Die Jahre. Virginia Woolf
stand auf und ging, wobei er die Hand zögernd über die Stühle und Tischchen gleiten ließ, wie um seinen Abgang hinauszuschieben. Er schloß die Tür ziemlich geräuschvoll hinter sich. Der Oberst erhob sich und stand hoch aufgerichtet, in seinem eng zugeknöpften Gehrock.
»Auch ich muß gehn«, sagte er. Aber er hielt einen Augenblick inne, als gäbe es nichts Besonderes, zu dem er zu gehn hatte. Er stand sehr aufrecht unter ihnen, als wollte er irgendeinen Befehl erteilen, vermöchte sich aber im Augenblick keines zu entsinnen, den er erteilen könnte. Dann entsann er sich.
»Ich wollte, eine von euch«, sagte er unparteiisch zu seinen Töchtern, »würde daran denken, an Edward zu schreiben ... Sagt ihm, er soll Mama einen Brief schreiben.«
»Ja«, sagte Eleanor.
Er ging auf die Tür zu. Aber wieder blieb er stehn.
»Und laßt es mich wissen, sobald Mama mich zu sprechen wünscht«, warf er hin. Dann hielt er inne und zwickte seine jüngste Tochter ins Ohrläppchen.
»Kleiner Schmierfink«, sagte er und wies auf den grünen Fleck auf ihrer Schürze. Sie bedeckte ihn mit der Hand. An der Tür blieb er abermals stehn.
»Vergeßt nicht«, sagte er, am Türknauf herumtastend, »vergeht nicht, an Edward zu schreiben.« Endlich hatte er den Türknauf gedreht und war gegangen.
Sie schwiegen alle. Eine gewisse Spannung lag in der Luft, so fühlte Eleanor. Sie griff nach einem der Büchlein, die sie mitgebracht hatte, und legte es geöffnet auf ihr Knie. Aber sie sah nicht hinein. Ihr Blick richtete sich fast geistesabwesend in das andre Zimmer. Die Bäume im Hintergarten begannen auszuschlagen; kleine Blättchen, kleine ohrenförmige Blättchen zeigten sich an den Sträuchern. Die Sonne schien mit Unterbrechungen; sie versteckte sich und kam wieder hervor, beleuchtete bald dies, bald –
»Eleanor«, unterbrach Rose ihre Gedanken. Sie hielt sich auf eine Art, die wunderlich der des Vaters glich.
»Eleanor!« wiederholte sie leise, denn ihre Schwester hatte es nicht beachtet.
»Ja?« sagte Eleanor und sah sie an.
»Ich möchte zu Lamley gehn«, sagte Rose. Sie war das Abbild ihres Vaters, wie sie so dastand, die Hände auf dem Rücken.
»Es ist zu spät, um zu Lamley zu gehn«, entgegnete Eleanor.
»Die schließen nicht vor sieben.«
»Dann bitte Martin, daß er mit dir geht«, sagte Eleanor.
Das kleine Mädchen schob sich langsam der Tür zu. Eleanor griff wieder nach ihren Haushaltungsbüchern.
»Aber du darfst nicht allein gehn, Rose; du darfst nicht allein gehn«, sagte sie, von ihnen auf blickend, als Rose die Tür erreichte. Rose nickte wortlos und verschwand.
Sie ging die Treppe hinauf. Vor dem Schlafzimmer ihrer Mutter blieb sie stehn und schnupperte den süßsäuerlichen Geruch, der um die Krüge, die Gläser, die zugedeckten Schalen zu hängen schien, die da auf dem Tisch neben der Tür standen. Noch eine Treppenflucht, und sie hielt vor dem Lernzimmer inne. Sie wollte nicht hineingehn, denn sie hatte mit Martin gestritten. Sie hatten zuerst wegen Erridge gestritten und wegen des Mikroskops und dann wegen des Schießens auf die Katzen von Miss Pym nebenan. Aber Eleanor hatte ihr befohlen, ihn zu bitten. Sie öffnete die Tür.
»Hallo, Martin –« begann sie.
Er saß am Tisch, ein Buch vor sich aufgestützt, und murmelte – vielleicht war es Griechisch, vielleicht war es Latein.
»Eleanor hat mir aufgetragen – « begann sie und merkte, wie gerötet seine Wangen waren und wie sich seine Hand um ein Stückchen Papier schloß, als wollte er es zu einer Kugel zusammenknüllen. »Ich soll dich bitten ... « begann sie abermals und straffte sich, den Rücken an die Tür gestemmt.
Eleanor lehnte sich im Sessel zurück. Die Sonne lag jetzt auf den Bäumen im Hintergarten. Die Knospen begannen zu schwellen. Freilich ließ das Frühlingslicht deutlicher sichtbar werden, wie abgenützt die Sesselpolsterungen waren. Der große Lehnstuhl hatte einen dunkeln Fleck, wo ihr Vater den Kopf anzulehnen pflegte, so gewahrte sie. Aber wieviele Stühle es hier gab – wie geräumig, wie luftig es hier war, nach diesem Schlafzimmer, wo die alte Mrs. Levy ... Doch Milly und Delia sprachen kein Wort. Wohl wegen der Abendgesellschaft, erinnerte sie sich. Welche von ihnen sollte gehn? Beide wollten sie hingehn. Sie wünschte, die Leute würden nicht sagen: »Bringen Sie eine von Ihren Töchtern mit.« Warum konnten sie nicht sagen: »Bringen Sie Eleanor mit« oder »Bringen Sie Milly mit« oder »Bringen Sie Delia mit«, statt sie alle zusammenzuwerfen? Dann gäbe es nichts zu entscheiden.
»Na«, sagte Delia unvermittelt, »ich werde ... «
Sie stand auf, als wollte sie gehn. Aber sie hielt inne. Dann schlenderte sie zum Fenster und sah auf die Straße hinaus. Die Häuser gegenüber hatten alle dieselben Vorgärtchen; dieselben Eingangsstufen; dieselben zwei Säulen vor der Haustür, mit dem Balkon darüber; denselben Runderker. Jetzt aber sank die Dämmerung, und sie sahn in dem gedämpften Licht geisterhaft und körperlos aus. Lampen wurden angezündet; eine leuchtete sanft in dem Salon gegenüber; dann wurden die Vorhänge vorgezogen, und das Zimmer war ausgelöscht. Delia stand und sah auf die Straße hinab. Eine Frau der untern Schichten schob einen Kinderwagen vor sich her; ein alter Mann tatterte dahin, die Hände auf dem Rücken. Dann war die Straße leer; es gab eine Pause. Aber ein Hansom kam bimmelnd die Straße herauf. Delias Anteilnahme wurde für einen Augenblick wach. Bliebe es vor ihrer Tür stehn oder nicht? Sie schaute angespannter. Dann aber, zu ihrem Bedauern, schnellte der Kutscher die Zügel, das Pferd stolperte weiter; der Wagen hielt vor dem zweitnächsten Haus.
»Jemand macht Besuch bei den Stapletons«, rief sie über die Schulter zurück, während sie den Musselinvorhang beiseite hielt. Milly kam und trat neben ihre Schwester, und zusammen beobachteten sie durch den Spalt, wie ein junger Mann mit Zylinder aus dem Wagen stieg. Er streckte die Hand hoch, um den Kutscher zu zahlen.
»Gebt acht, daß man euch nicht gucken sieht!« sagte Eleanor warnend. Der junge Mann eilte die Stufen hinauf ins Haus; die Tür schloß sich hinter ihm, und der Wagen fuhr weg.
Aber eine Weile standen die beidenMädchen noch am Fenster und sahn auf die Straße. Die Krokusse in den Vorgärten waren gelb und lila. Die Mandelbäume und Ligustersträucher hatten grüne Spitzchen. Ein jäher Windstoß fuhr durch die Straße, blies ein Stück Papier den Gehsteig entlang und einen kleinen Wirbel trocknen Staubs hinterdrein. Über den Dächern malte sich einer dieser roten, zuckenden Londoner Sonnenuntergänge, die Fenster nach Fenster golden brennen machen. Es war etwas Wildes in dem Frühlingsabend; sogar hier, in der Abercorn Terrace, wechselte das Licht von Gold zu Schwarz, von Schwarz zu Gold. Delia ließ den Vorhang fallen, wandte sich hemm und sagte, in die Mitte des Zimmers zurückkommend, plötzlich:
»O mein Gott!«
Eleanor, die wieder ihre Büchlein vorgenommen hatte, blickte gestört auf.
»Acht mal acht ... « sagte sie laut. »Wieviel sind acht mal acht?«
Mit dem Finger die Stelle auf der Seite bezeichnend, sah sie ihre Schwester an. Wie die so dastand, den Kopf zurückgeworfen und das Haar rötlich im Glühn des Sonnenuntergangs, sah sie einen Augenblick herausfordernd aus, ja sogar schön. Neben ihr wirkte Milly mausfarben und unscheinbar.
»Schau, Delia«, sagte Eleanor, ihr Büchlein zuklappend, »du brauchst doch nur zu warten ... « Sie meinte, vermochte es aber nicht auszusprechen, »bis Mama gestorben ist.«
»Nein, nein, nein«, sagte Delia und streckte die Arme. »Es ist hoffnungslos – « begann sie und unterbrach sich, denn Crosby war hereingekommen. Sie trug einTablett. Eins nach dem andern, mit einem auf die Nerven gehenden kleinen Klirren, räumte sie die Tassen, die Teller, die Messer, die Konfitürengläser, die Kuchenschüsseln und die Butterbrotkörbchen auf das Tablett. Dann ging sie, es vorsichtig vor sich balancierend, hinaus. Es entstand eine Pause. Abermals kam sie herein und faltete das Tischtuch und rückte die Tischchen. Abermals entstand eine Pause. Ein paar Augenblicke später war sie nochmals da und brachte zwei Lampen