Stelle!“
„Alt, aber immer noch nicht gut. Lass’ Dir doch gelegentlich einen besseren Witz einfallen!“ sagte Chris grinsend und sah zur Raumdecke, von der tausende getrocknete, aufgeschnittene Fische herabbaumelten. „Sag nur, so etwas willst Du für die armen H’mong kaufen. Die sind schon krank.“
Gerhard ließ sich von der Verkäuferin, die ihnen misstrauisch folgte, zehn dieser getrockneten Fischleichen zusammen mit einem Kilo vertrockneten Octopussen einpacken.
„Sie muss unbedingt eine luftdichte Tüte nehmen“ merkte Chris mit zugehaltener Nase an, „man ist schneller erstunken als ertrunken.“
Er ging eilig weiter. Nach fünf Metern blieb er stehen und fragte Gerhard amüsiert: „Und jetzt?“ Er wies auf über einer Länge von drei Metern nebeneinander ordentlich aufgereiht stehende offene Säcke mit Reis. „Nehmen wir grünen, roten, schwarzen oder gelben? Lang, mittel oder kurz? Da steht auch weißer, dick oder dünn? Oder gesprenkelten? Das sind mindestens dreißig verschiedene Sorten.“
Gerhard betrachtete ratlos die Säcke. „Wir müssen uns entscheiden, ich halte es nicht mehr lange aus,“ sagte er und sah mit gerümpfter Nase auf den Fisch, der auch hier von der Decke baumelte. Er hob wahllos vier zehn Kilogramm schwere Säckchen mit Reis in verschiedenen Farben in seinen Einkaufswagen. „Eine Sorte wird ihnen bestimmt schmecken. Besser als Wurzeln.“
Sie ließen sich noch zehn Tüten nie vorher gesehene Obst- und Gemüsesorten einpacken und gingen in Richtung Kasse.
„Stopp, jetzt hätten wir um ein Haar gefrorene Hähnchen vergessen, Augenblick,“ sagte Chris und verschwand nach hinten. Mit sechs gefrorenen Hühnern, einer Gefrierbox, Milch und Süßigkeiten kam er zurück und legte alles auf die Theke an der Kasse. Die Kassiererin, die in einem dicken Pullover dahinter saß, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
„Für die Kinder,“ sagte er, „Picknick.“
Der Gesichtsausdruck der Dame veränderte sich. Sie lächelte und hämmerte auf eine riesige Tastatur ein. Die Kasse aus der Vorkriegszeit klingelte freudig. „Sechsundneunzig Dollar bitte.“
Gerhard zögerte. „Sechsundneunzig Dollar?“
„Ja, sechsundneunzig Dollar,“ flötete sie.
„Mach schon,.“drängelte Chris.
„Viel zu viel,“ murmelte Gerhard, zahlte aber.
Zu Zweit schoben sie ihren überfüllten Einkaufswagen aus dem Laden zum Auto. Vor dem Geschäft atmeten sie tief durch und verstauten alles im Kofferraum. Gerhard breitete sorgfältig eine dunkle Plane über die Lebensmittel.
„Na denn los,“ meinte Chris mit ungeduldiger Stimme.
„Vielleicht ist es noch zu früh,.“erwiderte Gerhard mit einem Blick auf seine Uhr. „Lass uns bis elf Uhr warten. Wir brauchen eine Stunde bis zur Ebene. Wenn wir jetzt losfahren, müssen wir vielleicht zwei Stunden auf die Leute warten. Wenn uns Soldaten kontrollieren sollten, könnten sie misstrauisch werden. Stell’ Dir mal vor, die schauen in unseren Kofferraum. Wenn einer den Deckel hebt, und unter die Plane sehen will, fällt er tot um. Der Duft von frischem trocknen Fisch, der riecht, als wäre er zweihundert Jahre alt.! Dass wir ein Picknick machen, würden sie nie glauben; nicht in dieser Gegend. Nein, lass uns besser bis elf warten. Wir gehen ein Bier trinken.“
Chris pflichtete nach kurzem Überlegen bei. Sie gingen in ein Gasthaus.
Als sie saßen, meinte Gerhard.: „Das war viel, Chris. Fünfundneunzig Dollar sind drei durchschnittliche Monatsgehälter.“
„Der Supermarkt war modern und westlich. Nicht so eine kleine Bude wie sonst überall: Doppelter Preis. Klimatisiert: Doppelter Preis. Ausländeraufschlag: nochmal doppelter Preis. Und übers Ohr gehauen: wieder doppelter Preis. Summa summarum: Fünfundneunzig Dollar. Was willst Du? Wir haben immerhin grünen und roten Reis in Laos gekauft. Wer kann das schon von sich behaupten? Hat doch was, oder?“
Für alle Fälle nahmen sie ein Paar Flaschen Bier mit auf den Weg, als sie die gastliche Stätte verließen.
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Unterwegs auf dem schmalen Pfad kamen ihnen drei Armeelastwagen entgegen. Zehn Meter vor ihnen hielt der erste LKW an. Der Fahrer bedeutete ihnen durch Handzeichen, nach rechts auszuweichen. Chris fuhr ungefähr zwanzig Zentimeter nach rechts auf den Randstreifen des Weges. Der Fahrer hupte ungeduldig, Er winkte heftig mit dem Arm, weiter auszuweichen. Chris blieb stur stehen.
„Wenn das mal keinen Ärger gibt,“ meinte Gerhard.
„Was ist, wenn da Minen liegen, nee, nee.“
Ein junger Soldat mit