H'mong. Gebhard Friebel
Wenn ihr dort enge Verwandte habt.“
„Sonst müssten wir in Thailand in einem Lager bleiben?“
„Ich habe gestern gelesen, dass es an der Grenze zu Burma acht oder zehn Lager mit Burmesen gibt. Da sind 50‘000 Burmesen eingesperrt. Sie dürfen die Lager ebenfalls nicht verlassen.“
Gerhard stand auf und ging zum Wagen. Er kam mit Zigaretten und einer Landkarte zurück.
Er breitete die Karte auf dem Tisch aus und zeigte auf verschiedene Punkte. „Hier sind diese Lager. Die thailändische Regierung erwägt, die Leute aus den Lagern zu entlassen. Man will sie in der Land- und der Fischwirtschaft arbeiten lassen. Unter dem thailändischen Ministerpräsidenten Thaksin wäre es beinahe dazu gekommen. Aber dann kam vor vier Jahren der Putsch. Thaksin ist jetzt im Ausland.“
Gerhard redete sich in Rage.
„Mensch Ler, überleg‘ mal! In Thailand braucht man Arbeitskräfte. Wenn sie den 50‘000 Burmesen erlauben wollen, zu arbeiten, warum sollten sie das den 20‘000 Laoten verbieten. Ihr habt überdies mit den Thailändern aus dem Norden die gleichen Vorfahren.“
„Das stimmt. Aber: Niemand von uns will in ein Lager!“
„Wenn wir drüben sind, fällt uns vielleicht noch Besseres ein. Ich habe Freunde in Maha Sarakham. Das liegt bei Korat, der größten Stadt des Isaan. Sie werden vielleicht auch helfen. Ihr müsst jedenfalls aus dem Busch raus. Hier kommt Ihr langsam – aber sicher – alle um.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich muss mit dem Ältesten reden. Von ihm hängt jede Entscheidung ab.“
„Gut, rede mit ihm. Aber beeilt Euch bitte. Uns gefällt es von Tag zu Tag weniger in diesem Land. Je mehr man mitbekommt, desto hässlicher wird es. Wir bringen Dich jetzt zurück.“
Ler zog die Jacke von Chris aus.
„Nein, nein.“ Chris weigerte sich. „Behalte die Jacke. Im Hotel habe ich noch eine. Nachts wird es hier kalt. Das haben wir gestern gespürt. Du musst gesund bleiben, wenn ihr fliehen wollt.“
„Danke für Dein Geschenk. Je länger ich über Euren Vorschlag nachdenke, um so besser klingt er. Wir könnten endlich wieder Ruhe und Frieden finden. Vielleicht sogar arbeiten! Es wäre wunderbar. Aber soweit sind wir leider noch nicht. Was wird der Älteste denken? Und die Anderen? Gut wäre es sicher, für uns alle. Wenn ich nachher unserem Führer davon erzähle, werde ich dafür kämpfen. Es geht vor allem um die Zukunft der Kinder! Das müssen, das werden sie einsehen!.“Seine Augen leuchteten hoffnungsfroh.
Sie fuhren zurück.
Als Ler ausstieg, sagte Gerhard: „Können wir uns morgen wieder treffen, am selben Platz wie heute? aber schon um elf Uhr. Macht heute ein großes Festmahl mit den Lebensmitteln, damit Ihr mehr auf die Rippen bekommt. Wir wollen nicht, dass unterwegs jemand von Euch an Unterernährung stirbt. Und wenn Ihr in Thailand seid, gibt es besseres Essen als Wurzeln und Nüsse.“
„Gut.“ Er strahlte. „Dann bis morgen um elf Uhr.“
Er ging gedankenverloren davon.
„Warum schon um elf Uhr morgen früh, statt zwölf Uhr?“ fragte Chris auf der Rückfahrt nach Phonsavan.
„Was ist, wenn die LKW auf dieser Straße auf Routinepatrouille waren? Wenn sie täglich zur selben Zeit hier vorbeikommen? Ich habe keine Lust, den Soldaten noch einmal zu begegnen. Wenn sie uns öfter hier sehen, können sie misstrauisch werden.“
„Verstehe, ganz schön clever. Man merkt doch manchmal, dass Du mit mir verwandt bist!“
Den Rest des Tages schlenderten beide durch Nebenstraßen der trostlosen Stadt. Hier standen nur wenige heruntergekommene Steinhäuser. Von verwaschenen Fassaden, von denen die vergrauten Farben abblätterten oder schon abgewaschen waren, fiel in großen Fladen der Putz ab. Senkrechte und quer verlaufende Risse ließen die Zeiten des Neubaus in weite Vergangenheit rücken.
Die Mehrzahl der Unterkünfte, die phantasielose Menschen aus Holz zusammengezimmert hatten, duckten sich windschief gegen- und auseinander. Vereinzelt dazwischen stehende neuere und alte Automobile konnten den maroden Eindruck der Behausungen nicht vergessen machen.
Windböen, die Strauchbündel und Mülltüten gelegentlich vor Staubwolken her durch schmutzige Straßen trieben, erinnerten an den allgegenwärtigen Sand, der die Landschaft draußen in der Ebene, der Tonkrüge unbarmherzig einem feindlichen Belag überzog.
In den Lücken zwischen den Häusern wartete Müll auf eine Müllabfuhr, die nie kommen würde. Magere Ratten und verwahrloste Hunde durchwühlten die Müllhaufen auf der Suche nach Fressbarem. Lethargischer Zerfall schwebte über diesem Stadtviertel.
Gerhard und Chris hatten einen geöffneten Imbissstand gefunden.
„Durst“ sagte Chris. Ganz schön deprimierend, was?“
„Ähnlich war es in China auf dem Land. Alles war heruntergekommen. Atombomben haben die Chinesen. Aber keinen Pfennig für die armen Leute.“
Eine löchrige Plane, aufgespannt hinter einer roh gezimmerten,schiefen Holzbank, bot teilweisen Schutz gegen Unrat und Staub. Wenige Menschen schlichen mit teilnahmslosen, abweisenden Gesichtern vorbei. Sonst in asiatischen Städten allgegenwärtiges Kinderlachen fehlte. Unter einigen auf Pfählen gebauten Holzhütten schlichen Schweine umher. Sogar deren Quieken klang müde, als warteten sie auf den nahen Tod.
Gerhard und Chris versorgten sich aus einem defektem Kühlschrank mit warmem Bier. Sie legten das Geld dafür auf den Tisch im Innenraum, auf dem der Inhaber döste. Ein müdes Kopfnicken entließ sie.
„Komm trink schneller,“ sagte Gerhard „und dann nix wie weg.“
„Nicht unfreundlich, aber völlig lethargisch, diese Leute,“ konstatierte Chris, als er auf der Straße stand. „Hier könnte ich nicht leben. Was hier fehlt, ist die emsige Geschäftigkeit und das freundliche Lächeln, wie überall in Thailand.“
*****
Am nächsten Morgen machten sich Gerhard und Chris um zehn Uhr auf den Weg. Kein Konvoi, nicht mal ein einzelner Militär LKW war zu sehen.
„Ich bin gespannt, wie sich der Alte entschieden hat. Solch eine Chance wird ihm nie mehr geboten werden.“ Gerhard sagte diese Sätze sehr nachdenklich. „Ob er noch genug Kraft hat, sich für das Leben zu entscheiden?“
Chris blieb stumm.
Am vereinbarten Treffpunkt kamen Ler und der Alte sofort hinter dem nächsten Steinbehälter hervor. Sie nickten zum Gruß und stiegen zu. Sie fuhren zum Rastplatz weiter. Der alte Mann zeigte auf die Bänke.
Als Ler saß, zeigte er auf den Alten. „Er spricht kein englisch, nur etwas französisch von früher. Er ist einer der wenigen, die aus Dièn Bièn Phu zurückgekommen sind.“
Er blickte Gerhard eindringlich an. In scharfem Ton fuhr er fort: „Das weiß niemand. Das darf niemand erfahren. Im Norden machen manchmal Vietnamesen Jagd auf uns. Auch die können und wollen nicht vergessen.“
Chris sah Ler lange an. „Wie steht es bei Euch, wollt Ihr oder wollt Ihr nicht weg?“
Ler räusperte sich und sagte mit fester Stimme: „Versteht bitte Folgendes nicht falsch:“
Er blickte auf den fragil wirkenden alten Mann neben sich. Dessen zerfurchtes Gesicht ließ auf einen Hundertjährigen schließen.
„Unser Ältester will hier bleiben. Er will hier sterben. Er will es aber jedem anderen freistellen, ob er geht oder nicht.“
Seine Stimme klang entschlossen. „Das gilt auch für die Frauen. Ich habe mit allen gesprochen. Alle wollen es wagen, ich auch.“
„Wer wird für den Ältesten sorgen?“
„Er hat gesagt, er spürt, dass er bald sterben wird. Er will sich niemandem in den Weg stellen. Jeder soll das tun, was für ihn am Besten ist. Er will sich auf Wanderschaft