Die Jahre. Virginia Woolf
einer Erinnerung nachzuhängen.
»Der liebe kleine Bub ist gestorben, aber abgesehn davon ... « Wieder hielt sie inne. Sie schien heute abend schwächer zu sein, dachte Delia, und etwas wie Freude sprang in ihr auf. Die Sätze waren noch unzusammenhängender als sonst. Welcher kleine Bub war gestorben? Sie begann die Wülste der Steppdecke zu zählen, während sie wartete, daß ihre Mutter weiterspreche.
»Weißt du, alle Cousinen und Cousins pflegten im Sommer zusammenzukommen«, nahm ihre Mutter den Faden plötzlich wieder auf. »Dein Onkel Horace ... «
»Der mit dem Glasaug’?« fragte Delia.
»Ja, er hat sich das Aug’ auf dem Schaukelpferd verletzt. Die Tanten hielten so viel von Horace. Sie sagten immer ... « Nun kam eine lange Pause. Sie schien zu tasten, um die genauen Worte zu finden.
»Wenn Horace kommt ... vergiß nicht, ihn wegen der Eßzimmertür zu fragen.«
Eine seltsame Belustigung schien Mrs. Pargiter zu erfüllen. Sie lachte tatsächlich. Sie mußte wohl an einen Familienscherz von einst denken, vermutete Delia, als sie dieses Lächeln flackern und verschwinden sah. Dann war völlige Stille. Ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen; die Hand mit dem einzigen Ring, diese weiße, abgezehrte Hand, ruhte auf der Steppdecke. In der Stille konnte sie ein Stückchen Kohle zwischen den Roststäben klickern hören und draußen das Plärren eines Hausierers die Straße entlang. Mrs. Pargiter sagte nichts mehr. Sie lag vollkommen still. Dann seufzte sie tief.
Die Tür öffnete sich; die Pflegerin trat ein. Delia erhob sich und ging. Wo bin ich? fragte sie sich und starrte dabei auf einen weißen Krug, der von der untergehenden Sonne rosig getönt war. Einen Augenblick lang schien sie in einem Grenzland zwischen Leben und Tod zu sein. Wo bin ich? fragte sie sich, den rosa Krug anstarrend; denn alles sah seltsam aus. Dann hörte sie im obern Stockwerk Wasser rauschen und kleine Füße trappeln.
»Da bist du ja, Rosie«, sagte Nannie und sah vom Rad der Nähmaschine auf, als Rose eintrat.
Das Kinderzimmer war hell erleuchtet; auf dem Tisch stand eine Lampe ohne Schirm. Mrs. C., die jede Woche mit der Wäsche kam, saß in dem Lehnstuhl, eine Teetasse in der Hand. »Geh und hol deine Näharbeit wie ein braves Mädel!« sagte Nannie, als Rose Mrs. C. die Hand reichte. »Oder du wirst nie damit fertig werden bis zu Papas Geburtstag«, fügte sie hinzu und räumte auf dem Tisch einen Platz frei.
Rose zog die Tischlade auf und nahm den Schuhsack heraus, den sie für den Geburtstag ihres Vaters mit einem Muster blauer und roter Blumen bestickte. Es waren noch mehrere Büschel kleiner, mit Bleistift vorgezeichneter Rosen auszufüllen. Sie breitete ihn auf den Tisch und betrachtete ihn, während die Kinderfrau weiter Mrs. C. von Mrs. Kirbys Tochter erzählte. Aber Rose hörte nicht zu.
Dann werd’ ich allein gehn, entschied sie und strich den Schuhsack glatt. Wenn Martin nicht mit mir kommen will, dann werd’ ich allein gehn.
»Ich hab’ meine Nähschachtel unten im Wohnzimmer gelassen«, sagte sie.
»Na, dann geh und hol sie dir!« sagte Nannie achtlos; sie wollte fortsetzen, was sie Mrs. C, über die Tochter des Grünzeughändlers erzählt hatte.
Nun hat das Abenteuer begonnen, sagte sich Rose, als sie auf den Zehenspitzen zum Kinderschlafzimmer schlich. Nun mußte sie sich mit Munition und Proviant versehn; sie mußte Nannie den Hausschlüssel stibitzen; aber wo war der? Jeden Tag wurde er an einem andern Platz versteckt, aus Furcht vor Einbrechern. Er wäre entweder unter dem Taschentuchbehälter oder in der kleinen Schachtel, wo Nannie die goldene Uhrkette ihrer Mutter aufbewahrte. Und da war er auch. Nun hatte sie ihre Pistole und ihr Pulver und Blei, dachte sie, während sie ihre eigne Geldbörse aus ihrer eignen Lade nahm, und genug Proviant, dachte sie, als sie ihren Hut und Mantel über den Arm hängte, für zwei Wochen.
Sie schlich sich am Kinderzimmer vorbei die Treppe hinunter. Sie lauschte angestrengt, als sie an der Lernzimmertür vorbeikam. Sie mußte vorsichtig sein und nicht auf einen dürren Ast treten und kein Zweiglein unter ihrem Tritt knacken lassen, sagte sie sich, während sie auf den Zehenspitzen dahinging. Wieder blieb sie stehn und lauschte, als sie an der Tür von Mamas Schlafzimmer vorbeikam. Alles war still. Dann stand sie einen Augenblick auf dem Treppenabsatz und blickte in die Halle hinab. Der Hund lag auf der Matte und schlief; die Luft war rein; die Halle war leer. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Stimmengemurmel.
Sie öffnete die Haustür mit größter Behutsamkeit und schloß sie hinter sich mit kaum einem Klicken. Bis sie um die Ecke war, duckte sie sich dicht an der Mauer entlang, damit niemand sie sehn könne. Als sie die Ecke unter dem Goldregenstrauch erreichte, richtete sie sich auf.
»Ich bin Pargiter von Pargiters Reiterei«, sagte sie, die Hand schwenkend, als zöge sie einen Säbel, »und ich reite zum Entsatz!«
Sie ritt bei Nacht auf eine verzweifelte Unternehmung, zu einer belagerten Garnison, sagte sie sich. Sie hatte einen geheimen Rapport – sie krampfte die Faust um ihre Börse – dem General persönlich zu überbringen. Das Leben aller hing davon ab. Die britische Flagge flatterte noch immer auf dem Mittelturm – Lamleys Laden war der Mittelturm; der General stand auf dem Vordach von Lamleys Laden, das Fernrohr am Auge. Das Leben aller hing davon ab, daß sie durch Feindesland zu ihnen ritt. Und hier galoppierte sie nun durch die Wüste. Sie begann zu hopsen. Es wurde dunkel. Die Straßenlaternen wurden angezündet; der Laternenanzünder steckte seine Stange durch das Falltürchen hinauf. Die Bäume in den Vorgärten warfen ein schwankendes Netzwerk von Schatten auf den Gehsteig; der Gehsteig erstreckte sich breit und dunkel vor ihr. Dann kam der Straßenübergang; und dann kam Lamleys Laden auf der kleinen Insel von Kaufläden gegenüber. Sie brauchte bloß die Wüste zu durchqueren, den Fluß zu durchfurten, und sie war in Sicherheit. Die Hand schwenkend, die die Pistole hielt, gab sie ihrem Pferd die Sporen und galoppierte die Melrose Avenue entlang. Als sie an der Briefkastensäule vorbeilief, tauchte unter der Gaslaterne plötzlich die Gestalt eines Mannes auf.
»Der Feind!« rief Rose sich zu. »Der Feind! Bums!« rief sie, zog am Hahn ihrer Pistole ab und sah ihm voll ins Gesicht, als sie an ihm vorbeikam. Es war ein abscheuliches Gesicht: bleich, wie abgeschält, blatternarbig; es grinste sie schauerlich an. Er streckte den Arm aus, als wollte er sie aufhalten. Fast hätte er sie erwischt. Sie raste an ihm vorbei. Das Spiel war aus.
Sie war wieder sie selbst, ein kleines Mädel, das seiner Schwester nicht gehorcht hatte, in Hausschuhen, und nun in Lamleys Laden Zuflucht suchend.
Mrs. Lamley mit ihrem frischen Gesicht stand hinter dem Ladentisch und faltete die Abendzeitungen. Sie überdachte, hier zwischen ihren Zweipenny-Uhren, auf Karton aufgenähten Scheren und Nagelfeilen, den Spielzeugschiffchen und Schachteln billigen Briefpapiers, irgend etwas Angenehmes, wie es schien, denn sie lächelte. Da stürzte Rose herein. Fragend sah Mrs. Lamley auf.
»Hallo, Rosie!« rief sie. »Was willst du denn, mein Kind?«
Sie ließ die Hand auf dem Stoß Zeitungen ruhn. Rose stand da und keuchte. Sie hatte vergessen, weswegen sie gekommen war.
»Ich möcht’ die Schachtel mit den Enten in der Auslage«, erinnerte sich Rose endlich.
Mrs. Lamley watschelte hinter dem Ladentisch hervor, um sie zu holen.
»Ist’s nicht eigentlich sehr spät für ein kleines Mädel wie dich, um allein aus zu sein?« fragte sie und sah sie an, als wüßte sie, daß sie in Hausschuhen gekommen war und ihrer Schwester nicht gehorcht hatte.
»Gute Nacht, mein Kind, und jetzt lauf schön nach Haus!« sagte sie, als sie ihr das Päckchen reichte. Die Kleine schien auf der Schwelle zu zögern; sie stand da und starrte auf die Spielsachen unter der Petroleum-Hängelampe; dann trat sie widerstrebend auf die Straße hinaus.
Ich hab’ meine Botschaft dem General persönlich überbracht, sagte sie sich, als sie wieder draußen auf dem Gehsteig stand. Und das ist die Trophäe, sagte sie, die Schachtel fest unter den Arm klemmend. Ich kehre im Triumph zurück, mit dem Kopf des Haupträdelsführers, sagte sie sich, das Stück der Melrose Avenue vor sich überblickend. Ich muß meinem Pferd die Sporen geben und galoppieren. Aber die Geschichte wirkte nicht mehr. Die Melrose Avenue blieb die Melrose