Die Jahre. Virginia Woolf
rollten sie zum untern Rand der Fensterscheibe.
Es regnete. Ein feiner Regen, ein sachter Schauer, besprengte das Pflaster und machte es speckig. War es der Mühe wert, einen Schirm aufzuspannen, war es nötig, ein Hansom herbeizurufen, fragten sich die Leute, die aus den Theatern kamen, und blickten zu dem milden, milchigen Himmel auf, an dem die Sterne matt geworden waren. Wo der Regen auf Erde fiel, auf Gärten und Wiesen, zog er den Geruch der Erde hervor. Hier hing ein Tropfen an einem Grashalm, dort füllte einer einen Blütenkelch; bis ein Windhauch sich regte und sie versprühte. War es der Mühe wert, unter dem Weißdorn, an der Hecke Schutz zu suchen, schienen die Schafe zu fragen; und die Kühe, schon auf den grauen Wiesen gelassen, weideten weiter längs den blassen Hecken oder kauten schläfrig, indes die Regentropfen ihnen übers Fell rannen. Auf Dächer herab fielen sie – hier in Westminster, dort in der Ladbroke Grove; auf dem weiten Ozean stachen Millionen Spitzen, unzählbar wie aus einer Brause, das blaue Ungeheuer. Über die riesigen Kuppeln, die ragenden Türme schlummernder Universitätsstädte, über die bleigedeckten Bibliotheken und die Museen, die nun in braunes Rohleinen gehüllten, lief der linde Regen herab, bis er sich, die Mäuler dieser phantastischen Lacher, der vielkralligen Wasserspeier erreichend, aus tausend breiten Zahnlücken ergoß. Ein Betrunkener, der in einem engen Gäßchen vor der Kneipe ausglitt, verfluchte ihn. Frauen in den Wehen hörten den Arzt zur Hebamme sagen: »Es regnet.« Und die bummernden Glocken von Oxford, die sich hin- und herwälzten wie träge Tümmler in einem Meer von Öl, stimmten bedächtig ihre musikalischen Zauberformeln an. Der feine Regen, der sanfte Regen ergoß sich gleichermaßen über die Infulierten und die Barhäuptigen, mit einer Unparteilichkeit, die andeutete, daß sich der Gott des Regens, wenn es einen gab, dachte: Laß ihn nicht beschränkt sein auf die Hochweisen, die Hochmächtigen, sondern laß alles, was da atmet, die Weidenden und die Wiederkäuenden, die Unwissenden und die Unglücklichen, alle, die sich am Brennofen mühen und unzählige Abbilder desselben Topfes formen, alle, die sich mit glühheißem Geist durch krause Buchstaben bohren, und auch Mrs. Smith im Hintergäßchen teilhaben an meinem Überfluß.
Es regnete in Oxford. Sachte, beharrlich fiel der Regen und gurgelte und gluckste leise in den Rinnsteinen. Edward, der sich aus dem Fenster beugte, konnte die vom fallenden Regen geweißten Bäume im Garten des College grade noch sehen. Bis auf das Rascheln der Bäume und das Rieseln des Regens war es völlig still. Ein feuchter, erdiger Geruch kam herauf von dem nassen Boden. Lampen wurden da und dort in der dunkeln Masse des College entzündet; und in dem einen Winkel war ein blaßgelblicher Hügel, wo das Lampenlicht auf einen blühenden Baum fiel. Das Gras wurde unsichtbar, flüssig, grau wie Wasser.
Er tat einen tiefen Atemzug der Befriedigung. Von allen Augenblicken des Tages war ihm dieser der liebste, wenn er so am Fenster stand und in den Garten hinaussah. Wieder atmete er die kühle, feuchte Luft ein und richtete sich dann auf und wandte sich ins Zimmer zurück. Er arbeitete sehr fleißig. Sein Tag war nach dem Rat seines Studienleiters in Stunden und halbe Stunden aufgeteilt; aber es blieben ihm doch noch fünf Minuten, bevor er beginnen müßte. Er schraubte den Docht der Leselampe hoch. Es war zum Teil das grüne Licht, das ihn ein wenig blaß und mager aussehen ließ. Aber er war sehr hübsch. Mit seinen klaren Zügen und dem blonden Haar, das er mit einer schnellen Bewegung seiner Finger zu einem Schopf hochstrich, sah er aus wie ein griechischer Jüngling auf einem Fries. Er lächelte. Er dachte, während er dem Regen zusah, daran, wie nach der Unterredung zwischen seinem Vater und seinem Studienleiter, bei der der alte Harbottle gesagt hatte: »Ihr Sohn hat Aussichten«, sein Alter Herr darauf bestanden hatte, sich die Bude anzusehn, die auch schon sein Vater bewohnt hatte, als er im College Student war. Sie waren hineingeplatzt und hatten einen Burschen namens Thompson dabei angetroffen, wie er kniend das Feuer mit einem Blasbalg anfachte.
»Mein Vater hatte diese Zimmer, Sir«, hatte der Oberst gewissermaßen als Entschuldigung gesagt. Der junge Mann War sehr rot geworden und hatte geantwortet: »Oh, das macht nichts.« Edward lächelte. »Oh, das macht nichts«, wiederholte er. Es war Zeit anzufangen. Er schraubte den Docht ein wenig höher. Als die Lampe heller brannte, sah er seine Arbeit in einem scharfen Kreis klaren Lichts aus dem umgebenden Dämmer herausgeschnitten. Er blickte auf die Lehrbücher, auf die Lexika, die vor ihm lagen. Er hegte immer etliche Zweifel, bevor er anfing. Der Vater würde sich schrecklich kränken, wenn er nicht mit Auszeichnung bestünde; sein Herz hing daran. Er hatte ihm ein Dutzend Flaschen feinen alten Portweins geschickt, »als Steigbügeltrunk«, so hatte er gesagt. Aber jedenfalls war sie Marsham so gut wie sicher; und da war noch der gescheite kleine Judenjunge aus Birmingham – doch es war Zeit anzufangen. Eine nach der andern begannen die Glocken von Oxford ihr langsames Geläut durch die Luft zu schieben. Sie läuteten gewichtig, ungleichmäßig, als müßten sie die Luft aus dem Weg rollen und die Luft wäre schwer. Er liebte den Klang der Glocken. Er lauschte, bis der letzte Schlag verhallt war; dann zog er den Stuhl an den Tisch; es war Zeit; er mußte nun arbeiten.
Eine kleine Einkerbung zwischen seinen Brauen vertiefte sich. Er runzelte die Stirn beim Lesen. Er las; und er machte sich eine Aufzeichnung; dann las er weiter. Alle Klänge waren ausgelöscht. Er sah nichts als das Griechische da vor sich. Aber während er las, erwärmte sich sein Gehirn allmählich; er war sich bewußt, daß alles in seiner Stirn sich regte und spannte. Er erfaßte Phrase nach Phrase genau, fest; genauer, so gewahrte er, während er eine kurze Anmerkung an den Rand schrieb, als gestern abend. Kleine, nebensächliche Wörter enthüllten nun Bedeutungsschattierungen, die den Sinn abänderten. Er machte wieder eine Anmerkung; das war der Sinn. Seine Geschicklichkeit, mit der er ihn im Kern zu fassen kriegte, verursachte ihm ein jähes Gefühl der Erregung. Da hatte er ihn, säuberlich und vollständig. Aber er mußte genau sein; präzis; sogar seine kleinen hingekritzelten Anmerkungen mußten klar wie Kristall sein. Er griff nach diesem Buch hier; dann nach jenem dort. Dann lehnte er sich zurück, die Augen geschlossen, um besser zu sehen. Er durfte nichts in Verschwommenheit wegschwinden lassen. Die Uhren begannen zu schlagen. Er lauschte. Die Uhren schlugen weiter. Die Linien, die sich in sein Gesicht eingegraben hatten, erschlafften; er lehnte sich zurück; seine Muskeln entspannten sich; er blickte von seinen Büchern in das Dämmer auf. Er hatte ein Gefühl, als hätte er sich nach einem Wettlauf auf den Rasen geworfen. Aber für einen Augenblick schien es ihm, als liefe er noch immer; sein Geist eilte ohne das Buch weiter. Er reiste allein, ohne Belastung, durch eine Welt reinen Sinns; aber allmählich verlor sie ihren Sinn. Die Bücher an der Wand traten hervor. Er sah die rahmfarbene Holztäfelung; ein Büschel Mohnblumen in einer blauen Vase. Der letzte Stundenschlag war verklungen. Er seufzte und erhob sich vom Tisch.
Er stand wieder am Fenster. Es regnete, aber das Weißliche war verschwunden. Nur da und dort schimmerte ein nasses Blatt, sonst war der Garten jetzt ganz dunkel – der gelbliche Hügel des blühenden Baums war verschwunden. Niedrig hingestreckt umgaben die College-Gebäude den Garten, hier rot gefleckt, dort gelb gefleckt, wo Licht hinter Vorhängen brannte; und dort lag die Kapelle, ihre Masse vor den Himmel gehäuft, der im Regen leise zu zittern schien. Aber es war nicht mehr still. Er lauschte; es war kein Laut im besondern zu hören; aber während er so stand und hinaus sah, summte das Gebäude von Leben. Ein plötzliches lautes Gelächter erklang; dann das Geklimper eines Klaviers; dann ein unbestimmtes Plappern und Klappern – zum Teil von Porzellan; dann wieder das Geräusch fallenden Regens und das Kichern und Glucksen, mit dem die Rinnsteine das Wasser aufsaugten. Er wandte sich ins Zimmer zurück.
Es war frostig geworden; das Feuer war fast erloschen; nur ganz wenig Rot glühte unter der grauen Asche. Er erinnerte sich des sehr gelegenen Geschenks von seinem Vater; der Wein war diesen Morgen gekommen. Erging zu dem Wandtischchen und schenkte sich ein Glas Portwein ein. Als er es gegen das Licht hielt, lächelte er. Er sah wieder die Hand seines Vaters, mit zwei glatten Stümpfen statt Fingern, das Glas, wie er es stets tat, gegen das Licht halten, bevor er trank.
»Man kann nicht kalten Bluts einem Kerl das Bajonett durch den Leib rennen«, hatte, so erinnerte er sich, sein Vater gesagt.
»Und man kann nicht ins Examen steigen, ohne zu trinken«, sagte Edward. Er zögerte; er hielt, seinen Vater nachahmend, das Glas gegens Licht. Dann nippte er. Er stellte das Glas auf den Tisch vor sich hin. Er wandte sich wieder der »Antigone« zu. Er las; dann nippte er; dann las er; dann nippte er abermals. Ein sanftes Glühn verbreitete sich über sein Rückgrat bis ins Genick. Der Wein schien kleine trennende Türen in seinem Gehirn