Die Jahre. Virginia Woolf
hing seine Weste sorgfältig über eine Stuhllehne, dann blickte er in den Spiegel und strich seinen Schopf mit der halb bewußten Geste hoch, die seine Schwester immer reizte. Dann lauschte er. Eine Tür fiel draußen zu. Der eine von ihnen war gegangen. Entweder Gibbs oder Ashley. Aber einer, dächte er, war noch da. Er lauschte angestrengt; er hörte jemand im Studierzimmer umhergehn. Sehr schnell, sehr entschlossen drehte er den Schlüsse! im Türschloß. Einen Augenblick später bewegte sich die Klinke.
»Edward!« sagte Ashley. Seine Stimme war leise und beherrscht.
Edward gab keine Antwort.
»Edward!« sagte Ashley und rüttelte an der Klinke. Die Stimme klang scharf und flehend.
»Gute Nacht«, sagte Edward kurz. Er lauschte. Es folgte eine Stille. Dann hörte er, wie sich die andre Tür schloß. Ashley war gegangen.
Herrgott! Was für einen Krach das morgen geben wird! sagte sich Edward, ans Fenster tretend und in den Regen hinaussehend, der noch immer fiel.
Die Gesellschaft in der Lodge war zu Ende. Die Damen standen in der Haustür, in ihren wallenden Abendkleidern, und blickten zum Himmel auf, von dem ein sanfter Regen fiel.
»Ist das eine Nachtigall?« fragte Mrs. Larpent, die einen Vogel im Gebüsch zwitschern hörte. Der alte Chuffy – der große Dr. Andrews – ein wenig hinter ihr, den gewölbten Schädel in das Nieseln vorgestreckt und das bärtige, kraftvolle, aber wenig einnehmende Gesicht aufwärts gewendet, stieß ein schallendes Gelächter aus. Es sei eine Drossel, sagte er. Das Gelächter widerhallte wie ein Hyänenlachen von den Steinmauern. Dann zog Mrs. Larpent, und machte dabei eine von jahrhundertealter Tradition diktierte Handbewegung, ihren Fuß zurück, als hätte sie gegen eins der Kreidezeichen verstoßen, welche die Türstürze akademischer Würdenträger zieren, und mit dieser Andeutung, daß Mrs, Lathom, die Frau des Theologieprofessors, ihr vorangehn möge, traten sie in den Regen hinaus.
In dem länglichen Salon der Lodge standen die noch Anwesenden beisammen.
»Ich freue mich so, daß Chuffy – Dr. Andrews – Ihren Erwartungen entsprochen hat«, sagte Mrs. Malone auf ihre höfliche Art. Als im College Wohnende nannte sie den berühmten Mann »Chuffy«; für Besucher aus Amerika war er Dr. Andrews.
Die andern Gäste waren gegangen. Aber die Howard Fripps, die Amerikaner, waren Logiergäste. Mrs. Howard Fripp sagte, Dr. Andrews sei geradezu bezaubernd zu ihr gewesen. Und ihr Mann, der Professor, sagte etwas ebenso Höfliches zu Dr. Malone, dem »Meister« des College. Kitty, die Tochter des Hauses, ein wenig im Hintergrund stehend, wünschte, sie würden endlich alle ein Ende machen und zu Bett gehn. Aber sie mußte hier stehn, bis ihre Mutter das Zeichen zum Aufbruch gäbe.
»Ja, ich habe Chuffy nie in besserer Form gesehn«, setzte ihr Vater das Gespräch fort, mit einem versteckten Kompliment für die Dame aus Amerika, die eine solche Eroberung gemacht hatte. Sie war klein und lebhaft, und Chuffy hatte es gern, wenn Damen klein und lebhaft waren.
»Ich schwärme für seine Bücher«, sagte sie mit ihrer wunderlichen näselnden Stimme. »Aber ich hätte nie erwartet, das Vergnügen zu haben, einmal beim Abendessen neben ihm zu sitzen.«
Gefiel es dir wirklich, wie er beim Reden spuckte? dachte Kitty, während sie sie betrachtete. Sie war außerordentlich hübsch und munter. Alle diese andern Weiber hatten neben ihr salopp und schwerfällig ausgesehn, ihre Mutter ausgenommen. Denn Mrs. Malone, die jetzt, den einen Fuß auf der Kamineinfassung, vor dem Feuer stand, sah mit ihren wie gedrechselten Locken knusprigen weißen Haars nie modisch und nie unmodisch aus; Mrs. Fripp dagegen ganz nach der Mode.
Und doch machten sie sich über sie lustig, dachte Kitty. Sie hatte die Oxforder Damen dabei ertappt, wie sie die Brauen hochzogen bei einigen von Mrs. Fripps amerikanischen Redewendungen. Aber Kitty gefielen ihre Redewendungen; sie waren so anders als das, was sie gewohnt war. Sie war Amerikanerin, eine wirkliche Amerikanerin; aber niemand hätte ihren Mann für einen Amerikaner gehalten, dachte Kitty mit einem Blick auf ihn. Er hätte irgendein Professor sein können, von irgendeiner Universität, dachte sie, mit seinem vornehmen, runzeligen Gesicht, seinem Bocksbärtchen und dem schwarzen Bändchen seines Einglases, das über die Hemdbrust herabhing, als wäre es ein ausländischer Orden. Er sprach ohne jeden Akzent – zumindest ohne jeden amerikanischen. Doch auch er war irgendwie anders. Ihr Taschentuch war ihr heruntergefallen. Er bückte sich sogleich und reichte es ihr mit einer Verneigung, die fast zu höflich war – es machte sie verlegen. Sie neigte den Kopf und lächelte den Professor ziemlich scheu an, als sie das Taschentuch entgegennahm.
»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte sie. Er gab ihr das Gefühl, linkisch zu sein. Neben Mrs. Fripp kam sie sich noch größer als sonst vor. Und ihr Haar, vom echten Rot der Rigbys, lag nie glatt, wie es hätte liegen sollen. Mrs. Fripps Haar sah wunderschön aus, voll Glanz und ordentlich.
»Und nun«, sagte Mrs. Malone mit einem Blick auf Mrs. Fripp, »nun, meine Damen–?« und schwenkte die Hand.
Es lag Autorität darin – als hätte sie das oft und oft getan; und als hätte man ihr oft und oft gehorcht. Sie ging zur Tür. Heute abend kam es dort zu einer kleinen Zeremonie. Professor Fripp neigte sich sehr tief über Mrs. Malones Hand, nicht ganz so tief über Kittys Hand, und hielt die Tür für sie beide weit offen.
Er übertreibt ein wenig, dachte Kitty, als sie hinausgingen.
Die Damen nahmen ihre Kerzenleuchter und gingen hintereinander die breiten, niedrigen Stufen der Treppe hinauf. Porträts früherer Vorsteher des Katharine College blickten auf sie herab, wie sie so hinaufgingen. Das Licht der Kerzen flackerte über die dunkeln, goldgerahmten Gesichter, als sie Stufe nach Stufe hinaufstiegen.
Jetzt wird sie stehnbleiben, dachte Kitty, die als letzte folgte, und fragen, wer das ist.
Aber Mrs. Fripp blieb nicht stehn. Kitty gab ihr Gutpunkte dafür. Sie stach vorteilhaft von den meisten Besuchen ab, dachte Kitty. Sie hatte die Bodleiana noch nie ganz so schnell absolviert wie an diesem Vormittag. Tatsächlich hatte sie sich ziemlich schuldbewußt gefühlt. Es hätte noch viel mehr zu sehn gegeben, wenn sie gewollt hätten. Aber nach kaum einer Stunde Besichtigens hatte Mrs. Fripp sich zu Kitty gewendet und mit ihrer fesselnden, wenn auch näselnden Stimme gesagt: »Nun, meine Liebe, ich schätze, Sie haben genug vom Sehenswürdigkeiten– zeigen, – was würden Sie zu einem Eis sagen, in dem entzückenden alten Kuchenladen mitden gebauchten Fenstern? «
Und sie hatten Eis gegessen, statt, wie sie hätten sollen, den ganzen Rundgang durch die Bibliothek zu machen.
Die Prozession hatte jetzt den ersten Treppenabsatz erreicht, und Mrs. Malone blieb in der Tür des berühmten Zimmers stehn, wo hervorragende Gäste stets schliefen, wenn sie in der Lodge wohnten. Sie warf einen Blick rundum, während sie die Tür offenhielt.
»Das Bett, in dem Königin Elisabeth nicht geschlafen hat«, sagte sie, ihren gewohnten kleinen Scherz machend, als sie alle auf das große Himmelbett blickten. Ein Feuer brannte im Kamin; der Wasserkrug war eingewickelt wie ein altes Weib, das Zahnweh hat; und die Kerzen auf dem Toilettetisch waren angezündet. Heute abend aber hatte das Zimmer etwas Fremdartiges, dachte Kitty, die der Mutter über die Schulter blickte; ein Schlafrock schimmerte grün und silbern auf dem Bett. Und auf dem Toilettetisch standen eine Anzahl kleiner Tiegel und Flakons und eine große, rosa bestäubte Puderquaste. War es möglich, war vielleicht das der Grund, daß Mrs. Fripp gar so frisch und die Oxforder Damen gar so welk aussahn, – daß Mrs. Fripp sich –. Aber Mrs. Malone fragte: »Sie haben doch alles, was Sie brauchen?« mit solch äußerster Höflichkeit, daß Kitty erriet, auch ihre Mutter habe den Toilettetisch bemerkt. Kitty streckte die Hand aus. Zu ihrer Überraschung zog Mrs. Fripp sie, statt die Hand zu ergreifen, zu sich herab und küßte sie.
»Tausend Dank dafür, daß Sie mir alle diese Sehenswürdigkeiten gezeigt haben«, sagte sie. »Und vergessen Sie nicht, Sie kommen auf Besuch zu uns nach Amerika«, fügte sie hinzu. Denn ihr gefiel das große scheue Mädchen, das es so offenkundig vorgezogen hatte, Eis zu essen, statt ihr die Bodleiana zu zeigen; und aus irgendeinem Grund hatte Kitty ihr auch leid getan»
»Gute Nacht, Kitty«, sagte ihre Mutter, als sie die